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Biologisches Centralblatt.
1915.
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jologisches Gentralblatt,
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Prof. der Botanik Prof. der Zoologie
in München.
EBünfunddreissigster Band.
IgI5.
Mit 38 Abbildungen, 3 Tafeln und 7 Tabellen.
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Leipzig 1915.
Verlag von Georg Thieme,
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K. B. Hof- und Univ.-Bnehäruckerei von Junge & Sohn in Erlangen,
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TE RENATE
Inhaltsübersicht
des
fünfunddreissigsten Bandes.
O0 = Original; R = Referat.
Seite
Abderhaldeu, Emil. Abwehrfermente R. \ od 131
— Lehrbuch der Physiologischen Chemie in en R. 3 582
Abgabe von Nährgelatine durch die Königliche Landesanstalt für Wasserhygiene
in Berlin-Dahlem DER 64
Bateson, W. Mendel’s Vererhangstheokien) Tema ; 583
Baur, E. Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. R EN DAR
Bönner, W., 8. J. Die Überwinterung von Formica picea und andere bio-
hoßische Beobachtungen. O. Ga 65
Bokorny, Th. Bindung von Sana alicch da Zelleneiveiß, Ö. 25
Brehm’s Tierleben. R 395
— Tierbilder. RB. 397
— Tierleben. R . NEE SB LE re RAR EN ra rar
Brun, Rudolf. Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund
experimenteller Forschung bei den Ameisen. O0 . . .. ........190. 225
Buddenbrock, W. v. Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. O 481
Buttel- Rechen! H. v. Leben und Wesen der Bieuen. R ausol
Dahl, F. Kurze Anleitung zum wissenschaftlichen Sammeln und zum Kenk
servieren von Tieren. R. . RE 5 IE N DAA
Driesch, Hans. Gibt es harmonisch- äguipotetile Systemen Eine Er-
widerung. O. . 545
Duncker, Georg. Die alle ir Beh kombinalionen
bei Mehrlinggeburten des Menschen und des Schweins. O. 06
Emery, ©. Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter aus eigenen
Mitteln ersetzen? O MR, Ra ER EN MT 252
Fischer, E. Berichtigungen zu ©. Piiöchnews analytischer Methode bei
den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen. O 145
Fruwirth, ©. Die Pflanzen der Feldwirtschaft. R. DER ERTRRH ENG):
Goebel, K. Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluft-
wurzeln? R 209
?
IT
VI Inhaltsübersicht.
Goldschmidt, Richard. Vorläufige Mitteilung über weitere Versuche zur
Vererbung und Bestimmung des Geschlechts. O R
Grandori, Remo. Risultati dei nuovi Studi Italiani sulla ilogera delle
Vvite., Bi... 205, Vene ee SU Ne 0.
Grunewald, Marta. Über Veränderung der Eibildung bei Moina reeti-
rostris. OÖ. u SL IE Se en. 206
Heikertinger, Franz. Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutz-
mitteln gegen Tierfraß und ihre Lösung . O
Hinneberg, Paul. Die Kultur der Gegenwart, As ale) nl 1
Ziele, III. 4. I. Allgemeine Biologie. R
— Die Kultur der Gegenwart. Zellen- und Gewebelchr, Morphalasıs id
Entwicklungsgeschichte R . ur: s TEE
Jollos, V. Stanislaus v. Prowazek +. O. 8
Kohlbrugge, J. H. F. War Darwin ein tnelles Genie? 0)
Kranichfeld, Hermann. Zum Farbensinn der Bienen. O
Lakon, Georg. Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Enhe
bei den Ba Ö : 5 :
Lehmann, Ernst. Art, Reine Linie, Tsogene Binheib, 0)
Lindau, G. Kryptogamenflora für Anfänger. R.
Löhner, Leopold. Über künstliche Fütterung und Verdunungszersuche
mit Blutegeln. O a u
Mayer, P. (Jena). Einführung in die Mikrosdhrel Rn
Mertens, Robert. Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen aus der Tactia
a -Gruppe. O e BEN
Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Pre ai Meteorölsgiet R
Nachtsheim, Hans. Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? O
Natzmer, @. v. Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insekten-
BIABLEn- ER Fe Rn TE LE ee ee AR RC ET ge
Nöller, Wilhelm. Die Übertragungsweise der ee R
Palladin, W. J. Pflanzenanatomie. R Ser:
Polimanti, Osv. Sul Reotropismo nelle Larve dei Ba (Bufo: © Baia 0
— Physiologische Untersuchungen über das pulsierende Gefäß von Bombyx
mori L. © ; es :
Prat, S. Einige neuere - > die Wirkans des on auf di
lebenden Organismen. R Ara urn
Pringsheim, Ernst G. Die Kultur von Panama, Burkdiın 10)
Prochnow,Oskar. Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 0
Reichard, Adolf ©. Die deutschen Versuche mit gezeichneten Schollen. R
Reisinger, Ludwig. Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der
Fische O. ee ne et en.) nee REN FENgE:
Röder, Ferdinand. Über den Zusammenhang der Energien in der be-
lebten Natur. O 2 u Se rl A Ser ee:
Roux, Wilhelm. Die Selbstregulation ein charakteristisches und nicht not-
wendig vitalistisches Vermögen aller Lebewesen. R
Schaxel, Julius. Die Leistungen der Zelle bei der Entwicklung der Meta-
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ZOEN. ı le, ray. en ee RR I EN. .
Scheuring, Ludwig. Beobachtungen über den En Pe
Jungfische, OA Dee fe ARTE En =
Schleiermacher, A. Über das Blitzen von Blüten. O 2. 3 20.“
Inhaltsübersicht.
Schneider, K. ©. Die rechnenden Pferde. ©.
Schroeder, H. Über die Einwirkung von Silbernitrat a: die Keimfshie-
keit von Getreidekörnern. 0)
Sedgwick, W.T. und Wilson, E. B. htalan: in its lien:
Biologie R BR a tee niet roh Re a AR
Seitz, Ad Die Großschmetterlinge der Erde. R
Sms Ji Indisch Natuuronderzoek R.
a een Erich. Über Vererbung und Variabilität B Bee 0
Tschermak, A. v. Über Verfärbung von Hühnereiern durch Pre
und über Keftidaner dieser Farbänderung. 0 ee
Vries, Hugo de. Über künstliche ae der Wesnmalne in
Samen durch Druck. ©.
Warming’s Laune der ökblomschen FPflanzengeokraphiß‘ R Me:
Wasmann,E., S.J. Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. ö
— Das Geeischarklehen der Ameisen. Das Zusammenleben von Ameisen
verschiedener Arten und von Ameisen und Termiten. Gesammelte Bei-
träge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen. R .
— Nils Holmgren’s „Termitenstudien“. ER
— Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen. ©. : 5 De
Werner, F. Einige Bemerkungen zu den Salamandra- renen von
Sederov und Kammerer. O . u
Zehnder, Ludwig. Der ewige Kreislauf de Weltalls. R
In schwerer Zeit.
Die Unterbrechung des Verkehrs mit dem Ausland sowie
der Umstand, dass viele unserer einheimischen Mitarbeiter
im Felde stehen, hat auch unser Blatt schwer betroffen. Die
wertvollen Beiträge, welche wir von Angehörigen anderer
Staaten erhielten und vieler einheimischer Mitarbeiter fallen
fort. Trotzdem halten wir es für unsere Pflicht, das Er-
scheinen des Blattes fortdauern zu lassen, solange es möglich
ist, als Zeugnis dafür, dass die schweren Lasten, welche der
Krieg uns auferlegt, die Fortführung der Kulturarbei' nicht
verhindern, da alle, denen dıe unmittelbare Teilnahme an den
Kämpfen versagt ist, doch ın der Friedenstätigkeit nicht er-
lahmen. Unsere geehrten Leser aber müssen wir bitten,
etwaige Störungen zu verzeihen. Hoffen wir, dass es über
kurz oder lang möglich sein wird, sich wieder mit voller Kraft
der Friedenstätigkeit zu widmen.
Die Herausgeber des Biologischen Centralblatts.
Wir Unterzeichneten erfüllen die traurige Pflicht, der
voranstehenden Mitteilung noch die weitere hinzuzufügen,
dass zwei Tage nach ihrer Niederschrift der hochverdiente
Begründer dieser Zeitschrift, Geheime Rat Prof. Dr. J. Rosen-
thal, am 2. Januar in Erlangen, dem Ort seiner lang-
jährigen akademischen Tätigkeit, sanft entschlafen ist. Eine
eingehende Darstellung seines Lebens und Wirkens muss
einer späteren Nummer des Biologischen Centralblattes
vorbehalten bleiben. Wir möchten aber jetzt schon zum
Ausdruck bringen, welche großen Verdienste sich der Ver-
storbene durch sein unermüdliches Interesse um das Ge-
deihen dieser Zeitschrift erworben hat und wie sehr wir
den Verlust unseres langjährigen Mitarbeiters beklagen.
Bis auf Weiteres hat der Sohn des Verstorbenen, Herr
Prof. Dr. W. Rosenthal (z. Zt. in Nürnberg, Reserve-Lazarett|)
die Vertretung seines Vaters übernommen.
Prof. K. Goebel. Prof. R. Hertwig.
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Biologisches Gentralblatt.
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr.'R..Gocbel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig. München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z. Z. Nürnberg, Roonstr. 13,
einsenden zu wolien.
Bd. XXXY. 20. Januar 1915. 1.
Inhalt: Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. — Schroeder, Über die Einwirkung von
Silbernitrat auf die Keimfahigkeit von Getreidekörnern. — Bokorny, Bindung von Am-
moniak durch das Zelleneiweiß. — v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben
der Insektenstaaten. — Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana).
— Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. — Tschermak, Über Verfärbung von
Hühnereiern dureh Bastardierung und über Nachdauer dieser Faıb ınderung. — Fruliwirth,
Die Pflanzen der Feldwirtschaft. — Grandori, Risultati dei nuovi Studi Italiani sulla
Filossera della Vite. — Nährgelatine.
Über das Blitzen von Blüten.
Von A. Schleiermacher (Karlsruhe i./B.).
Vor kurzem hat Herr Professor Dr. F. Thomas (Öhrdruf ı./Th.)
eine Monographie über „Das Elisabeth Linne-Phänomen (sog. Blitzen
der Blüten) und seine Deutungen“ veröffentlicht!), worin meine
frühere Mitteilung über diese Erscheinung?) einer Kritik unterzogen
wird, der ich unmöglich zustimmen kann. Da ıch vergebens versucht
habe, Herrn Thomas über den Irrtum, ın dem er sich meiner
Meinung nach befindet, brieflich aufzuklären, sehe ich mich veran-
lasst, an dieser Stelle auf den Gegenstand, der ja in der botanischen
Literatur seit langer Zeit behandelt wird, einzugehen.
Linne’s Tochter Elisabeth beschrieb zuerst?) (1762) die Erschei-
nung, die sie in der Dämmerung an Blüten der indianischen Kresse
bemerkt hatte, aber so undeutlich, dass daraus nicht mit Sicherheit
entnommen werden kann, was eigentlich beobachtet wurde. Sie
sagt, dass die Blumen „blitzten“. Herr Thomas möchte das schwe-
1) G. Fischer, Jena 1914.
2) Bd. 20 d. Verh. d. Naturw. Vereins Karlsruhe 1908.
3) Die Literatur findet sich am vollständigsten in der Schrift von F. Thomas.
1*
4 Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten.
dische „blicka“ lieber mit „blicken“ übersetzen, führt aber selbst
die triftigsten Zeugnisse an, wonach im 18. Jahrhundert die Be-
deutung des Wortes blicka ne von „Blitzen, Wetterleuchten“ war,
und so ist es auch von deutschen Übersetzern*) damals und später
verstanden worden. Herr Thomas vertritt nämlich die Meinung,
dass das El. Linne-Phänomen nichts anderes sei als das sogen.
Purkinje-Phänomen, mit dem blitzartigen Auftreten und Ver-
schwinden eines momentanen Nachbildes nichts zu tun habe und
darum nicht dureh Blitzen oder Wetterleuchten bezeichnet werden
könne.
Das Purkinje- Phänomen’) besteht darin, dass in der Dämmerung
(d. h. im gemischten Tages- und Dämmerungssehen) rote und orange-
farbene Gegenstände verhältnismäßig (zum reinen Tagessehen) dunkler
aussehen als blaue und grüne. Dazu kommt, dass das Phänomen
in der Fovea centralis (wo sich nur Zapfen befinden) fehlt. Be-
trachtet man also einige orangerote Papierstücke oder Blumen auf
grünem oder blauem Hintergrund, so erscheint das gerade fixierte
(dessen Bild also auf die Fovea fällt) heller und lebhafter rotgelb
gefärbt gegenüber den seitwärts der Blickrichtung liegenden, die
ım Vergleich zu dem relativ heller gesehenen Hintergrund dunkel-
braunrot erscheinen. Beim Wandern des Blickes von einem zum
andern roten Fleck erhellt sich der jetzt fixierte im Gegensatz zu
dem dunkler werdenden, der vorher fixiert wurde. So lange die
Blickrichtung unverändert bleibt, ändert sich auch nichts, der fixierte
Fleck bleibt hell, dıe übrigen dunkel. Dieses Phänomen, zu dessen
Beobachtung Herr Thomas seiner Abhandlung eine sehr geeignete
Tafel beigegeben hat, wird in der Tat niemand als Blitzen oder
Wetterleuchten bezeichnen wollen.
Ganz anders verhält es sich mit dem, was ich beobachtet, be-
schrieben und abgebildet habe®): ein weißliches, momentanes
Aufhellen seitwärts an einzelnen der Mohnblüten, das sich jedes-
mal zeigte, wenn man den Blick in 20—40 cm Höhe über den
etwa 2m entfernten Blüten rasch horizontal wandern ließ. Beim
dauernden Fixieren der einzelnen Blüte war durchaus nichts zu
bemerken. Ich konnte die gleiche Erscheinung etwas später an
einem orangeroten Papierfleck auf blauem Hintergrund in der
Dämmerung beobachten und mich von der Richtigkeit meiner ersten
Beobachtung überzeugen, freilich, da es unterdessen Winter ge-
worden war, unter ungünstigeren Beleuchtungsverhältnissen. In
den diesjährigen Sommermonaten habe ich die Versuche mit ge-
färbten Papieren immer mit dem gleichen Erfolg wiederholt und
ebenso viele andere Personen, junge und alte, geübte und ungeübte,
4) Kästner, Fürnrohr.
.) Vergl. v. Helmholtz, Handb. d. phys. Optik, 3. Aufl., Bd. 2, 8. 302.
)alsae:
1*
Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 5
Normal-, Weit- und Kurzsichtige wiederholen lassen. Jeder Zweifel
an der Richtigkeit der Beobachtung muss danach als ausgeschlossen
gelten. Einzelne Beobachter erklärten, dass sie die blitzartigen,
weißlichen Nachbilder seitwärts der roten Farbflecke gerade an
der Thomas’schen Farbtafel besonders lebhaft bemerkten.
Die beschriebene Erscheinung wird, worauf Herr Augenarzt
Dr. Spuler nach meinem Vortrag ım Naturwissenschaftlichen Verein
in Karlsruhe zuerst aufmerksam machte, nach der neueren Duph-
zıtätstheorie (v. Kries) als sekundäres Bild oder Ghost bezeichnet’)
und als primäre Erregung der farbenblinden Stäbchen, die etwa
!/, Sekunde später als die Erregung der Zapfen einsetzt, gedeutet.
Weil die Stäbchen ın der Fovea fehlen, kann dieses farblose (weiß-
liche) Nachbild nur peripherisch bemerkt werden, ganz in Überein-
stimmung mit dem, was ich bei den Blüten beobachtet hatte.
Es ıst hiermit wohl festgestellt, dass Herr Thomas und ich
zwei ganz verschiedene Phänomene beobachtet und beschrieben
haben. In der Tat sagt Herr Thomas „Der Kernpunkt meiner
Kritik bleibt: dass Schl.’s Deutung als Bedingung ein ausschließ-
lich peripheres Sehen im Momente des Aufleuchtens voraussetzt
und dass unter strikter Erfüllung dieser Bedingung weder
von mir noch von einem meiner Helfer die Erscheinung
gesehen wurde®). Wie es aber zugeht, dass Herr Thomas, der
doch die Vorschrift über meine Versuchsbedingungen in Händen
hatte und sich jahrelang mit solchen Beobachtungen beschäftigte,
selbst oder irgendeiner seiner Helfer („17 Personen, darunter zwei
Physiker und ein Arzt, die alle drei in exakten, subtilen Beobach-
tungen geübt und bewährt sind“)’) das sekundäre Bild niemals
beobachten konnten, ist mir geradezu rätselhaft. Ich habe Per-
sonen, die gar nicht wussten, welche Erscheinung zu erwarten war,
und die nur hinsichtlich der Augenbewegung unterrichtet waren,
beschreiben lassen, was sie bei dem Versuch sahen, und sie haben
das sekundäre Bild genau so beschrieben, wie ich es selbst sehe.
Ich könnte mir also nur denken, dass Herr Thomas das sekundäre
Bild nicht bemerkt, weil er das Auge nicht rasch genug bewegt
oder in schon zu weit fortgeschrittener Dämmerung beobachtet, wo
zwar sein Phänomen noch vollkommen deutlich ıst, das sekundäre
Bild aber schon zu schwach. Herr Dr. W. Trendelenburg,
Prof. der Physiologie in Innsbruck, schreibt mir: „Es ist kein
Zweifel, dass die Beobachtungen (über das sekundäre Bild) zutreffen.
Wenn sie in der freien Natur oder passend nachgemachten Be-
dingungen oft widerstritten werden, so dürfte das daran liegen,
dass diese Bedingungen im Einzelfall doch zu verschieden sind, ge-
7) Vergl. Helmholtz, Bd. 2, S. 369.
8) Thomas, S. 38.
9) Thomas, S. 33.
6 Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten.
wiss ist auch die Beobachtungsgabe, Übung und Sorgfalt sehr ver-
schieden.*
Bei dieser Sachlage möchte ich darauf verzichten, auf das ein-
zelne in der Kritik meiner Mitteilung einzugehen. Weil Herr
Thomas meint, ich hätte das gesehen oder sehen müssen, was er
beschreibt, nämlich das Purkinje-Phänomen, so ist von vornherein
klar, dass alles, was er heranzieht, um nachzuweisen, dass und wie
ich mich getäuscht haben könnte, schief und unzutreffend sein
muss. Ich bleibe auch der Meinung, dass die Übersetzer das schwe-
dische Blieka richtig mit Blitzen wiedergegeben haben, weil dies
das nur momentan erscheinende weißlich aufleuchtende sekundäre
Bild ganz richtig bezeichnet. Unter günstigen Umständen ist das
sekundäre Bild tatsächlich viel heller als der grüne oder blaue
Untergrund, den Glanz eines wirklichen Blitzes oder einer Bogen-
lampe darf man sich freilich nicht davon erwarten.
Für Leser, die Interesse an diesen Erscheinungen haben, möchte
ich noch einige Bemerkungen anschließen über die Bedingungen,
unter denen das sekundäre Bild am deutlichsten erscheint. Man
lege auf einen ultramarınblauen, nicht glänzenden Bogen Papier
(je größer, je besser) ein quadratisch oder beliebig geformtes Papier-
stück orangeroter Farbe von etwa 7 cm Seitenlänge (z. B. Filtrier-
papier, das in einer wäßrigen Lösung von Flavein mit Zusatz von
etwas Brillianterocein satt gefärbt ist) und beobachte in 1-2 m
Abstand, indem man den Blick (Fixierungsrichtung) am oberen
Rand des Bogens, d. h. etwa 20—40 cm oberhalb des roten Fleckes
rasch entlang bewegt. Wesentlich ıst der Dämmerungsgrad und
die Farbe der Dämmerung: klarer Himmel, etwa !/,—!/, Stunde
nach Sonnenuntergang, häufig auch noch später, jedoch bei einer
Helligkeit, bei der das Lesen noch ohne große Anstrengung mög-
lich ıst. Das sekundäre Bild erscheint dann im Sinn der Augen-
bewegung gegen den roten Fleck verschoben. Das weißliche Auf-
blitzen ist häufig schon bei den unwillkürlichen Augerbewegungen
in der Nachbarschaft des roten Fleckes oder auch am Rand des
blauen Papierbogens und auch bei nicht ganz klarem oder sogar
bedecktem Himmel zu bemerken. Rötliche Abenddämmerung ist
im Gegensatz zu dem, was Herr Thomas für sein Purkinje-Phä-
nomen bemerkt, ungünstig. Gerade eine „blaue“ Beleuchtung bei
möglichst reinem Himmel scheint mir für den Glanz der Erschei-
nung wesentlich zu sein. Dass diese günstigste Beleuchtung ın
unserer Breite verhältnismäßig selten vorkommt, halte ich für die
Ursache, weshalb das Blitzen von Blüten vor dem grünen Hinter-
grund von Blättern bisher so selten beobachtet wurde. Denn es liegt
sonst aus Deutschland nur eine Beobachtung aus dem Jahr 1799
von Goethe vor, die ebenfalls an perennierendem Mohn gemacht
wurde. Seine Beschreibung stimmt in allem wesentlichen mit der
Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 7
von mir gegebenen überein, ohne dass ich, wie Herr Thomas
will, von Goethe beeinflusst gewesen wäre, denn ich hatte die
Stelle der Farbenlehre erst nachträglich aufgefunden. Nur ist dort
die Farbe des sekundären Bildes nicht als weißlich, sondern als
die „geforderte“ (d. h. komplementär zu orange) oder in dem von
Herrn Thomas abgedruckten Brief an Schiller als „sehr hell-
grün“ bezeichnet. Dass das sekundäre Bild tatsächlich unter Um-
ständen schwach gefärbt erscheint, habe ich selbst an der Farbtafel
des Herrn Thomas bemerkt, indem es auf dem mehr graublauen
Grund einen bläulichen Ton annimmt. Es tritt also zu der farb-
losen Stäbchenerregung ein schwaches komplementär gefärbtes
Nachbild der Zapfen. Man bemerkt das Blitzen ja auch am deut-
lichsten auf einer Zone der Netzhaut, wo die Farben noch sehr
deutlich unterscheidbar sind, wo sich also noch reichlich Zapfen
vorfinden. Bei einer reinen Stäbchenempfindung sollten schwarze
Papierflecke ebensogut blitzen wie die stäbchendunklen roten, falls
sie nicht etwa mehr blaues Licht reflektieren als diese. Ich finde
jedoch die Erscheinung für schwarze Flecke schwächer als für die
mohnroten. Es ıst weiter auffallend, dass ein grüner Hintergrund
die Erscheinung soviel schwächer hervortreten lässt als ein blauer,
obwohl auch nach den neuesten Bestimmungen!) das Maximum
der Empfindlichkeit für die Stäbchen im Grün bei 515 uu liegt.
Seit der Beobachtung im Juni 1905 habe ich vor dem grünen
Hintergrund von Blättern an Mohnblüten das Blitzen niemals
wiedergesehen und an mohnfarbenen Papierstücken auch nur an-
deutungsweise auffinden können und ich kann diesen Misserfolg
nur dem Mangel einer günstigen Beleuchtung zuschreiben. In
höheren Breiten mit ihren „weißen Nächten“ scheint eine gün-
stige Beleuchtung und Adaption öfters einzutreten, z. B. konnte
Fries!!) das Blitzen während 1!/, Wochen beobachten. Leider hat
auch er nicht genau beschrieben, was beobachtet wurde, da er sich
aber auf die Goethe’sche Beschreibung bezieht und ein mit ıhm
Beobachtender voll Erstaunen ausrief: es blıtzt aus den Blumen,
muss man annehmen, dass es ebenfalls das sekundäre Bild war.
Sollte es einem der Leser, besonders solchen, die ın höheren
Breiten wohnen, gelingen, die Erscheinung vor dem grünen Hinter-
grund von Blättern wieder aufzufinden, so wäre es von Interesse,
alles festzustellen, was über die Farbe des Dämmerungslichtes An-
halt geben kann, also Grad der Abendröte, Reinheit des Himmels,
Reflex von Wolken, Aussehen farbiger Papiere im Vergleich mit
der Empfindung bei Tage.
10) OÖ. Lummer, Physikal. Zeitschr. Bd. XIV, S. 97. — 1913.
11) Flora, 1859, Nr. 11 und 12.
8 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete.
Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die
Keimfähigkeit von Getreidekörnern.
Von H. Schroeder.
Vor etwas über Jahresfrist hat V. Birckner!) in dieser Zeit-
schrift meine Angaben, dass Gerste nach 24stündiger Behandlung
mit 5% iger Silbernitratlösung normal keimen könne, in Zweifel
gezogen bezw. als unersichtlich bezeichnet. Ebenso hat derselbe
— indem er meine Arbeitsweise oberflächlich nennt — die ent-
sprechenden Ergebnisse meiner Versuche mit Weizen, wenn auch
nicht gerade direkt bestritten, so doch durch Benutzung von Worten
wie „angeblich“, „gibt an“ zum mindesten als fragwürdig hin-
gestellt.
Ich möchte dieser anmaßenden Kritik gegenüber mit neuen
Tatsachen aufwarten.
T.
Zuvor sei des mir gemachten Vorwurfes gedacht, dass es un-
zulässig sei, aus Versuchen mit 11 Individuen Keimungsprozente
zu berechnen?). Dessen war ich mir natürlich jederzeit bewusst
und habe eben darum bei allen Versuchen mit geringer
Individuenzahl die absoluten Werte zugefügt. Die Prozent-
zahlen sollten lediglich bequeme Vergleichsdaten liefern. Vielleicht
wäre es, um dies schärfer hervorzuheben, zweckmäßiger gewesen,
auf eine andere Zahl zu beziehen als gerade auf 100. Übrigens
stützte ich mich, um die Widerstandsfähigkeit gegen die Silber-
lösung zu erweisen, nicht nur auf diesen einen von Birckner be-
mängelten Versuch, sondern es lag noch eine ganze Anzahl weiterer
vor, die auch zum Teil in meiner Arbeit mitgeteilt sind?).
Die Beschränkung in der Individuenzahl war für mich in
manchen Fällen schlechtweg eine Notwendigkeit. Nämlich dann,
wenn es darauf ankam, den Erfolg des Sterilisationsverfahrens für
jedes einzelne Korn separatim zu prüfen. Das verlangte zur Ver-
meidung einer nachträglichen Infektion beim Auswaschen, Nach-
quellen und Versetzen in die Nährbouillon, zumal bei den für der-
artige Arbeiten damals recht unzulänglichen Einrichtungen des
Bonner botanischen Institutes, umständliche Manipulationen, die
sich nur in kleinem Umfange durchführen ließen. Außerdem richten
sich aber die Anforderungen an die Individuenzahl nach der Höhe
der Ausschläge. Wenn z. B. von 24 Körnern nach 18 Stunden
1) Band 33 (1913), S. 181, speziell S. 188, 189. Die angegriffene Arbeit:
Centralblatt für Bakteriologie ete., II. Abteil., Bd. 28 (1910), S. 492, im folgenden
einfach zitiert als: Schroeder.
2) Der ganze Versuch umfasste übrigens immerhin 27 Individuen. Schroeder:
S. 502.
3) Schroeder: S. 494, 503.
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 9
Behandlung mit 0,2 oder 0,7%, HgCl, nicht ein einziges keimt, nach
24 Stunden 5%, AgNO, hingegen von der gleichen Anzahl volle
20 Stück), so genügen diese Zahlen, um die Tatsache einer Ver-
schiedenheit in der Wirkung beider Salze und die relative Harm-
losigkeit des Silbernitrates zu erweisen.
Il.
Was zunächst die Frage nach der Möglichkeit einer nor-
malen Entwickelung der Keimpflanzen nach 24stündiger
Weiche in 5% Silbernitrat anbelangt, so habe ich im vorigen
Sommer meine Versuche mit rotem Schlanstedter Sommer-
weizen, mit Hannagerste und mit nackter oder Edelgerste°)
wiederholt. Der Gang der Behandlung war folgender:
18 oder 24 Std. 5%, AgNO, (eine Serie hell, eine dunkel).
3t1/, Std. 5%, NaCl (einmal erneuert).
4 Std. 0,5% NaCl.
Wasser so lange, dass eine Gesamtweichdauer von 52 Stunden
resultierte.
Die Nachbehandlung wurde gleichfalls in verschiedenen Serien
— hell neben dunkel — durchgeführt, derart, dass die am längsten
dunkel gehaltenen selbst die ersten Keimungsstadien bei Licht-
abschluss durchliefen, während andere nach beendigter Weiche,
andere nach Abschluss der NaCl-Wirkung ins Helle verbracht
wurden. Da diese ungleiche Behandlung Verschiedenheiten nicht
bewirkte, gehe ich nicht weiter darauf ein.
Es entwickelte sich danach von jeder Probe ein größerer oder
geringerer Prozentsatz — davon gleich — völlig normal. Ganz be-
sonders deutlich lässt sich dies beim Weizen erkennen, da bei
diesem die drei ersten schon im Ruhezustand ziemlich weit ausge-
bildeten Würzelchen namentlich bei Bauchlage des Kornes regel-
mäßig übers Kreuz gestellt vorbrechen und ihnen danach seitlich
zwei weitere folgen‘°),. Schädigungen, wie solche in später zu be-
sprechenden Versuchen an Samen mit entblößtem Embryo regel-
mäßig auftreten, dokumentieren sich sofort durch Verringerung der
Wurzelzahl, die bis zum gänzlichen Fehlen sich steigern kann,
Kurzbleiben von einem oder mehreren der Würzelchen oder ge-
ringer Länge der Coleoptile. Die von mir als normal keimend be-
zeichneten Körner zeigten von alledem nichts, auch brach in der
Folge die Plumula in typischer Weise durch. War dies geschehen,
so wurden, wie schon früher’), Stichproben von je 10 Keimlingen
4) Schroeder: S. 494.
5) Sämtlich von Haage u. Schmidt, Erfurt.
6) Vergl. Körnicke in Körnicke-Werner: Handbuch des Getreidebaues,
Bd. Inse2s:
7) Schroeder: S. 504 (damals Sägemehl; diesmal Gartenerde + Sand).
10 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete.
in Töpfe verpflanzt und diesmal sogar bis zur Blühreife beob-
achtet. Alle 50 derart gezogene Pflanzen entwickelten sich gut
weiter und kamen ohne jeden Ausfall zur Blüte. Beistehend Repro-
duktionen einiger der Töpfe mit blühenden Versuchspflanzen nach
Photographien, für deren Herstellung ich Herrn Dr. Harder ver-
pflichtet bin. Das wird genügen, um die Möglichkeit einer normalen,
d. h. ohne Regeneration verlorener Teile verlaufenden, Entwicke-
lung nach 24stündiger Weiche in 5%, Silbernitrat zu erweisen.
Ill.
In den Keimprozenten hatte ich in diesen Versuchen zum
Teil einen erheblichen Ausfall. Denn es keimten vom Sommer-
weizen, und zwar in allen Serien etwa gleichmäßig®) nur 37—56 %,,
von der Hannagerste 65— 82% und von der nackten Gerste etwa
25—40%,. Da nun ohne Sılbernitrat caeteris parıbus die Keimfähig-
keit für Weizen 99—100%, für Hannagerste nach 48 Std. Weiche
38—50%, nach 72 Std. Weiche 84%, und für nackte Gerste 79—89,
betrug, so war nur für dıe Hannagerste eine dem normalen Wert
entsprechende Keimungszahl erreicht, während Weizen und nackte
Gerste rund 50%, Ausfall ergaben.
Um zuverlässig unversehrten und gut ausgereiften Weizen zu
erhalten, setzte ich meine Versuche bis zur Ernte 1913 aus und
besorgte mir dann im August Weizenähren direkt vom Felde°), die
ich als solche aufbewahrte und aus denen ich mir die Einzelkörner
zu den Versuchen jeweils herauslöste. Mit diesen musste ich
bis Anfang Dezember warten, da vordem nur vereinzelte Körner
keimten. Dann erst war die Nachreife beendet und es keimten
von den Kontrollen durchgängig 99—100%. Genau der
gleiche Prozentsatz entwickelte sich aber auch nach
24stündiger Weiche in 5%, Silbernitrat und entsprechen-
der Nachbehandlung, wie folgender Versuch lehrt:
Serie A. 24 Std. 5%, AgNO, geheiztes Zimmer,
B. 24 „ 5% AgNO, ungeheiztes Zimmer,
GIER wie Al
D.4187 Es liwie B;
Mit der Nachbehandlung war ich ın diesen Versuchen über-
trieben!®) vorsichtig und ließ 6 Std. in 2%, 18 Std. in 0,2%, 24 Std.
in ganz verdünntem Na0l, und zwar all dies im kühlen Raum.
Zum Schluss weichte ich noch 24 Std. in Wasser im warmen Zimmer
nach. Es keimten:
8) Siehe vorstehend: 8. 9.
9) In Laubenheim bei Mainz.
10) „Übertrieben“‘, weil das gleiche Resultat, 100% Keimlinge, auch bei ein-
facherer Nachbehandlung erzielt werden konnte. Es genügte nach dem Silber zwei-
maliges kurzes Abspülen mit Wasser, gefolgt von:
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 11
Nach 2 Tagen Nach 3 Tagen Nach 7 Tagen
Serie A. 92 98 100%,
B. 97 98 100%,
©. 93 97 99%,
D. 56 98 Yan;
oder da jeweils 100 Stück benutzt wurden, von 400 nicht weniger
wie 398, d. h. 99,5%. Von den beiden nicht gekeimten war über-
dies das eine am Embryo deutlich verletzt.
Die Entwickelung wurde — wie immer — bis zum Durchbruch
der Plumula verfolgt und ergab keinerlei Abweichung von den un-
behandelten Körnern.
Ich konnte aber die Einwirkungsdauer des Silbernitrates auf
volle 72 Stunden ausdehnen, ohne die Keimfähigkeit zu vernichten.
50 Körner, die im Warmen 72 Std. mit 5% Sılbernitrat be-
handelt waren, keimten sämtlich, und von 50, dıe im Kühlen dem
gleichen Verfahren unterworfen wurden, 48. Allerdings entwickelten
sich in diesen Versuchen nicht mehr alle Keimlinge normal, denn
bei 3—4 von jeder Serie verkrümmte die Coleoptile in eigentüm-
licher Weise !!), bei den übrigen zeigte sich bis zum Durchbruch der
Plumula keine Abweichung vom Typus.
Nehme ich meine Versuche zusammen, so ergeben sie bei 685
Weizenkörnern, die 24 Std. mit 5%, Silbernitrat behandelt wurden,
681 oder 99,4%, normaler Keimpflanzen.
In Übereinstimmung damit keimten je 100 Körner, nach 24 Std.
Quellung in !/,, oder !/,.o Normalsilbernitrat, sämtlich ohne jede
Spur einer Schädigung.
Aber auch eine höhere Silbernitratkonzentration, nämlich 10°,
wurde 17 Std. lang ohne Schädigung ertragen. Denn aus 100 derart
behandelten Körnern erwachsen ebensoviele normale Keimpflanzen '?).
IV.
Dass es sich bei dieser Resistenz um eine Schutzwirkung, aus-
geübt von einer selektiv-permeablen Hülle, handle, hatte ich seiner-
zeit u. a. daraus erschlossen, dass Körner mit entblößtem Em-
bryo schon bei einer kürzeren (14 Std.) Sılbernitratbehandlung
3 Std. 2% NaCl, dann Wasserweiche oder
24 Std. 0,2% NaCl, danach Wasserweiche oder
48 Std. ca. 0,02% NaÜl, gefolgt von sofortigem Auslegen ins Keimbett.
Jede dieser drei Serien umfasste 50 Körner, die sich ausnahmslos normal ent-
wickelten und das bis zum Durchbruch der Plumula durch die in üblicher Länge
ausgebildete Coleoptile.
11) Siehe im folgenden: S. 12 und 20.
12) Behandlung: 17 Std. 10% AgNO,; 6 Std. ca. 31),% NaCl;
18 Std. 0,2% NaCl; 8 Std. Wasser.
Von 100 Körnern nach 48 Std. Keimbett gekeimt 100.
42 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
ausnahmslos zugrunde gingen‘). Hier das ausführlich mitgeteilte
Resultat der Wiederholungsversuche, bei denen ich mir die Arbeit
insofern erleichterte, als ich nicht mehr den Embryo in seiner
ganzen Ausdehnung freilegte, sondern mich damit begnügte, durch
vorsichtiges Anritzen mit einer Nadel die Kontinuität der Hüllen
über demselben zu unterbrechen. Das Ergebnis war eine volle Be-
stätigung meiner früheren Versuche. Denn von je 25 derart ver-
letzter Samen keimte nach 24 Std. in 5%, AgNO, nicht einer.
Ebensowenig trat bei den auf diese Weise angeritzten Körnern
Keimung ein, wenn die Konzentration der Silberlösung auf !/,,, Nor-
mal, also etwa !/,, des obigen Wertes herabgesetzt wurde.
Die ın gleicher Weise wie oben (S. 10) durchgeführte Nach-
behandlung war auch bei entblößtem Embryo ohne schädigende
Wirkung. So entwickelten sich von 25 angeritzten Körnern nach
6 Std. 2%, 18 Std. 0,2%, 24 Std. 0,02%, NaCl und 24 Std. Wasser
24 normal und eines verkrüppelte. In einem entsprechenden Ver-
such, in dem auch noch das 2%, NaCl wegblieb, sonst in gleicher
Weise verfahren wurde, keimten alle normal. Oder mit anderen
Worten, die Nachbehandlung ergab quantitativ und qualitativ das-
selbe wie die Kontrollen, womit zugleich die Harmlosigkeit der
Schalenverletzung an sich dargetan ıst, was außerdem noch in
einem besonderen Versuche erwiesen wurde.
Wurde bei den, wie angegeben, verwundeten Körnern die Dauer
der Silberwirkung herabgesetzt, so ergab sich bei den wenigen von
mir in dieser Richtung angestellten Versuchen das vorauszusehende
Resultat, dass die Schädigung mit Abnahme der Wirkungszeit wie
der Konzentration zurückging.
Körner mit über dem Embryo verletzter Schale:
5% AgNO,, 4 Std.: Von 20 Samen keimt nicht einer.
!/\oo Normal-AgNO,, 4 Std.: Von 20 Samen keimen 9.
Aber von diesen entwickeln 4 nur 2 Würzelchen, worunter eines
außerdem ohne Blattkeim, und 3 nur je 1 Würzelchen, wobei aber-
mals 1 ohne Blattkeim. Die beiden anderen bildeten zunächst
überhaupt keine Wurzeln aus, sondern schoben nur den Blattkeim
vor. Durchgängig war ferner die Coleoptile sitzen geblieben, so
dass der Blattkeim meist nur aus der verkrümmten Plumula be-
stand. Kurz von allen 9 oben als keimend bezeichneten Körnern
war nicht eines normal. Von den übrigen spitzten, d. h. blieben
auf den allerersten Stadien der Keimung stehen 3, während 5 über-
haupt kein Anzeichen von Entwickelung verrieten. Selbst nach
2stündiger Einwirkung von !/,.o Normalsilbernitrat, auf den unge-
schützten Embryo war eine Schädigung durchweg erkennbar, wenn
13) Schroeder: S. 494. Bezüglich der anderen Gründe siehe im folgenden:
S. 23 und 24.
{4 Schroeder, Über die Einwirkung von S$ilbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
auch weniger ausgesprochen als ın den eben besprochenen Ver-
suchen mit 4 Std. Behandlung.
Aber nicht jede Schalenverletzung oder jede Verletzung über-
haupt bewirkt bei ca. 24 Std. Berührung mit 5%, AgNO, Verlust
der Keimfähigkeit. Diesen Effekt haben lediglich Wunden un-
mittelbar am Embryo oder doch nur in solcher Entfernung von
demselben, dass das durch Ausfällung und Adsorption wohl gegen
das Wasser zurückbleibende Sıilbernitrat in der gewählten Einwir-
kungszeit bis zu ıhm zu diffundieren vermag. Denn als ich bei je
25 Körnern die äußerste Spitze bis zum makroskopisch erkennbaren
Bloßlegen des Stärkeendosperms glatt abschnitt und sie dann für
24 Std. ın 5%, oder in !/,., Normal-AgNO, einbrachte, danach wie oben
mit NaCl und Wasser bearbeitete, keimten von der !/,., Normal-
serie alle 25, von der 5%,-Serie 21, während 3 der letzteren auf-
fallend ın der Entwickelung zurückblieben und eines überhaupt nicht
keimte. Schnitte lehrten, dass die am Lichte sich schwärzende
Chlorsilberzone, wenn typische Keimung eintrat, nicht bis zum Seu-
tellum reichte, zuweilen allerdings erst unmittelbar davor endete.
Bei den nur gespitzten oder nach eingetretener Keimung bald ab-
sterbenden Körnern war die Silberlösung bis in die Spitze des
Scutellums vorgedrungen!*). Prinzipiell ebenso verhielten sich
Körner, die vor der Ag-Weiche durch einen Nadelstich am Rücken
verletzt waren. In anderen Versuchen resultierte etwas mehr Aus-
fall, das ıst verständlich und es ıst wertlos, hier nach bestimmten
Keimungsprozenten zu streben. Die Größe der Wunde, der variable
Abstand Embryo, Wunde, dıe Temperatur mit ıhrer Beeinflussung
der Diffusionsgeschwindigkeit, geben genügende Gründe für schwan-
kende Resultate.
Als Fazit aus diesen Versuchen mit dem selbstgeernteten
Weizen ergibt sich demnach, dass: Die Keimfähigkeit beim
unversehrten Material — wie es ohne Auslese beim Isolieren
von der Spindel vorlag — durch 24stündige Behandlung mit
5% Sıilbernitratlösung in keiner Weise .alteriert wurde,
sondern es resultierte danach der gleiche Prozentsatz
normal entwickelter Keimpflanzen wie bei den Kon-
trollen. Gegenversuche an Körnern mit entblößtem Embryo lehren,
dass diese Widerstandsfähigkeit als Membranfunktion an-
zusprechen sei.
Oder mit anderen Worten genau das, was ich in der ange-
griffenen Arbeit auf Grund meiner damaligen Befunde behauptet
hatte.
14) Als gespitzt bezeichne ich Körner, bei denen der Keimling eben die Schale
durchbrochen hat.
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 15
M.
Ich habe mich bisher auf Weizen beschränkt, weıl mir dieser
das Hauptobjekt meiner früheren Arbeiten!’) besonders nahe lag
und weil gerade dieser, wie oben ausgeführt, jede Schädigung be-
sonders deutlich erkennen ließ.
Die gleichen Resultate erzielte ich mit Roggen (Ernte 1913
aus hiesiger, Kieler Gegend). Auch dieser stand mir, dank der
freundlichen Vermittlung von Herrn Dr. Blohm, ungedroschen zur
Verfügung und wurde durch mich von der Spindel gelöst.
Versuch 1. Je 50 Körner. (Vorversuch.)
Behandlung: A. 22 Std. 5%, AgNO,; 7, Std. 2% NaCl; 16 Std.
0,2%, NaCl.
26 Std. Wasser.
Gesamtweiche: 71!/, St.
B. Kontrolle 50 Std. ın Wasser.
Gekeimt nach Tagen: 4 | Be | 12 | 20 | Ungekeimt
a eo tn en Aal ae 1
Bee“ Le 312
Versuch 2. Je 100 Körner.
Behandlung: r. 21Std. 5%, AgNO,; 5%, Std. 2%, NaCl; 17:), Std.
0,2% NaCl.
24 Std. Wasser.
Gesamtweiche: 71 Std.
B. Kontrolle 65 Std. ın Wasser.
Gekeimt nach Tagen: 2 | el) Ungekeimt
I
Au mil 96 , 96 (ferner 1 nur gespitzt) | 3
B.| 44 | 72 | 96 (ferner 2 gespitzt) 2
Die Plumula hatte die Coleoptile durchbrochen:
Nach Tagen: ZUR ROSE | )
Bei A in | 70 Da nen
Bei B in | 57 I 77 ESG AB
\
Diese 91 Keimpflanzen hatten sich trotz der Silberbehandlung
in typischer Weise entwickelt!®). Zu ihnen kommen noch 5, denen
15) Vergl. außer der mehrfach zitierten Arbeit auch: Flora 102 (1911), 8. 186.
16) Vielleicht waren die, übrigens sonst gut ausgebildeten, Wurzelhaare bei
den mit. Silber behandelten Pflanzen nicht ganz so zahlreich als bei den Kontrollen.
Doch bin ich dem nicht weiter nachgegangen, so dass auch andere Ursachen als die
Silberbehandlung wirksam gewesen sein können.
16 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
der Durchbruch durch die Schale Schwierigkeiten bereitete. Von
4 derselben wurden diese überwunden, während 1 mit seiner aus
der Coleoptile hervorgestreckten Plumula innerhalb des breiigen
Endosperms in mannigfacher Weise hin- und hergewachsen war.
Bei den 4 schließlich — natürlich ohne mein Zutun — befreiten
brach ebenso die Plumula aus der mehr oder weniger verkrümmten
Coleoptile durch und 2 derselben waren in der Lage, zu typischen
Keimlingen auszuwachsen. Die beiden anderen hingegen blieben
verkrüppelt, besonders behielt die Spitze des ersten Laubblattes
eine Einkrümmung neben einer anormalen Verdickung. Bezüglich
der möglichen Gründe für diese bei den Kontrollen nicht oder sehr
viel seltener beobachteten Anomalie verweise ich auf das Folgende !”).
Zunächst dürfen wir sie außer acht lassen, denn selbst, wenn man
die fraglichen 5 und ebenso die bloß gespitzten Körner weglässt,
resultieren im Silbernitratversuch 91 normale Keimlinge gegen 96
in der Kontrolle oder 95%, des normalen Wertes. Andernfalls er-
hält man die Keimziffer der unbehandelten Proben.
Die Resektionsversuche verliefen beim Roggen genau
wie beim Weizen, wie folgende Zusammenstellung zeigt:
Behandlung: Je 20 Körner.
A. Schale über Embryo durchgerissen.
B. Spitze des Kornes weggeschnitten.
'. Im oberen Drittel durch einen Nadelstich in der
Flanke verletzt.
D. Unverletzte Kontrolle.
AD: 18 Sid. 5%, AgNO,, 51], Std. 2% Na@C]; 172], Std.
0,2% Na0l; 24 Std. Wasser, Gesamtweiche 65 Std.
E. Schale über Embryo durchrissen; nicht mit AgNO,
behandelt, sonst wie oben; also 5!/, Std. 2%,
NaCl u. s. w.; Gesamtweiche 47 Std.
Nach 8 Tagen: A. | B, | Sl | E.
Gekeimt 0 1622) | 18 '5)
Nicht gekeimt | 20 Lv 2,2 ne
Also wie beim Weizen tötet die Silberbehandlung (5%; 18 Std.)
die Körner mit entblößtem Embryo ausnahmslos, nicht aber die ın
gewisser Entfernung vom Keimling verletzten. Ebensowenig alteriert
die Nachbehandlung allein beim Fehlen des Sıilberbades die Keim-
fähigkeit von Roggen mit unbedecktem Embryo. Doch zeigten von
Ir
|
17), 8220:
18) Bei ©. und D. die beiden fehlenden Körner nur gespitzt. In letzterer
Serie entwickelte sich das eine davon in der Folge normal weiter, das andere blieb
stehen. Bei Ö. zeigte das eine, der Untersuchung geopfert, die geschwärzte AgOl-
Zone, bis in die Spitze des Scutellums reichend.
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 17
den 20 ın letzterem Falle (E.) gekeimten nicht weniger als 6 Un-
regelmäßigkeiten, wie Verkrümmung der Coleoptile, basal seitliches
Herausschieben der Plumula aus dieser bezw. Einrollung und An-
schwellung der Spitze des ersten Laubblattes; kurz Erscheinungen,
die an die (S. 16) beschriebenen Anomalien erinnern.
Im übrigen verweise ich auf das vorn S. 12 beim Weizen Aus-
geführte und füge nur zu, dass nach 10 Tagen der Durchbruch der
Plumula mit folgender Frequenz registriert wurde: A. 0; B. 18;
05160. 1.022): BE. 2020)" Individuen.
AL
Der Besprechung des Verhaltens der Gerste sei eine kurze methodische
Bemerkung vorangestellt. Die Keimung vollzog sich in den Versuchen mit Weizen
und Roggen durchweg in geschlossenen sterilisierten Petrischalen auf 3—4 Lagen
Filtrierpapier bei loser Bedeckung mit einer Einzellage. Weizen, Roggen und die
infolge der Behandlung mit einer Ohlorsilbereinlagerung in Spelzen und Schale ver-
sehenen Gerstenkörner keimten dabei normal, d. h. zu 90-100 % oder doch im
gleichen Prozentsatz wie beiderseits umhüllt von 4 Lagen Filtrierpapier zwischen
Glasplatten. Nicht versilberte Gerste zeigte jedoch bei letzterer Behandlung zumeist
eine höhere Keimfähigkeit. Es dürfte dies wohl auf ein größeres Feuchtigkeits-
bedürfnis der Gerste zurückzuführen sein, das aber bei Silbereinlagerung, vielleicht
infolge erschwerter Durchlässigkeit für Wasser, nicht zutage tritt. Wenigstens scheint
dies die einfachste Erklärung, weiter verfolgt habe ich die Frage nicht.
Als Konsequenz aus dieser Erfahrung ergab sich, dass die Keimung der Gerste
zwischen Glasplatten zu erfolgen hatte; natürlich dann für Kontrollen und mit
Silbernitrat behandelte Körner in gleicher Weise. Doch habe ich im folgenden auch
die älteren Versuche in Petrischalen mit aufgeführt, jedoch jedesmal unter ausdrück-
lichem Hinweis auf die Methodik.
Die Weiterentwickelung bis zum Durchbruch der Plumula wurde nach Schei-
dung der gekeimten und der ungekeimten Körner einfach in der offenen Petrischale
weiter verfolgt. Wurde der Boden recht feucht gehalten, es stand bei diesen vor-
gerückten Stadien in der Regel Wasser darin, so erübrigte jeder Transpirationsschutz.
Die Methoden sind primitiv, da sie aber zweifelsfreie Resultate ergaben, hatte
ich keine Veranlassung, von denselben abzugehen.
v1.
Auch unter den Gersteproben fand ich unschwer solche, die
nach der Silberbehandlung die gleichen Keimprozente ergaben wie
die Kontrollen: Dies Verhalten zeigte z. B. die eingangs erwähnte
Hannagerste?!) (Erntejahr unbekannt). Ebenso Handelsware (Ernte
1912), wie folgende Tabelle zeigt (s. oben S. 17):
Das gleiche Material ergab in Petrischalen für die AgNO,-Serie
nach 12 Tagen 84 normale Keimlinge, 5 mit verkrümmter Coleop-
tile und 11 ungekeimte Körner. Bei 75 der Keimlinge war zu
diesem Termin die Plumula durchgebrochen. Von den Kontrollen
(65 Std. Wasserweiche) keimten bei dieser Anordnung nur 55 von 100.
19) Darunter 1 abnorm Verkrümmtes.
20) Darunter die 6 vorstehend erwähnten verkrümmten Individuen.
21) 8.9.
XXXV. 2
18 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete
Versuch A. 100 Körner, Keimung zwischen Glasplatten.
Serie I: 24 Std.5%, AgNO,; 7 Std.2%, NaCl; 15 Std. 0,2%, NaCl,
26 Std. Wasser. Gesamtweiche 72 Std.
Serie Il: Wasser (mehrmals erneuert) 72 Std.
Gekeimt nach Tagen: 4 | 5 | 6 | 2
Serie IT| 84(13)*) | 86(11) 87 (10) 88 (9)
Bere Il | - 79 (21), 1 Salelz). Wr Seren 8614)
Die eingeklammerten Werte: Anzahl der ungekeimten Körner.
*) Die 3 fehlenden waren gekeimt, hatten Schwierigkeiten beim Durchbrechen
der Schale.
Bei einer selbst von der Spindel befreiten Probe??) konnte ich
nach Silbernitratbehandlung in Petrischalenkultur von 100 Körnern
nach 4 Tagen 74 und nach 9 Tagen 83 durchaus normale Keim-
linge erzielen. Nach 13 Tagen war bei diesen allen die Plumula
durchgetreten. Verkrüppelte Individuen beobachtete ich hier über-
haupt nicht.
Wenn auch die Kontrolle in der Petrischale nur 25 Keimlinge
bei 75 ungekeimten Körnern ergab, stelle ich den Versuch doch
hierher, weil zwischen Glasplatten von unbehandelten Körnern
88— 92%, keimten.
Bei anderen Proben fand ıch aber tatsächlich eine Erhöhung
der Keimprobe durch die Silberbehandlung??). So bei einer Hanna-
gerste des Handels (Ernte 1913).
Versuch B. 100 Körner. Keimung zwischen Glasplatten.
Serien und deren Behandlung wie bei Versuch A.
Gekeimt nach Tagen: 4 | 5 | 6 | 2
Serie 1 Er en)
Serie II 46 | 46 | 48 | 48.(52)
3ei Serie II (unbehandelte Kontrolle) vom 5. Tage ab starke Entwickelung
von Schimmelpilzen, die mich am 7. Tage veranlasste, den Versuch abzubrechen.
In der Petrischale war in diesem Falle die Keimung sehr
schlecht, doch ergab sich auch so ein Plus für die Silberbehand-
lung. Das eine Mal keimten 62 der Silberserie gegen 12 der Kon-
trolle, das andere Mal 48 gegen 24; alles von je 100 Körnern.
Ebenso verhielt sich eine andere Gerstenprobe, die ich wieder
selbst entspindelte.
22) Auch die Gerstenähren verdanke ich Herrn Dr. Blohm.
23) Ebenso gibt Appel eine Erhöhung der Keimziffer nach Silberbehandlung
an (Jahresber. der Vereinigung für angewandte Botanik. Jahrg. IX (1912), S. XIV).
24) Die Klammerwerte Anzahl der ungekeimten Körner.
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat. auf die Keimfähigkeit ete. 19
Versuch C. Frequenz, Behandlung, Serien wie bei Versuch A u. B.
(Gekeimt nach Tagen: 4 5 | 6 S
| — ————
Serie I 79 | s0 | 80@0) 80 (20)%)
Serie II 27 a \ 30 (70)
| !
Auch in der Petrischale keimten von der Kontrolle nur 30, von
der Silberserie 80 von jeweils 100. Von diesen hatten 7 Schwierig-
keiten beim Durchbruch der Coleoptile. Doch konnten sie sämt-
lich in der Folge dies ausgleichen und zu gesunden Pflänzchen er-
wachsen.
Diese fördernde Wirkung kann natürlich nur bei relativ schlechtem
Keimgut in Erscheinung treten. Die Gründe dafür werden sekundär
sein. Vor allem ıst an die in obigen Versuchen deutlich erkenn-
bare desinfizierende Wirkung des Silbernitrates zu denkep. Auch
reagierte meine Lösung gegen Lackmus schwach sauer, was viel-
leicht günstig bezw. als Reiz gewirkt haben mag°®).
Resektionsversuche habe ich mit Gerste nicht vorgenommen.
vn.
Aus den vorstehend ausführlich beschriebenen Ver-
suchen geht ın völlig einwandfreier Weise hervor, dass
für Weizen, Gerste und Roggen nach 24stündiger Be-
handlung mit 5% Silbernitrat qualitativ und quantitativ
normale Keimung möglich ist. Doch zeigten nicht alle unter-
suchten Proben dieses Verhalten. Wohl keimte stets ein gewisser
Prozentsatz ın normaler Weise, aber der Ausfall war zuweilen recht
erheblich. So betrug bei dem eingangs erwähnten Sommerweizen
die Keimfähigkeit der silberbehandelten Körner nur 37—56%, des
normalen Wertes und bei der nackten Gerste ca. 30—50% des-
selben. Oder mit anderen Worten, die Hälfte bis zwei Drittel der
keimfähigen Körner sind durch das Salz getötet worden, es muss
dasselbe also bis zum Embryo vorgedrungen sein. Dies wird mög-
lich sein bei einer durch Außenfaktoren bewirkten Verletzung der
selektiv permeablen Hülle, welche nicht ın allzu großer Entfernung
vom Embryo gelegen ist.
Nun scheint aber aus leicht ersichtlichen Gründen gerade diese
Region der Schale am meisten gefährdet und ein alter Versuch
von Werner”) lehrt schon, dass bei Maschinendrusch — und bei
den beiden bei mir in Frage kommenden Handelsproben dürfte
25) Von diesen 20 waren 17 gespitzt, dann aber in der Entwickelung stehen
geblieben.
26) Vergl. Lehmann und Ottenwälder: Zeitschr. f. Botanik, Bd.5 (1913)
und die dort zitierte Literatur.
27) Angeführt nach Körnicke-Werner: Handb. d. Getreidebaues, Bd. II
(1885), S. 48, 49. Der Versuch selbst wurde schon 1867 publiziert.
230 Schroeder, Über die Einwirkuug von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
dieser wohl vorgelegen haben — Schalenbeschädigungen in obigem
Umfange vorkommen kann. Werner fand für Weizen, dass die
übliche Dreschmethoden die Keimkraft nicht beeinträchtigen, er er-
zielte durchweg rund 97%. Wurde das Saatgut mit Kupfervitriol
gebeizt, so fielen bei Handdrusch nur 2—4%,, bei Maschinendrusch
hingegen je nach der Art der Behandlung 25-62% aus. D. h,,
dieser Anteil hatte Schalenverletzungen, die einen Zutritt des Giftes
zum Embryo gestatteten. Wenn also die heutigen Verfahren nicht
schonender sind, was ich nicht weiß, so kann man allein damit
Ausfälle von der oben angegebenen Größenordnung befriedigend
erklären. Es werden aber noch andere Umstände einen Ausfall
bei der Silberbehandlung bewirken können. So z. B. Auskeimen
auf dem Felde, das nicht unbedingt bezw. sofort den Verlust des
Keimvermögens zur Folge zu haben braucht ?®), wohl aber die Kon-
tinuität. der Hüllen gerade über dem Embryo zerstören wird. Oder
ungenügende Reife begleitet von unvollkommener Ausbildung der
selektiv permeablen Schicht u. s. w.2?).
Man wird daher diese — beı meinen Versuchen — Ausnahmen
weder gegen dıe wohlbegründete Annahme®®) einer semipermeablen
Hülle der oben genannten Getreidearten verwerten können noch
auch gegen das Nicht- oder doch sehr langsame®!) Permeieren des
Silbernitrates, das nach Versuchen von Shull??) die sonst mit ähn-
lichen Qualitäten ausgerüstete Samenschale von Xanthium glabratum
leicht durchwandert.
Entsprechendes gilt für die mehrfach erwähnten Körner, bei
welchen der Durchbruch der Coleoptile durch die Schale nur
schwierig oder in sehr seltenen Fällen überhaupt nicht sich vollzog
und eine mehr oder weniger verkrümmte Coleoptile resultierte;
beim Roggen zum Teil auch die Spitze des ersten Laubblattes in
Mitleidenschaft gezogen war®?). Denn es handelt sich auch hierbei
um Ausnahmen, die zuweilen ganz fehlten und wo sie vorkamen,
stets ın bescheidenen Grenzen blieben (3—7%,), so dass auch nach
ihrem Abzug — und sie sind vorstehend den keimenden Körnern
entweder nicht zugezählt oder der Zahl nach ausdrücklich aufge-
führt — annähernd normale Keimprozente resultieren. Trotzdem
liegt offensichtlich eine Folge der Behandlung vor, denn wenn auch
unter den zahlreichen Kortrollen mir hin und wieder ein derartiger
28) Vergl. Rabe: Flora, Bd. 95 (1905), S. 253 bezw. 255 und die dort ange-
[o) ’ ’
ebene Literatur.
5
29) S. auch im folgenden (S. 21) die Erörterung der Möglichkeit eines lang-
samen Permeierens des Silbernitrates.
30) Vergl. auch die in meinen Arbeiten zitierten Abhandlungen von A. Brown.
8 8
31) S. folgende Seite.
32) Bot. Gazette, Bd. 54 (1913), S. 169.
33) Uber ähnliche Missbildungen berichtet auch Birkner, l.c., S. 188.
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 21
Krüppel begegnete, so waren sie doch dort sehr viel seltener. Die
Beobachtung, dass ähnliche Anomalien und in höherer Proportion
bei meinen Resektionsversuchen vorkamen und zwar dann, wenn
die Verletzung wohl vom Embryo entfernt lag, aber doch so, dass
das Gift bis ins Scutellum vordrang, legte die Vermutung nahe,
dass auch bei den abnormen Körnern derartige lokalısierte Wunden
vorhanden gewesen seien. Da ich aber das dann im Endosperm
zu erwartende Silber dort nicht finden konnte, halte ich diese Deu-
tung für ausgeschlossen. Wahrscheinlicher scheinen mir die folgen-
den Alternativen, zwischen denen ich eine Entscheidung nicht treffen
kann. Entweder handelt es sich um eine durch die Behandlung
verursachte Änderung der mechanischen Eigenschaften der Korn-
hüllen, schon das eingelagerte Chlorsilber könnte vielleicht derart
wirken, womit auch die Beeinflussung des ersten Laubblattes durch
die nicht getötete Coleoptile hindurch befriedigend erklärt wäre.
Oder aber das Gift kommt wirklich — aber dann nur für kurze
Zeit und ın geringer Konzentration, sonst müsste der Effekt ein
stärkerer sein — in Berührung mit der Coleoptile. Das wäre mög-
lich, wenn der quellende Dil: sich streckende Keimling am Ende
der Einwirkungszeit oder doch ehe das ausfällende Kochsalz weit
genug vorgedrungen, die Hülle an einer Stelle sprengt. Aber dann
dürfte doch wohl zuerst eine Schädigung der Wurzel zu erwarten
sein). Daher halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass eine
Spur des Silbersalzes innerhalb der 24 Stunden bei einzelnen Körnern
gewisser Proben eben die selektiv permeable Hülle passiert. Das wider-
spricht der Annahme einer derartigen Hülle nicht, denn, wie ich früher
wiederholt betonte®’) und wohl auch allgemein angenommen wird,
dürfen wir in permeierenden und nichtpermeierenden Stoffen keine
prinzipiell verschiedenen Körperklassen erblicken, sondern nur den
Ausdruck einer durch Zwischenglieder verknüpften extremen gra-
duellen Verschiedenheit. Und da es mir seinerzeit gelang, durch
Änderung der Zusammensetzung des Außenmediums (Alkoholzusatz)°*)
ein rasches Eindringen des Sılbernitrates zu bewirken, halte ich
ein langsames aus rein wässeriger Lösung für sehr wohl möglich.
Hier müssen weitere Versuche einsetzen. Doch sei auch darauf
34) Eine solche beobachtete Nestler (Sitzungsber. d. Wien. Akademie Math.-
Nat. Klasse: Bd. 113, Abteil. I (1904), S.542, Anm.) bei Zolium temulentum nach
24stünd. Behandlung mit 10 % Kupfersulfat.
35) Centralblatt für Bakteriologie ete., II. Abteil., Bd. 28 (1910), S. 494, Anm.
Flora, Bd. 102 (1911), S. 186.
36) Die Möglichkeit, dass durch den Alkohol eine Lösung gewisser Membran-
stoffe bewirkt und damit die Änderung der Durchlässigkeit veranlasst werde, scheint
mir ausgeschlossen ; wenigstens konnte ich in in Alkohol (50 %) vorbehandelten Körnern,
nach Trocknen, bei darauffolpendem Einweichen in En AgNO, kein Silber im
Korninneren auffinden.
99 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
hingewiesen, dass beı verletzten Körnern NaCl-Behandlung allein
einen starken Prozentsatz ähnlicher Krüppel ergab ’’”).
Wenn also auch im einzelnen noch gewisse Fragen der Auf-
klärung harren, so stört dies nicht die allgemeinen Resultate, weder
in theoretischer noch in praktischer Hinsicht. In letzterer — metho-
disches Hilfsmittel bei physiologischen Versuchen — und diese
steht eigentlich hier allein in Frage, hatte ich schon früher Sorg-
falt bei der Auswahl des Keimsaatgutes empfohlen ®®). Man wird also
zunächst nach widerstandsfähigen Proben zu suchen haben. Doch
dürfte deren Beschaffung keine unüberwindliche Schwierigkeiten
bieten, denn meine diesmal benutzten Gersteproben zeigten mit
alleiniger Ausnahme der nackten Gerste diese Resistenz, ebenso
der einzige geprüfte (selbstentspindelte) Roggen und von zwei
Weizenmustern das eine selbstgeerntete °°).
Den Widerspruch zwischen meinen Befunden und denen Birk-
ner’s mit von diesem persönlich entspindelter, also wohl unver-
letzter Gerste, kann ich nicht aufklären. Denn er erhielt z. B. nach
12 Stunden nur noch die folgenden Keimprozente: N/10AgNO, : 3%»
N/50:25% und N/100: 159, Die Annahme, dass etwa wie in
den Rechen Arcichovskijs*) mit Erbsen die schwächere
(N/10—N/100) Giftkonzentrationen Birkner’s ın höherem Maße
schädigend gewirkt haben könnten als meine stärkeren (5%), wird
dadurch ausgeschlossen, dass ıch sowohl bei Weizen wie Mi Gerste
gegen N/10 und N/100 AgNO, die gleiche Widerstandsfähigkeit
fand wie gegen 5%, Lösung. Auch in Birkner’s Versuchen ergibt
sich Zunahme der Intensität der Wirkung mit steigender Konzen-
tration. Im übrigen scheint Birkner bei höheren Temperaturen
gearbeitet zu haben wie ich, wenigstens glaube ich diese aus der
Kürze seiner Weichdauer (36 Stunden) und aus der Tatsache er-
schließen zu können, dass er die Keimfähigkeit bereits nach 36 Stunden
registriert. Vielleicht verhält sich auch sein — amerikanisches —
Material anders als das Meine. Aber abgesehen von den damit
eröffneten Möglichkeiten kann ich mich des Verdachtes nicht ganz
erwehren, dass Birkner bei der Entfernung bezw. dem Unschäd-
lichmachen des ın der Fruchtschale vorhandenen Silbernitrates nicht
sorgfältig genug vorgegangen sei. Denn er spült nach dem Silber-
37) Die Missbildungen (Schleifen), die Nestler (l. c., S. 541) für Lolium
temulentum nach HgÜl, beschreibt, dürfte anderer Natur sein.
38) Schroeder: 8. ap:
39) oz auch die S. 18 zitierte Angabe Appel’s. Ferner Jauerka (Diss,
Halle 1912, S. 15). Letzterer fand für zwei Weizenproben nach Silberbehandlung
(5 % Lösung), folgende Keimfähigkeit: Blaue Dame 87,5 und Strube’s Schlesischer
72% des normalen Wertes. Der Rückgang wird von ihm auf den Einfluss ver-
letzter Körner zurückgeführt.
40) Biochem. Zeitschr., Bd. 50 (1913), S
DD
SS)
wo
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 25
bad lediglich ab, quillt dann in destilliertem Wasser — also bei
völligem Ausschluss von Chlorid — und nun erst unmittelbar vor
der Übertragung ins Keimbett folgt NaCl-Behandlung. Diese be-
steht aber ebenfalls nur im Abspülen und ein gründliches Nach-
waschen mit Wasser beseitigt auch rasch wieder das somit nur
kurze Zeit, d. h. oberflächlich vorhandene Chlorid.
Dass eine Störung der Bakterienentwickelung die Ursache des
Rückganges der Keimprozente sei, glaube ich nicht. Denn in
meinen früheren Versuchen keimten die Körner in klarer — also
steriler — Bouillon*). Vielleicht ist diese immer wiederkehrende
Behauptung der Notwendigkeit einer Bakterienmitwirkung bei der
Gerstenkeimung darauf zurückzuführen, dass Säurebildung durch
jene die fehlende Nachreife ersetzt.
IX.
Unlängst hat sich Th. Bokorny *) mit meiner Arbeit beschäftigt
und will, wenn ich ıhn recht verstehe, den Unterschied in der Wir-
kung des Sublimates und des Silbernitrates damit erklären, dass
dieses in höherem Maße der Ausfällung unterliege als jenes. Dass
Silbernitrat stark ausgefällt und adsorbiert wird, ıst sicher und bei
den Versuchen mit an der Spitze angeschnittenen Körnern werden
diese Faktoren die Ursache sein, warum es volle 24 Stunden und
mehr dauert, bis das Gift zum Embryo gelangt, aber am unver-
sehrten Korn halte ich doch die selektiv permeable Membran für
ausschlaggebend, und zwar aus folgenden Gründen, die zum Teil
meinen älteren Arbeiten entnommen sind *).
1. Isotone Lösungen von Silbernitrat und Chlornatrium depri-
mieren die Wasseraufnahme des unversehrten Weizenkornes an-
nähernd um den gleichen Betrag*). Für NaCl wurde dabei eine
41) Schroeder: S. 503.
42) Biochem. Zeitschr., Bd. 62 (1914), S. 58
43) Den beiden oben zitierten Abhandlungen.
44) Dass die Depression der Wasseraufnahme durch Silbernitrat nicht durch
veränderte Durchlässigkeit der mit Silbersalz imprägnierten Schale bedingt ist, in
der Weise etwa, wie ich das früher für Osmiumsäure gefunden habe, beweist auch
noch folgender Versuch:
Vorbehandlung: Serie A. Weizen 24 Std.in5 % AgNO, geweicht, danach zuerst in
Luft, dann im Trockenschrank bei ca. 50° C getrocknet.
Serie B. Weizen 24 Std. in Wasser geweicht, darauf getrocknet
wie A.
Wasseraufnahme in % des Anfangsgewichtes beim Einweichen der so vorbe-
handelten Körner in reinem Wasser.
Nach Stunden: 7 22
i
Serie IR | 20 | 34,5
Serie B. 23 | 35,5
D.h., die Körner der Serie A, deren mit Silber durchsetzte Schale dunkelbraun
gefällt war, nehmen das Wasser ebenso rasch auf als die nur mit Wasser vorbehandelten.
94 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
Titerzunahme der Lösung festgestellt, die unter Berücksichtigung
der durch die Tiefenlage der semipermeablen Membran bedingten
Korrektur rund der durch direkte Wägung ermittelten Wasserauf-
nahme entsprach. Bei angeschnittenen Körnern ist eine Hemmung
der Wasseraufnahme nicht festzustellen *).
2. Während sich im Inneren des verletzten Kornes das Sılber
unschwer feststellen lässt, misslang sein Nachweis bei unversehrter
Kornhülle.
3. Die Resistenz ıst streng an die Kontinuität der Schale über
dem Embryo geknüpft.
Im Gegensatz dazu bewirkt Sublimat keine Depression der
Wasseraufnahme, ist ım intakten wie im angeschnittenen Korn
leicht aufzufinden und äußert seine Giftwirkung auch bei Abwesen-
heit von Verletzungen.
Von diesen Tatsachen spricht in erster Linie die Titerzunahme
für die Bedeutung einer semipermeablen Membran. Ich habe darum
neuerdings auch Silbernitrat ın dieser Beziehung untersucht und
auch für dieses eine Titerzunahme gefunden, aber mit Sicherheit **)
nur dann, wenn relativ viel Weizen (100 Körner) mit kleinen Mengen
(10 ccm) halle (10%) Salzlösung behandelt wurde. So
enthielt einmal die Lösung in 5 cem vor der Weiche 0,496 g AgNO,
und nachher 0,522 g; an han Körner inssuer bewirkten
eine Titerabnahme auf 0,468 g ın 5 cem. Ein anderer Versuch er-
gab vorher 0,480 g in 5cem und nachher 0,521 g. Die aus letzteren
Daten errechnete Wasseraufnahme beträgt 0,5 g gegen 1,35 des
tatsächlichen Befundes. Diese Differenz ıst größer als die früher bei
NaÜl-Versuchen gefundene, d.h. geht über den Betrag dessen, was
an Salzlösung die Fruchtschale imbibiert, hinaus. Das dürfte auf
Silberfällung bezw. Adsorption zurückzuführen sein, eine Annahme,
mit der die oben erwähnte Titerabnahme bei Verwendung ange-
schnittener Körner übereinstimmt.
Durch die Titerzunahme der Silberlösung unter dem Einfluss
quellender unbeschädigter Weizenkörner ıst aber einwandfrei be-
wiesen, dass der Lösung Lösungsmittel in stärkerem Maße entzogen
wurde als gelöste Substanz. Diese Tatsache dürfte in Verbindung
mit den oben vorgebrachten Gründen ziemlich deutlich zugunsten
der Annahme einer selektiv permeablen Hülle sprechen.
Kiel, 1. August 1914.
45) Vergl. für Silbernitrat speziell den auf Kurve I S. 189 (Flora, Bd. 102)
wiedergegebenen Versuch.
46) Sie war aber auch bei schwächeren Konzentrationen N/10 (10 ccm auf
100 Körner) erkennbar.
Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 35
Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweils.
Von Dr. Th. Bokorny.
Verfasser hat schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen (Chem.
Ztg. 1912, p. 1050), dass die Schädlichkeit des Tabakrauches bei
Pflanzen, die nach H. Moliseh (Bakt. Centralbl. Bd. 31, Nr. 11/15
und Naturw. Umschau, 1912, S. 51) erstaunlich groß ist, wahr-
schemlich durch den Ammoniakgehalt des Rauches hervorgerufen
wird.
Das Kohlenoxyd, welches von H. Molisch verantwortlich ge-
macht wird, ist nicht schuld; denn dasselbe wirkt auf Pflanzen gar
nicht giftig.
Für höhere Tiere (Vögel, Säugetiere) ıst das Kohlenoxyd töd-
lich durch Kohlenoxydhämoglobinbildung.
Auch das Nikotin kann es nicht sein, was den Tabakrauch so
schädlich für Pflanzen macht, denn es wirkt schon bei 0,1%, Ver-
dünnung nicht mehr recht nachteilig.
Ammoniak aber wirkt noch bei 0,1, sogar 0,05 und 0,025%,
schädlich und wachstumshemmend auf Pflanzen, z. B. Keimlinge
ein. Ja sogar 0,01%, hat noch eine Verzögerung des Wachstums
zur Folge; es tritt zwar eine Keimung ein (an Kresse, Gerste,
Wicke, Hanf, Erbse, Bohne), aber langsamer als beim Kontroll-
versuch.
Der Grund, warum das Ammoniak so schädlich wirkt, liegt ın
der leichten Verbindungsfähigkeit des Ammoniaks mit
dem Zelleneiweiß.
In vielen Fällen lässt sich mikroskopisch eine Körnchenbildung
innerhalb des Protoplasmas erkennen, wenn sehr verdünntes Am-
moniak eingewirkt hat (Ammoniakgranulationen, die den mit Coffein
und einigen anderen basischen Stoffen erhältlichen Granulationen
zu vergleichen sind).
Das Ammoniak hat sich dann mit dem Zelleneiweiß verbunden,
was bald zum Tode der Zellen führt.
Nur wenn man das Ammoniak sogleich wieder auswäscht, kann
man eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, d.h. ein
Verschwinden der Körnchen erreichen und damit ein Weiterleben
ermöglichen.
Wie jede chemische Bindung findet auch diese ihr Ende bei
einer gewissen höheren Verdünnung.
Man muss aber beim Ammoniak sehr hoch gehen.
Denn ich fand, dass man an Spirogyren mit Ammoniak sogar
bei Verdünnung 1:20000 noch Körnchenausscheidung erhalten könne.
Ohne jede Einwirkung dürften also nur noch höhere Verdün-
nungen sein; das werden auch die Konzentrationen sein, bei welchen
das Ammoniak ernährend auf die Pflanzen einwirkt. Die ernährende
Wirkung des freien Ammoniaks muss dann naturgemäß schwach sein.
6 Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß.
Ammoniaksalze reagieren teilweise auch mit dem Zelleneiweiß,
z. B. das kohlensaure Ammoniak, aber viel schwächer; ıhre Schäd-
lichkeit wird also viel geringer sein.
-Kohlensaures Ammoniak (und kohlensaures Natron) können
„Aggregationserscheinungen“, das sind jene Granulationen, hervor-
bringen. Die Verdünnungsgrenze, bei welcher die Wirkung hier
eintritt, liegt aber wesentlich tiefer als beim freien Ammoniak.
Das freie Ammoniak scheint eine besonders große Verbindungs-
fähigkeit zu haben. Sogar die starken fixen Basen Kalı und Natron
können sich damit nicht vergleichen.
Wir müssen übrigens unterscheiden zwischen Bindung
des sehr verdünnten Ammoniaks und Bindung des relativ
wenig verdünnten Ammoniaks.
Letztere tritt analog der gewöhnlichen Basenbindung durch das
Zelleneiweiß ein, indem NH, mit Wasser zu NH,-OH wird und
nun als Base sich mit den Säuregruppen des Eiweißes ver-
bindet, gerade wie Kalı und Natron.
Erstere ist eine Bindung als Aldehydammoniıak, indem die
Aldehydgruppen des aktiven Albumins mit dem Ammoniak reagieren,
was ım anderen Falle nicht möglich ıst, da sofort Umlagerung statt-
findet (siehe-O. Loew, Uhem. Kraftqu., p. 23).
Konzentrierte Ammoniaklösungen bewirken ebenso wie auch
andere Schädlichkeiten sofort ein Absterben des Protoplasmas und
damit eine Umlagerung des aktiven Albumins nach dem Schema:
CH—NH, CH—NH
|
C—-6C=0O = >—C—OH
I IHN
Gruppe im aktiven Gruppe im passiven
Eiweiß. Eiweiß.
Darum können konzentriertere, z. B. 1%\,ıge Lösungen von Am-
moniak nicht zu einem Versuch über den Unterschied zwischen
lebendem und totem Protoplasma dienen.
Dazu muss man hochverdünnte Lösungen anwenden. wie sie
bei den oben erwähnten Versuchen zur Anwendung kamen; nur
mit solchen erhält man die Granulationen und sonstigen Aggre-
gationserscheinungen (siehe Verf. in Pringsh. Jahrb. 1878) an Spiro-
gyren und anderen Objekten des Pflanzenreiches. Nur solche er-
geben vermutlich Aldehydammoniakbildung mit den Aldehydgruppen
des aktiven Eiweißes.
Dieses Mal arbeitete ich mit Hefe und suchte durch quantı-
tatıve Bestimmung der Ammoniakbindung einen chemischen Unter-
schied zwischen lebendem und totem Protoplasmaprotein festzustellen.
Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 27
Ich ließ !/,oö n-Ammoniak (= 0,017%, NH,) auf lebende und
tote Hefe einwirken.
20 g Presshefe wurden in 1000 ce !/,.. n-Ammoniak lebendig
gebracht und 24 Stunden lang darin unter öfterem Umrühren be-
lassen (im bedeckten Glase).
Ferner wurden 20 g Presshefe nach vorausgegangener Ab-
tötung durch 3 Minuten langes Verweilen in 100 ce der kochend
heißen !/;no M-Ammoniaklösung ebenfalls in 1000 ce kalter !/,oo
n-Ammoniaklösung versetzt und 24 Stunden darin belassen (be-
deckt).
Die lebende Hefe nahm aus der Lösung (die bei der Titration
insgesamt, nicht partiell, verwendet wurde) 0,075 g Ammoniak
weg, die getötete (scheinbar) 0,0187 g, also ungefähr ein Viertel
der ersteren Menge.
Damit dem Einwand begegnet werde, dass hier vielleicht durch
das kurze Erwärmen Substanz von ammoniakbindender Kraft aus-
trete und weggegossen werde, oder dass Ammoniak während des
Erwärmens gebunden und damit die ammoniakbindenden Atom-
gruppen des Hefeplasmas abgesättigt werden, wurden die 100 ce
t/ 00 a-Lösung, die zum Erhitzen und Abtöten der 20 g Presshefe
Verwendung finden sollten, aus der 11 betragenden Gesamtmenge
der ?/,.. n-Versuchslösung selbst genommen und dann die übrigen
900 ce nach dem Erkalten hinzugefügt.
Die Differenz von der soeben angegebenen Größe stellte sich
trotzdem heraus.
Ob die 0,018 Ammoniak wirklich durch die getötete Hefe ge-
bunden wurden, ist übrigens doch sehr fraglich, da ja durch das
Kochen ein Verlust von Ammoniak entsteht. 100 cc !/,,, n-Ammoniak
enthalten 0,017 g NH,. Das entspricht nahezu der aus der Lösung
nach Ausweis der Titration verschwundenen Ammoniakmenge.
Somit nimmt die getötete Presshefe (20 g) soviel wie kein
Ammoniak aus 11 '/,.o n-Ammoniaklösung binnen 24 Stunden
weg, während lebende Presshefe (20g) 0,075 g Ammoniak
aus 1 1 !/,,, n-Ammoniaklösung binnen 24 Stunden bindet.
Man kann also auf diese Weise den Nachweis führen, dass
lebendes Plasma auch chemisch verschieden ist von dem
toten.
Das aktive (lebende) Protein enthält nach ©. Loew Aldehyd-
gruppen, welche beim Absterben durch chemische Umlagerung ver-
schwinden. So ist das Resultat mit !/,,, n-Ammoniak verständlich.
Ammoniak reagiert leicht mit Aldehydgruppen. Darum bindet
das lebende Protoplasma Ammoniak.
Das getötete Protoplasmaprotein enthält keine Aldehydgruppen
mehr in seinen Proteinmolekülen, darum keine Ammoniakbindung.
28 Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß.
Dieser Beweis für den chemischen Unterschied zwischen leben-
dem und totem Zelleneiweiß ist kaum umzustoßen.
Denn durch Austritt von reaktionsfähiger Substanz beim Ab-
töten der Zellen ist hier keine Täuschung möglich. Die Substanz
ist (bei der zweiten oben angegebenen Versuchsanstellung) nach wie
vor dem Abtöten da; es kann sich also nur um einen Verlust des
Ammoniakbindungsvermögens durch Umlagerung handeln.
Das auf Aldehydgruppen zurückführbare Ammoniakbindungs-
vermögen durch Hefe ist nicht groß, es beträgt nur etwa !/,, des
Ammoniakbindungsvermögens der Hefe aus konzentrierten, ca. 1 %,igen
Lösungen; in letzterem Falle erfolgt sofort Umlagerung und reagieren
somit nicht die Aldehydgruppen, sondern die auch im toten Plasma-
protein noch vorhandenen Säuregruppen, welche bei !/,,, n-Am-
moniaklösung gar nicht in Aktion treten (wegen der zu großen Ver-
dünnung).
Ein vergleichender Versuch mit n-Ammoniak (= 1,7%, NH,)
ergab nämlich, dass 20 g Presshefe von 30%, Trockensubstanz,
lebend ın 100 ce n-Ammoniaklösung verbracht, binnen 24 Stunden
ca. 1 g Ammoniak aus der Lösung wegnehmen, d. h. chemisch
binden.
Das Ammoniakbindungsvermögen der Hefe ist somit erstaun-
lich groß, entsprechend dem hohen Eiweißgehalt derselben.
Das gebundene Ammoniak beträgt ca. 5%, des Lebendgewichtes
der Hefe oder 15%, der Trockensubstanz. Der Eiweißgehalt der
Hefe beträgt 50—60%, der Trockensubstanz.
Weiterhin wurde noch eine !/,, n-Ammoniaklösung (0,17%, 1g)
auf Hefe einwirken gelassen.
20 g Presshefe wurden mit 100 ce einer !/,, n-Ammoniaklösung
zerrieben bis zum Verschwinden der Brocken und Knöllchen.
Dann wurde der Versuch 48 Stunden stehen gelassen.
Es trat Fäulnisgeruch auf.
Die Titration ergab, dass 0,13 g Ammoniak verschwunden waren.
Nach dem Resultat des obigen Versuches (mit 1,7%,ıgem Am-
moniak) hätte aber viel mehr verschwinden müssen, ja das ganze
Ammoniak (0,17 g) hätte gebunden werden können, ohne die Binde-
kraft der Hefe zu erschöpfen.
Das Defizit wird begreiflich durch den Fäulnisgeruch; denn die
Fäulnisbakterien hatten Ammoniak aus dem Hefeneiweiß entwickelt
und damit eine Vermehrung des Ammoniakgehaltes in der Flüssig-
keit bewirkt.
Die „Ammoniakhefe“, wie sie durch Behandeln von Hefe mit
ca. 1%,ıge Ammoniaklösungen erhalten wird, riecht nıcht nach Am-
moniak (nach dem Auswaschen der anhängenden überschüssigen
Lösung), reagiert nicht alkalisch, das Ammoniak ist gebunden.
Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 29
Durch Kochen mit fixen Alkalıen kann man das gebundene
Ammoniak aus der Hefe frei machen.
Die Bindung des Ammoniaks ım sehr verdünnten Zustande
(0,017 %), sowie auch die aus konzentrierteren Lösungen (1,7%),
wie sie hier an Hefe nachgewiesen wurde, entbehrt nıcht des che-
mischen wie physiologischen Interesses.
Sie ist meines Wissens noch von niemandem beobachtet worden.
Zweifellos könnte dieselbe auch an anderen Organismen quan-
tıtatıv erwiesen werden, z. B. an Bakterien, die ja auch ın an-
nähernden Reinkulturen erhältlich sind, an tierischen und pflanz-
lichen Mikroorganismen, wenn sie ın Kulturen vorliegen. In allen
diesen Fällen könnte sowohl die erste als die zweite Art von Bin-
dung erprobt werden.
Beı höheren Pflanzen und Tieren müsste man wohl zu einer
Zerteilung der Organismen schreiten. Dabei würden die Zellen ab-
sterben und könnte die erste Art von Ammoniakbindung nicht mehr
erwiesen werden.
Hingegen müsste die zweite Art der Bindung überall nach
Maßgabe des Eiweißgehaltes stattfinden.
Die Hefezelle bindet übrigens eine Menge von anderen Stoffen
auch noch, z. B. verschiedene Basen und Säuren, entsprechend dem
mannigfaltigen chemischen Charakter des Eiweißmoleküles.
Dasselbe enthält (lebend und tot) eine große Anzahl von Amido-
gruppen und wirkt hierdurch als Base, bindet Säuren; durch den
(Gehalt an Säuregruppen bindet es, wie schon erwähnt, Basen.
Säuren werden demnach von der Hefe durch Salzbildung ge-
bunden.
Indem die (konzentriertere) Säure, sei es auch eine schwache,
gebunden wird, stirbt das Protoplasma, wenn es lebend war, ab,
sobald eine gewisse (letale) Quantität derselben gebunden ist; oder
meist schon eher durch die lebensfeindlichen Atomstöße, die von
derselben ausgehen.
Ebenso ist es bei Einwirkung von Basen.
Ferner bei den meisten anderen schädlich wirkenden Stoffen.
Im allgemeinen kann man sagen, dass ein Stoff um so giftiger
wirkt, je leichter er sich mit dem Protoplasmaeiweiß verbindet.
Das Ammoniak gehört zu den Stoffen, die noch bei großer
Verdünnung schädlich wirken.
Es stimmt das überein mit der Beobachtung, dass dasselbe
noch bei großer Verdünnung von den Hefezellen gebunden wird
(als Aldehydammoniak).
Durch meine fortgesetzten Beobachtungen über die Schädlich-
keit des Ammoniaks für Mikroorganismen, speziell auch Hefe, bin
ich nur bestärkt worden in der Ansicht, dass der den Pflanzen so
30 v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten.
schädliche Tabakrauch vorwiegend durch seinen Ammoniakgehalt
schädlich wirkt.
Übrigens wäre es nicht ohne Interesse, die Einwirkung des
freien Ammoniaks noch bei recht vielen Pflanzen auszuprobieren.
Da auch Ammoniaksalze bis zu einem gewissen Grade mit dem
Protoplasma reagieren können, so vermute ich, dass die manchmal
beobachtete weniger günstige Einwirkung von Ammoniaksalz (als
Stickstoffdünger) auf Pflanzen hierauf zurückzuführen sei.
Das biogenetische Grundgesetz im Leben
der Insektenstaaten.
Von G. v. Natzmer.
Im folgenden will ich den Versuch machen, das biogenetische
Grundgesetz ın übertragender Bedeutung auf die Insektenstaaten
anzuwenden und so in der Entwickelung eines einzigen derartigen
Staatengebildes die ganze Phylogenie wieder zu erkennen. Zwar
sind schon einzelne Erscheinungen des sozialen Lebens, wie z. B.
die Entwickelung der Termitennester (Holmgren), zum Gegen-
stand ähnlicher Betrachtungen gemacht worden, doch fehlte es bis-
her an einer zusammenfassenden, von der Basis des biogenetischen
Grundgesetzes ausgehenden Phylogenie der Insektenstaaten. Die
Phylogenien, welche einzig und allein an Hand der auf verschie-
denen Entwickelungsstufen stehenden Staatengebilde aufgestellt
worden sınd, bleiben ın ıhren Einzelheiten stets nur mehr oder
minder Hypothese und können im besten Fall nur einen gewissen
Wahrscheinlichkeitswert für sich in Anspruch nehmen. Ich habe
es deshalb unternommen, für die Entwickelung der Insektenstaaten
auch den wissenschaftlichen Beweis — soweit das innerhalb einer
kurzen Abhandlung möglich ist — zu erbringen, indem ich, die
induktive Methode anwendend, von der Ontogenie des einzelnen
Staatengebildes auf die Phylogenie verallgemeinernd schloss.
Wie eine vergleichende Betrachtung lehrt, muss sich das ge-
sellschaftliche Leben bei den Insekten aus dem solitären, das sich
bei den primitivsten Bienen und Wespen vorfindet, entwickelt haben.
Die Weibchen dieser Arten legen, jedes für sich, einige meist roh
gearbeitete Zellen an, die sie mit Nahrung versehen, bestiften und
sodann verschließen, worauf sie bald zugrunde gehen. Diese Bienen
(Prosopis, Andrena, Antophora, Xylocopa, Osmia, Colletes u. a.) und
Wespen (Crabronidae, Eumenes u. a.) leben völlig einsam und unter-
halten keinerlei Beziehungen zu ihren Artgenossen. Das Weibchen
sorgt selbst für Nestbau, Brutpflege und Fortpflanzung, während all
diese Funktionen bei den sozial lebenden Arten nur noch von ganz
bestimmten Individuen ausgeübt werden, was in dem von E. Goeldi
v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im. Leben der Insektenstaaten. 31
aufgestellten Gesetz der Kompensation zwischen Gonepitropie (Über-
tragung der Geschlechtsfunktionen) und Ergepitropie (Übertragung
der Brutpflege und Nahrungsfürsorge) zum Ausdruck gelangt!). Von
dieser Entwickelungsstufe hat, wie schon gesagt, nach
Ansicht aller Forscher das soziale Leben bei den Insekten
seinen Ausgangspunkt genommen. Deshalb ıst die Tat-
sache bemerkenswert, dass die Lebensweise der Hummel-
und der sozialen Wespenweibchen im Frühjahr bei der
Gründung der Kolonie in allem völlig derjenigen der
eben genannten solitären Arten gleicht. Erst wenn dann
die Arbeiterinnen erscheinen, bildet sich allmählich jene Arbeits-
teilung heraus, die wir in den höher entwickelten Staatengebilden
beobachten können. Dieselbe ist aber anfänglich, so lange die Kolo-
nien noch volksschwach sind, durchaus nicht streng durchgeführt,
was für eine phylogenetische Betrachtung ebenfalls bemerkenswert
ist. Dies gilt vor allem für die Hummeln, die ın den einfachsten
und in jeder Hinsicht primitivsten Verbänden leben. Bei ihnen
sind die Arbeiterinnen nur kleine Weibchen, die sich sonst, im
Gegensatz zu den anderen staatenbildenden Insekten, ın nichts
von den eigentlichen Weibchen unterscheiden. Sıe folgen nur, da
sie selbst unbegattet geblieben sind, ıhren Brutpflegeinstinkten, wenn
sie die Nachkommenschaft ihrer Stammutter mit Nahrung versorgen.
Verwerten wir all diese Tatsachen im Sinne des bio-
genetischen Grundgesetzes, so ergibtsich damit eine über-
raschende Bestätigung derjenigen Theorie, welche das
Entstehen des sozialen Lebens bei den Insekten daraus
herleitet, dass ein ursprünglich solitäres Weibchen
unter besonders günstigen Bedingungen das Erscheinen
seiner Nachkommenschaft noch erlebte. Dieses Stadium ist
nicht hypothetisch, sondern findet sich tatsächlich in der Natur bei
manchen Halictus- Arten vor.
Besonders interessant ıst die Tatsache, dass bei manchen Arten
dieser Bienengattung die zweite Generation nur aus Weibchen he-
steht, denn hiermit nehmen die Dinge eine den Hummelstaat im
wesentlichen ganz ähnliche Gestaltung an. Es ist, um mit
H.v. Buttel-Reepen zu sprechen, wohl möglich, „dass diese Weib-
chen, die keiner Befruchtung bedurften, beim Anblick der noch
offenen Zellen sofort ihren Fütterinstinkten gehorchten und Nahrung
herbeitrugen und so der Mutter zur Hand gingen“ ?).
Während bisher nur die Wahrscheinlichkeit für diese
Annahme sprach, wird es durch die Betrachtung eines
1) E. Goeldi. Der Ameisenstaat. Leipzig 1911.
2) H. v. Buttel-Reepen. Die stammesgeschichtliche Entstehung des Bienen-
staates. Leipzig 1903.
39 v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten.
der vorher erwähnten Staatengebilde vom Standpunkt
des biogenetischen Grundgesetzes bestätigt, dass der
Ursprung des sozialen Lebens bei den Insekten ein ganz
ähnlicher gewesen sein muss!
Auf ein phylogenetisch früheres Stadium scheint bei den Hummeln
auch die erste Anlage des Nestes durch das Weibchen hinzuweisen.
Dieses errichtet nämlich anfangs ein Häufchen aus Blütenpollen
und Honig, in welches das erste Ei abgelegt wird. Dies ist der
Entwickelungsgrad, den wir bei den primitivsten solitären Bienen
antreffen, und der erst von dem Hummelweibchen noch einmal
kurz durchmessen werden muss, ehe es mit dem Bau von Zellen
beginnt.
Auch die Weibchen der Ameisen, deren Staatenleben meist viel
höher entwickelt ıst, leben anfangs als solitäre Insekten. Nachdem
sie nach dem Hochzeitsflug zu Boden gesunken sind und ihre Flügel
verloren haben, legen sie ın Erde oder Holz eine einfache, allseitig
abgeschlossene Kammer an, die sicherlich insofern auf eine phylo-
genetisch weit zurückliegende Zeit hindeutet, als das Urameisennest
jedenfalls in einer ähnlichen, roh gearbeiteten Höhlung bestanden
haben wird. Auch bei jungen Kolonien, die noch wenige Einwohner
besitzen, ıst die Nestanlage die denkbar einfachste. Die Bauten
weisen noch in allem den Typus derjenigen der primitivsten Arten auf
und lassen noch nichts von jener kunstvollen Architektonik ahnen,
welche sie später auszeichnet. Überhaupt kann man in der Ent-
wickelung eines einzelnen Ameisen- sowie auch Termitenstaates ın
dieser Hinsicht noch deutlich die verschiedensten Stufen der Phylo-
genie erkennen. Doch ich kann auf dieses Thema hier nicht weiter
eingehen, da es allein Stoff genug zu einer besonderen Abhandlung
bietet.
Es lässt sich indessen auch hinsichtlich der Insekten-
staaten der Satz aufstellen, dass die Wiederholung ver-
gangener Entwickelungsphasen einerseits desto genauer
ist, je mehr sich dieselben dem gegenwärtigen Zustand
nähern, während es andererseits desto abgekürzter ist,
je weiter sie im phylogenetischen Stammbaum zurück-
liegen.
Dies findet sich durch alle biologischen Tatsachen bestätigt.
So spiegelt die Ontogenie der hoch organisierten Staaten die Phylo-
genie oft nur noch undeutlich und in mancher Beziehung modifiziert
wieder. Dies zeigt sich auch darin, dass das Ameisenweibchen den
einmal aufgesuchten Schlupfwinkel nie wieder verlässt, sondern von
den in seinem Körper aufgespeicherten Fettmassen zehrt, sowie den
größten Teil seiner eigenen Eier als Nahrung für sich selbst als
auch für die Brut verwendet. Diese Lebensweise hat sich sicher-
lich erst später herausgebildet und es dürfte früher jedenfalls üb-
v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im: Leben der Insektenstaaten. 55
lich gewesen sein, dass auch das Weibchen während seines solitären
Daseins auf Nahrungssuche ausging. Hochinteressant würden Be-
obachtungen sein, wie sich die primitivsten Ameisen, so z. B. die
Ponerinen oder ZLeptothorax in dieser Hinsicht verhalten, worüber
meines Wissens noch keine Berichte vorliegen. Ähnliche Instinkts-
änderungen, die sich im Lauf der phylogenetischen Entwickelung
vollzogen haben, habe ich bei Ameisenweibehen beobachtet. Die
Weibchen vieler in höher entwickelten Staaten lebender Arten
kümmern sich nämlieh nach meinen Wahrnehmungen schon nicht
mehr ım geringsten um Wohl und Wehe der Brut, wenn erst
ganz wenige Arbeiterinnen erschienen sind, während sich bei-
spielsweise die Weibchen von Leptothorax auch dann, wenn Ihre
Kolonien verhältnismäßig hoch entwickelt sind, wie gewöhn-
liche Arbeiterinnen an allen Beschäftigungen beteiligen. Diese all-
mähliche Differenzierung der Instinkte und die mit ihr parallel
laufende Arbeitsteilung hängt aufs allerengste mit denjenigen Organı-
sationsveränderungen der Einzelindividuen zusammen, die durch
das staatliche Leben direkt bedingt worden sind und die demgemäß
in den unentwickeltsten Staaten am wenigsten ausgebildet sind.
Dies habe ich bereits an anderer Stelle zum Gegenstand einer be-
sonderen Abhandlung gemacht, auf die ıch deshalb verweise).
Ebenso ist selbstverständlich die Art der Koloniegründung bei
den dulotischen und parasitischen Ameisen nicht die ursprüngliche,
sondern sie ist erst später, verursacht durch besondere Umstände, ent-
standen. Dies gilt vor allem auch für den Bienenstaat, der bekannt-
lich nicht durch ein Weibchen allein gegründet wird, sondern der
durch Spaltung eines Volkes in zwei Teile mit je einer Königin
an der Spitze entsteht. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass dieser
Modus nicht den ersten Anfängen des Staatenlebens bei den Vor-
fahren von Apis mellifica entsprechen kann. Fast scheint es also,
als ob das biogenetische Grundgesetz hier in willkürlicher Weise
in der Ontogenie des einzelnen Staates außer Kraft getreten wäre.
Doch diese auffällige Abweichung liegt, wie ich gleich zeigen werde,
in anderen Lebensgewohnheiten der Vorfahren von Apis mellifica,
die mit der phylogenetischen Entwickelung an sich nicht ım ge-
rıngsten Zusammenhang stehen, ursächlich begründet. Das Schwärmen
dürfte sich nämlich, wie auch H. v. Buttel-Reepen annimmt,
aus dem Wanderinstinkt entwickelt haben, der sich beı zahlreichen
Bienen der wärmeren Erdteile vorfindet. Bei diesen Arten zieht, sobald
der alte Wohnsitz den Bienen aus irgendeinem Grunde nicht mehr be-
hagt, das ganze Volk ab, um sich wo anders anzusiedeln. In den
Nestern dieser Bienen, die biologisch als die Vorläufer von Apis
3) G. v. Natzmer. Die Entwickelung der sozialen Instinkte bei den staaten-
bildenden Insekten. In: Die Naturwissenschaften. Jahrg. II, Nr. 53 (1914).
XXXV. 3
34 v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten.
mellifica zu betrachten sınd, leben nun fast stets mehrere Weibchen
friedlich nebeneinander. Aus dem Wanderinstinkt dürfte nun
die Gewohnheit entstanden sein, dass bei zu großer Bevölkerungs-
zahl, wenn Nahrung und Raum knapp wurden, nicht das ganze
Volk, sondern nur ein Teil desselben mit einem der Weibchen ab-
z0g. Dieser Koloniegründungsmodus war sicherlich im Kampf ums
Dasein gegenüber der Gründung durch ein einzelnes Weibchen von
ungeheurem Vorteil und wird deshalb, einmal entstanden, allmählich
vorherrschend geworden sein. Da sich nun in der Natur nur das
Nützliche erhält und totes Kapıtal zugunsten anderer Zwecke aufge-
zehrt wird, so mussten die Weibchen im Lauf der Zeit all jene Fähig-
keiten verlieren, die ihnen ehemals zur Gründung einer Kolonie
nötig waren. Da sie hiermit aber auch unfähig wurden, sich selbst und
ihre Brut am Leben zu erhalten, so musste die einstige bloße Gewohn-
heit, die Gründung einer neuen Kolonie durch Spaltung vor sich
gehen zu lassen, zur Notwendigkeit werden. Die Sachlage ıst also
die, dass die Staaten von Apis mellifica heutigen Tages in
Wahrheit überhaupt nicht mehr im eigentlichen Sinne des
Wortes neu gegründet werden, sondern dass sie ıhr Da-
sein bereits auf einer hohen Entwickelungsstufe begin-
nen. Aus diesem Grunde ist es auch nıcht möglich, dass
diese Staaten eine eigentliche ontogenetische Entwicke-
lung durchmachen. Betrachten wir die Insektenstaaten als ein-
heitliche Organısmen höherer Ordnung, so drängt sich bei der ver-
schiedenen Art der Koloniegründung unwillkürlich der Vergleich mit
der geschlechtlichen und der ungeschlechtlichen Vermehrung der
Schwämme und der Korallpolypen auf. Während bei der ersteren
die Flimmerlarven ein phylogenetisch vergangenes Stadium ver-
körpern, befinden sich die Individuen bei der letzteren, die durch
Knospung vor sich geht, bereits von Anfang an in einem relatıv
fertigen Zustand. Die Verhältnisse liegen also ganz ähnlich wie
bei der Gründung eines Insektenstaates durch ein einzelnes Weib-
chen einerseits und bei der Spaltung einer Kolonie andererseits.
Nicht unerwähnt will ıch lassen, dass das Schwärmen bei Apes
mellifica durchaus nicht gänzlich vereinzelt dasteht und nicht völlig
unvermittelt auftritt, sondern dass sich im Gegenteil eine allmäh-
liche Entwickelung dieser Lebensgewohnheit erkennen lässt, die
biologisch von den Meliponinen und Trigonen über manche indische
Apis-Arten bis zu unserer Honigbiene fortschreitet‘). Bemerkens-
wert ist die Tatsache, dass sich das Schwärmen völlig selbständig
auch bei manchen brasilianischen Wespen und Hummeln entwickelt
4) Interessant wären Untersuchungen darüber, inwieweit sich parallel mit der
Entwickelung des Schwärmens jene Fähigkeiten zurückbilden, die es dem Weibchen
ermöglichen, selbständig Kolonien zu gründen.
y7
v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten. 35
hat. Die Teilung einer Kolonie in mehrere Zweignester, die bei
manchen Ameisenarten, besonders bei Formica rufa, vorkommt, ist
auch ein ganz ähnlicher Vorgang. Das Weibchen der eben ge-
nannten Ameise scheint übrigens nach E. Wasmann auf dem besten
Wege zu sein, die Fähigkeit, selbständig Kolonien zu gründen,
ebenfalls einzubüßen.
Ist innerhalb des Staates von Apis mellifica die phylogene-
tische Entwickelung nicht mehr deutlich erkennbar, so bietet
die ÖOntogenie des Termitenstaates für die Phylogenie desselben
wertvolle Aufschlüsse. Nach übereinstimmenden Berichten ver-
schiedener Forscher beginnt bei den Termiten nicht das Weibchen
allein mit der Nestgründung, während das Männchen wie bei den
anderen staatenbildenden Insekten nach der Begattung zugrunde
geht, sondern beide Geschlechter gehen hierbei gemeinschaftlich
ans Werk. So legen nach G. Jakobsen bei Hodotermes turkestanicus
Männchen und Weibchen zusammen den ersten Schlupfwinkel an,
während nach Beobachtungen von C. Tollin an anderen Arten das
Männchen sogar allein mit dem Nestbau beginnt. Fest steht auch
die Tatsache, dass dem Termitenmännchen anfangs ein Hauptanteil
an der Brutpflege zufällt! Nun hat aber auch bei den Termiten
die männlich Kaste einen weiteren Ausbau erfahren, der mit dem
sozialen Leben im engsten Zusammenhange steht. So setzen sich
die Arbeiter und Soldaten sowohl aus Angehörigen des männlichen
als auch des weiblichen Formenkreises zusammen. In dieser Hin-
sicht unterscheidet sich denn auch der Termitenstaat grundlegend
von allen anderen Staatengebilden im Insektenreich, denen er sonst
in seiner Organisation so überraschend ähnlich ist’). Dies veran-
lasste mich bereits früher, in einer anderen Arbeit den Satz aufzu-
stellen, dass schon in den ersten Urstadien des gesellschaftlichen
Lebens bei den Termiten die Männchen im Gegensatz zu den anderen
‚staatenbildenden Insekten an der Brutpflege u. s. w. Anteil ge-
nommen haben müssen. Da nun die Entwickelung jedes
Staates die ganze Phylogenie noch einmal kurz durch-
läuft, so erfährt diese bisher allein durch theoretische
Erwägungen gestützte Annahme durch die oben mitge-
teilten Einzelheiten aus der Koloniegründung bei den
Termiten eine schlagende Bestätigung.
So trägt auch beim Studium der Lebenserscheinungen der In-
sektenstaaten die Heranziehung des biogenetischen Grundgesetzes
zur Lösung manches entwickelungsgeschichtlichen Problems bei oder
bringt sie wenigstens derselben näher.
5) In einer Arbeit, die demnächst in der „Zeitschrift für wissenschaftliche In-
sektenbiologie“ erscheinen wird, habe ich es unternommen, Konvergenzen in der
Lebensweise, die zwischen Termiten und Ameisen bestehen, auf natürliche Weise zu
erklären.
36 Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana).
Wenn auch mittels der hier angewandten Betrach-
tungsweise nichts über die Ursachen der Entwickelung
selbst ausgesagt werden kann, so ıst sie doch deshalb für
die Forschung von bedeutendem Wert, weil sie gestattet,
auch die kompliziertesten Erscheinungen des sozialen
Lebens bei den Insekten auf eine phyletisch einfache
Wurzel zurückzuführen‘).
Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana).
Per Osv. Polimanti.
(Dall’ Istituto di Fisiologia dell’ Universitä di Perugia.)
Da molti annı, percorrendo nella primavera la campagna romana,
osservando stagnı e canalı dı scolo, dı maggiore 0 minore portata
dı acqua, la mıa attenzione fu richiamata da un fenomeno carat-
teristico che presentavano larve dı Bufo e Rana. Neglı stagnı,
ossıa ad acqua completamente ferma, queste larve erano situate
nelle piü svariate direzioni e cambiavano dı posto con molta fre-
quenza. Mentre invece nei canali, dove l’acqua scorre sempre in
una determinata direzione, queste larve giacciono immobili, quası
costantemente sul fondo del canale colla superficie ventrale, sempre
tenendo l’estremo cefalico verso la direzione della corrente. Un
fatto caratteristico, che ho notato anche, sı & che si ritrovano quası
costantemente nel filo d’acqua, dove la corrente @ minore (ai latı
del canale e non nel centro) e specialmente poı dove & minore la
profonditä di questa. Osservate queste larve nelle diverse ore della
giornata, sı riscontra che varı sono ı movimenti che compiono e
sempre di breve durata e sempre vengono eseguiti contro corrente.
Talvolta, quando questa & molto forte, vengono travolte le giovanı
larve, perö vanno quası subito a posarsi in una zona morta della
corrente acquea, dove sı mettono sempre in direzione cefalica contro
la corrente. Nei canalı, dove la corrente € molto forte, e quindı
le larve non possono adagiarsı sul fondo, non sı trovano mai 0
almeno molto raramente. Forse quelle rare larve che vi sı ritro-
vano risalgono qui dai canali, dove la corrente & molto minore.
Un fatto costante da me osservato & difatti questo, che cıioe &
maggiore il numero delle larve dı Bufo e Rana nei canalı, ove la
6) Die eigentlichen Ursachen der Entwickelung der Insektenstaaten, die sich
völlig unabhängig voneinander überall im Prinzip ganz gleicher Weise vollzogen
hat, habe ich in einer ausführlichen Abhandlung zu erfassen versucht. Siehe:
G. v. Natzmer, Die Insektenstaaten. Grundriss zu einer natürlichen Erklärung
ihrer Entwickelung und ihres Wesens. In: Entomolog. Zeitschr. Frankfurt a. M.,
Jahrg. XXVII, Nr. 34 u. s. w. (1913). Diese Arbeit kann jedoch nur als ein aller-
erster Grundriss gelten. Gegenwärtig bin ich mit einer umfassenden Zusammen-
stellung und gründlichen Ausarbeitung meiner Anschauungen beschäftigt.
J
Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (bufo e kana). 3
corrente dell’ acqua & minore, rispetto a quelli, dove questa & molto
piü forte. Volendo darsi una spiegazione di questo fenomeno, si
pensa subito che & una manifestazione di „Reotropismo*
Össervazioni analoghe ed una spiegazıone simile avevano avan-
zato appunto per le larve dı Batracı, ın queste determinate con-
dizion, Camerano!) e Dewitz?), perö sıa l!’ uno che l’altro autore
non erano penetrati nell’intimo del fenomeno per poterne dare una
spiegazione plausibille. Camerano aveva inoltre notato che larve
dı Rana muta, nei corsı d’acqua delle Alpı ıtaliane, hanno un’ appen-
dice caudale molto piü lunga dı quelle di pianura, appunto perche
le prime debbono sopportare, per risalıre la corrente, una maggiore
resistenza, data dalla maggiore velocitä dell’acqua e quindi deb-
bono essere dotate dı un organo caudale locomotore molto piü
valido.
Come bene sappiamo, il fenomeno del reotropismo € molto
comune in natura, sia nel regno vegetale che ın quello anımale?°).
Perö, questa Sram dı reotropismo, che sı osserva in queste larve
di Batraci, & tutta speciale ed ha le sue caratteristiche particoları.
Abbıamo visto innanzı tutto, come queste larve dı Bufo e dı Rana
rımangono coll’ estremo cefalico nella direzione opposta alla cor-
rente, ma si ritrovano solamente nei corsi d’acqua non molto rapıdi
e poi rimangono quasi costantemente poggiate sul fondo colla
superficie ventrale, dove rımangono immobili quası tutta la giornata.
Dunque & questa una forma di reotropismo, differente ad esempio
da quella che sı osserva nei pescı*), che risalgono delle correnti
anche molto forti, sempre stando in quası continuo movimento.
Anche mettendo queste larve in un bicchiere pieno di acqua e
poı agitando in un determinato senso, si dispongono con |’ estremo
cefalico contro corrente, solo quando questa non & molto forte,
altrimenti sı lasciano trasportare passivamente. Dunque, perch& sı
abbıano fenomeni di reotropismo in larve dı Bufo e di Rana,
occorre che la corrente acquea, dove queste sı trovano, sia di
modica veloecitä.
Il rimanere poı dı queste larve, quası costantemente adagıate
sul fondo, cı porta a ritenere che, affinche questa forma di reotro-
pismo abbia luogo, occorre ıl contatto con una superficie solida.
1) L. Camerano. Bollettino del Museo di Zoologia e Anatomia Comparata
Torino 1893, vol. VIII. Atti della R. Academia di Torino classe ricerche fisiche
1890—91, vol. XXVI.
2) J. Dewitz. Über den Rheotropismus bei Tieren. Arch. f. Anat. u. Physiol.
(physiologische Abteilung). Suppl.-Band 1889, p. 231—244.
3) J. Loeb. Die Tropismen in Handb. d. vergl. Physiologie von H. Winter-
stein. Jena, Fischer, 1912. Bd. IV, p. 451-519.
4) Lyon, E. P. On Rheotropism. I. Amer. Journ. Physiol., vol. 12, 1904,
p- 149. — Ders. Rheotropism in fishes. Biol. Bull., vol. 8, 1905, p. 253. —
Ders. On Rheotropism. II. Amer. Journ. Physiol., vol. 24, 1907, p. 244.
38 Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (bufo e Rana).
Un riscontro dı questo reotropismo & stato visto da Parker?) ın
Amphioxus, da Lyon in pesci accecatı e da Jennings‘) in Para-
maecium. $ı tratta in fondo dı una forma dı „Reotropismo
negativo.“
Rimane ora dı rendersi conto del „siguificato biologico dı tale
forma di reotropismo“ ın queste larve dı batracı. Uno sguardo
alle osservazioni di fisiologia comparata, compiute sopra questo
argomento, cı convince subito che in questo modo !’ alımentazione
delle larve viene ad essere dı molto facılıtata. I detriti vege-
talı ed animalı, larve di insetti, ecc., trasportatı dalla corrente
acquea, penetrano nell’ orificio boccale dı queste larve. Ognuno
quindi vede in questa speciale posizione reotropica un fattore della
pıü alta importanza, anzı ıl principale per la ricerca del nutrı-
mento. Q@uesta mia idea trova una conferma in osservazioni com-
piute ın altrı ordini dı anımalı, sıa viventi, come anche fossilı.
Lo Bianco’) ha osservato, ed anch’ io ho potuto constatare, che
moltissimi polipı idroidi del golfo dı Napoli, ad esempio Coryden-
drium, Eudendrium, Gemmaria, Tubularia, ecce. stanno coı loro
sıfonı rivolti sempre contro le onde marine, apportatricı appunto
del nutrimento. Il caratteristico poi si & che perdono gli ıidranti e
cadono ın stato dı vita latente nella stagione ınvernale, quando le
onde marine sono molto violente e quindı non potrebbero ricavare
anche nutrimento alcuno da queste, perche glı organısmi microscopici
che a cıö dovrebbero servire, data la violenza della corrente marina,
non potrebbero soffermarsi sulle bocche dı questi individui, le
quali dı conseguenza debbono rimanere costantemente chiuse.
Non meno interessantı sono le osservazionı che sono state fatte
a questo proposito sopra glı anımalı fossilı.
Weissermehl®°) ha vısto che ı corallı fossılı sono rivolti tuttı
coı loro tentacoli verso quel punto, da dove viene ıl nutrimento;
da qui anche lo speciale incurvamento che spesso presentano. Nel
caso la corrente marina fosse venuta da piü partı, allora ıl tronco
del corallo rimaneva piü 0 meno verticale. Questa ipotesi era stata
gia avanzata da Jäkel”) per i crinoidi fossil, come anche, molto
prima di questi autori, Semper!®) riteneva che lo sviluppo e
5) Parker, G. H. The sensory reactions of Amphioxus. Proc. American
Academy of arts and sciences, vol. 43, 1903, p. 415—455.
6) Jennings, H. S. Contributions to the study of the behavior of lower
organism. Carnegie Institution of Washington. Publ. Nr. 16, 1904, 256 pp.,
81 figs. — Ders. Behavior of the lower organisms. New York 1906.
7) S. Lo Bianco. Notizie biologiche riguardanti specialmente il periodo di
maturitä sessuale degli animali del golfo di Napoli Mitteilung a. d. Zoolog. Station
zu Neapel, 19. Bd., 1909, p. 513—763. P
8) W. Weissermehl. Zeitschr. d. deutsch. geolog. Gesellsch., 1897, Bd. 49,
S. 865.
9) Jäkel. Zeitschr. d. deutsch. geolog. Gesellsch., 1891, Bd. 43, S. 595.
10) Semper. Die natürlichen Existenzbedingungen der Tiere. 1880, Bd. II, S. 65.
Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 3,5)
l’aumento dei banchi di corallo fosse sotto la diretta influenza del-
l’azione delle onde marine; da qui la formazione delle roccie e@
delle isole, una teoria questa, contraria a quella emessa da Darwin,
Una tale ipotesi, eio6 che il reotropismo negativo di larve dı Rana
e di Bufo sia in diretta dipendenza dell’ alimentazione di queste,
trova anche una completa conforma nel suecessivo sviluppo di
queste. Appena difatti cominciano a comparire gli arti posteriorı,
ma specialmente poi, quando i quattro arti sono completamente
sviluppati, ossia quando i movimenti di traslazione vengono ad
essere molto piü facilitati, di quando esiste solamente una coda, ıl
reotropismo va man mano scomparendo. Dunque, rendendosi
sempre piü completi e perfetti i movimenti di locomozione, anche
la ricerca del nutrimento risulta molto prü facilitata ed ıl fenomeno
del Reotropismo diviene biologicamente inutile.
Zum Farbensinn der Bienen.
Beobachtungen in der freien Natur.
Von Hermann Kranichfeld, Konsistorialpräsident a.D.
Das Problem des Farbensinns der Bienen kann noch nicht als
gelöst angesehen werden. Während die Versuche von Lubbock,
Forel, H. Müller, von Buttel-Reepen, von Dobkiewiez,
Frisch u. a. für die Farbentüchtigkeit der Bienen zu sprechen
scheinen, haben Plateau, Bethe und Heß gleichfalls auf Grund
von Experimenten das Gegenteil behauptet, und es ist noch nicht
gelungen, die Widersprüche auszugleichen. In einem Punkte ist
man sıch allerdings näher gekommen. Die neuesten Untersuchungen,
welche von Heß und Frisch ausgeführt wurden, haben überein-
stimmend festgestellt, dass die Bienen das Rot nicht sehen können
und-infolgedessen Rot mit Schwarz, Purpurrot mit Blau und Vio-
lett, Orange mit Gelb verwechseln. Während sich aber nach Heß
die Bienen auch gegenüber den anderen Farben wie total farben-
blinde Menschen verhalten und nur Helligkeits werte unterscheiden
können, sollen sie nach Frisch noch Gelb und Blau wahrnehmen
und Farbenwerte in dem gleichen Umfang wie Rotblinde er-
kennen.
Bei biologischen Experimenten lässt sich die betreffende Teil-
erscheinung niemals vollständig isolieren und es bekommt daher
der Forscher auch die einzelnen Faktoren nicht so sicher wie beim
physikalischen und chemischen Experiment in die Hand. Daraus
erklärt sich in unserem Falle zum Teil die Unsicherheit der Re-
sultate. Da diese Unzulänglichkeit der experimentellen biologischen
Untersuchung konstitutionell ist und sich nicht beseitigen lässt,
empfiehlt es sich, letztere durch die Beobachtung im Freien zu er-
gänzen. Bei ihr verzichtet man von vornherein auf Isolierung der Teil-
40 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen.
erscheinung. Indem man aber die Verhältnisse in der Komplikation,
wie sie die Wirklichkeit bietet, beobachtet!), kann man die Bedeu-
tung, welche das einzelne Isolationselement für das ganze zusammen-
gesetzte Erscheinungsgebiet besitzt, erkennen und daraus hück-
schlüsse auf die Beschaffenheit des Isolationselementes selbst ab-
leiten.
Die Beobachtung der Bienen im Freien ist allerdings mit ge-
wissen Schwierigkeiten verbunden. Bei meinen Schweizerreisen
hatte ich bemerkt, dass die Bienen mit besonderer Vorliebe die in
den Voralpen häufige, hinsichtlich der Farbe unscheinbare Kohl-
distel (Oirsöum oleraceum) aufsuchen. Ich hatte mir vorgenommen,
diese auffallende Erscheinung zu verfolgen, fand aber in den nächsten
Jahren keine Gelegenheit dazu, da an den Orten, welche ich be-
suchte, entweder der Reichtum der Flora bezw. der Bienenstände
zu gering oder die Beobachtung durch äußere Umstände zu sehr
erschwert war. Außerordentlich günstig lagen dagegen die Ver-
hältnisse im Kanton Appenzell, wo ich mich im Sommer 1912 auf-
hielt. Auf den Wiesen und Almen zwischen Weißbad und Steinegg
fand ich nicht nur eine große Mannigfaltigkeit blühender Pflanzen,
die fast immer von Bienen besucht waren, man konnte hier auch,
da alle Wiesen von Fußwegen gekreuzt werden, leicht Beobach-
tungen anstellen. Besonders günstig war der Umstand, dass aul
den 2-3 m breiten Rainen zwischen den Grundstücken und an
den Wegen das Gras vielfach noch längere Zeit stehen blieb, nach-
dem die Wiesen bereits gemäht waren. Die Bienen waren in diesem
Falle mit ihrem Flug auf die Raine beschränkt und konnten oft
während der ganzen Dauer desselben bequem verfolgt werden.
Ich habe meine Beobachtungen in der Zeit zwischen dem 22.
und 31. Juli während der Morgenstunden 10—12 Uhr gemacht und
dabei mein Augenmerk vor allem auf zwei Punkte gerichtet: Ob
1. bei der Wahl der zuerst beflogenen Blüten sich eine Vorliebe
für eine bestimmte Farbe geltend macht und 2. ob bei der sogen.
Konstanz, d.h. der während eines Ausfluges beobachteten Beständig-
keit hinsichtlich der einmal gewählten Blüte die Farbe derselben
als Erkennungszeichen dient.
Das Resultat war in betreff des ersten Punktes eindeutig ein
negatives. Wenn sich auch bei den Bienen bei der experimen-
tellen Untersuchung eine Vorliebe für eine bestimmte Farbe oder
für sanftere Farben (blau, violett) überhaupt herausstellen sollte
(H. Müller), so trat sie doch jedenfalls bei der Wahl der Blüten
nicht hervor.
1) Die Beobachtung im botanischen Garten (Plateau) entspricht dem nicht,
da hier nicht die bunte, wechselnde Mannigfaltigkeit wie im Freien herrscht.
Kranichfeld, Zum Farbensinn. der Bienen.
Hn
Beobachtungen.
Am 22. Juli 1912. Heller Sonnenschein.
1. Rain mit Blüten von Cirsium oleraceum (gelblichweiß), La-
thyrus pratensis (gelb), Trifokum pratense (rot), Trifohum repens
(weiß), Crepis (gelb), Heracleum sphondylium (weiß), Campanula
rotundifolia (blau), Tragopogon pratensis (gelb), Chrysanthemum Leu-
canthemum (weiß), Vieia eracca (violett), Rhinanthus major (gelb).
9 Bienen auf Cirsium oleraceum; auf einem Köpfchen gleich-
zeitig 3. Die Bienen bleiben, soweit man das Feld übersehen kann,
während der Beobachtungszeit dem Oöirsium oleraceum treu, doch
lässt sich 1 Biene auf einen Moment auf Lathyrus pratensis nieder;
1 Biene fliegt suchend von Blüte zu Blüte (Lathyrus pratensis, Tri-
folium repens, Chrysanthemum Leucanthemum u. s.w.). Am Schlusse
der Beobachtungszeit sind noch 8 Bienen auf dem Rain.
2. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.
3 Bienen auf Cörsium oleraceum, die während der Beobachtungs-
zeit dem Cirs. olerae. treu bleiben; die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt.
Am 24. Juli 1912. Heller Sonnenschein.
3. Rain mit Blütenstand ähnlich wie 1.; doch ohne (irsium
oleraceum, dagegen mit Centaurea phrygea (rot).
Von Bienen nicht besucht ?).
4. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; doch ohne Crrsium
oleraceum.
Von Bienen nicht besucht?).
5. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; mit einzelnen Stauden
von Ülrsium oleraceum.
Von Bienen nicht besucht?).
6. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; doch ohne Cirstum
oleraceum, dagegen mit zahlreichen Exemplaren von (entaurea
phrygia (vot).
4 Bienen auf Centaurea phrygia, die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt’). Eine Biene auf Cent. phrygia 17 Minuten lang ver-
folgt. Sıe zeigte vollkommene Konstanz. Auch am Schlusse der
Beobachtungszeit nur Cent. phrygia von Bienen besucht.
7. Wiese mit ähnlichem Blütenstand wie 1., außerdem Cent.
phrygia (rot) und Cirsium palustre (vot).
2 Bienen auf Cirsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt®). Die Bienen auf ( oleraceum konstant.
2) 2 Hummeln auf Centaurea phrygia und Trifolium pratense.
3) 1 Hummel auf Rhinanthus major.
4) 1 Hummel auf Rhinanthus major, 1 Hummel auf Cirsium oleraceum.
5) 1 Hummel auf Centaurea phrygia.
6) 1 Hummel auf Cirsium oleraceum.
49 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen.
8. Rain mit ähnlichem Blütenstand wıe 1., doch ohne Cirsium
oleraceum”).
1 Biene auf Trifolium repens (weiß); nur kurze Zeit verfolgt;
konstant.
9, Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; außerdem (irsium
palustre (rot) und Knautia (blau).
1 Biene auf Cirsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt. Vollkommene Konstanz. |
10. Gemähte Wiese mit zahlreichen weißen Blütendolden und
Trifolium repens (weiß).
1 Biene auf Trifolium repens. Konnte nicht verfolgt werden.
11. Rain mit Centaurea phrygia (rot), Chrysanthemum Leucan-
themum (weiß), Ranunculus (gelb), Crepis (gelb), wenig Trifoliwm
pratense (rot), Plantago media (weiß-rötlich).
2 Bienen auf Centaurea phrygia; 1 Biene auf Plantago media.
1 Biene fliegt bisweilen, scheinbar von der Farbe getäuscht, von
Centaurea phrygia auf Trifolium pratense zu, ohne sich auf dasselbe
niederzulassen.
25. Juli 1912. Heller Sonnenschein.
12. Rain mit Blüten von (irsium oleraceum (gelblichweiß),
Campanula rotundifolia (blau), Rhinanthus major (gelb), Hypericum
perforatum (gelb), Spiraea ulmaria (weiß), Lotus corniculatus (gelb),
Lathyrus pratensis (gelb), Prunella major (blau), Cirsium palustre
(rot), Vicia eracca (violett), Heracleum sphondylium (weiß).
2 Bienen auf Cirsium oleraceum, die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt. Vollkommene Konstanz.
13. Wiese mit Cirsium oleraceum (gelblichweiß). Trefokum
pratense (rot), Cirsium palustre (rot), Gymmadenia conopsea (purpur-
rot), Dinanthus superbus (vosarot), Oentaurea phrygia (rot).
4 Bienen auf Cörsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt°®). Vollkommene Konstanz, soweit Beobachtung mög-
lich war. Natürlich konnten bei der größeren Anzahl von Bienen
nur einzelne verfolgt werden.
14. Wiese mit ähnlichem Blütenstand wie 13.
Zahlreiche Bienen auf Cirsium oleraceum; einige auf Centaurea
phrygia. Soweit Beobachtung möglich war, konstant.
15. Wiese am Appenzeller Wasserreservoir. Cirsium oleraceum
(gelblichweiß), COentaurea phrygia (vot), Knautia (blau), Trifolium
incarnalum (purpur), Lathyrus pratensis (gelb), Vicia eracca (violett),
Gymnadenia conopsea (purpurrot), Orchis maeculata (violett-weiß).
7) und ohne (entaurea phrygia.
5) 2 Hummeln auf Cirsium oleraceum, 1 Hummel auf Centaurea phrygia.
Letztere fliegt in !/, Stunde etwa 300 Blüten an, lässt sich dabei nur dreimal auf
Oirsium palustre nieder. An Üirsium oleraceum fliegt sie stets vorbei.
ww
Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 4
Die Stauden von Cirsium oleraceum stehen in 3 etwa 5 m von-
einander entfernten Gruppen.
Die Köpfchen von (irsium oleraceum sind von zahlreichen
Bienen besetzt. Auf Centaurea phrygia nur 1 Biene’). Soweit Be-
obachtung möglıch war, konstant.
Am 26. Juli 1912. Heller Sonnenschein.
16. Rain an einer Fichtenhecke. Nach der Hecke zu stehen:
Cirsium oleraceum (gelblichweiß), Heracleum sphondylium (weiß),
Galium mollugo (weiß), Spiraea ulmaria (weiß) (alle Stauden unge-
fähr gleichhoch); auf dem Rain selbst: Trrfohum pratense (rot),
Trifolium repens (weiß), Prunella grandiflora (blau), Lotus corni-
culatus (gelb), Vieia eracca (violett), Rhinanthus major (gelb), Orepis
(gelb), Hypericum perforatum (gelb), Centaurea phrygia (rot).
5 Bienen auf Cirsium oleraceum, 3—4 Bienen auf Heracleum
sphondylium, 1 Biene auf Centaurea phrygia. Eine Biene auf Heracı.
sph. '/, Stunde lang verfolgt. Sie wechselt den Blütenstand etwa
30mal, fliegt stets an (irsium oleraceum, Centaurea phrygia Vor-
bei und bleibt dem Heracl. sph. treu. 1 Biene fliegt von Centaurea
zu Prunella, Trifohum pratense, Trifolium repens etc.
Am 31. Juli 1912. Heller Sonnenschein.
17. Wiese mit Centaurea phrygia (rot), Hypericum perforatum
(gelb), Tragopogon pratensis (gelb), Rhinanthus major (gelb); Lathyrus
pratensis (gelb), Lotus corniculatus (gelb), Kuphrasia officinalis
(weiß), Scabiosa columbaria (blau). Kein Cirsium oleraceum.
2 Bienen auf Centaurea phrygia, 1 Biene auf Hypericum per-
foratum'®). Letztere besucht in 3 Minuten etwa 40 Blüten, fliegt
dabei nur einmal Tragopogon pratensis an.
18. Sumpfwiese mit (irscum oleraceum (weiß-gelblich), Cörscum
palustre (vot), Centaurea phrygia (rot), Lotus corniculatus (gelb),
Trifolium pratense (vot), Gymmadenia conopsea (purpur), Kuphrasia
offieinalis (weiß), Lathyrus pratensis (gelb), Parnassia palustris (weiß).
Zahlreiche Bienen auf (irsium oleraceum, 1 Biene auf Cirsium
palustre bezw. Centaurea phrygra.
Mit Anfang August setzte Regenwetter ein, das meinen Beob-
achtungen ein Ende machte'!).
Resultate.
Von den 18 beobachteten Feldern wurden 15 von Bienen be-
sucht. 10 von diesen 15 Feldern enthielten Stauden von (irstum
9) 1 Hummel auf Trifolium incarnatum; 10 Minuten lang beobachtet. Sie
wechselt in dieser Zeit 39mal den Blütenstand, fliegt dreimal G@ymnadenia conopsea
an, ohne sich jedoch auf der Blüte niederzulassen, einmal Trifolium pratense.
10) 1 Hummel auf Centaurea phrygia, 1 Hummel auf Scabiosa.
11) Nach der Regenperiode wurde Cirsium oleraceum im allgemeinen nicht
mehr von Bienen und Hummeln beflogen.
44 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen.
oleraceum. In diesen 10 Feldern saßen die Bienen entweder aus-
schließlich (in 5 Fällen) oder doch in ihrer Mehrzahl auf den Köpfen
von Cirsium oleraceum. In 1 Fall wurde außer Cirsium oleraceum
noch Lathyrus pratensis, ın 2 Fällen Centaurea phrygia, ın 1 Fall
Oentaurea phrygia und Heracleum sphondylium, ın 1 Fall Oirsium
palustre beflogen.
In den Feldern, auf welchen es keine Stauden von (irsium
oleraceum gab, waren in
1 Felde Blüten von Centaurea phrygia;
LE & „ Oentaurea phrygia und Plantago media;
1 ARE 5 „ Oentaurea phrygia und Hypericum perforatum;
2 Feldern „ „ Trifolium repens besetzt.
Alle anderen Blüten wurden von Bienen nicht besucht.
Die besuchten Blüten waren zum bei weitem größten Teile
von unscheinbarer Farbe:
Cirsium oleraceum, Trifolium repens, Heracleum sphondylıum,
Plantago media:
weiß in verschiedenen Abstufungen,
Ventaurea phrygia und Cirsium palustre:
rot,
Hypericum perforatum, Lathyrus pratensıs:
gelb.
Auch bei der relativ noch am meisten besuchten Oentaurea
phrygia war es offenbar nicht die Farbe, was anlockte. Bei der
Wahl der Blüten scheint daher die Farbe nicht bestimmend zu sein.
Ein anderes Resultat ergibt sich hinsichtlich der Frage, ob den
Bienen bei der Konstanz die Farbe als Erkennungszeichen dient.
Was zunächst die Konstanz selbst betrifft, so haben meine Be-
obachtungen nur bestätigt, dass sie bei den Bienen einen relativ
hohen Grad erreicht und stärker als bei den Hummeln ausgebildet
ist. Dass beide fast durchweg dem einmal beflogenen Cirsium
oleraceum treu bleiben, kann man allerdings kaum als Beweis für
dieselbe ansehen, da die Blütenköpfe dieser Pflanze ihnen eine be-
sondere Lieblingskost zu bieten scheinen. Die Biene bleibt aber auch
dann bei der einmal erwählten Blüte, wenn diese nicht zu den bevor-
zugten gehört. So konnte ich auf dem Rain Nr. 16 eine Biene
auf Heracleum sphondylium ‘|, Stunde lang verfolgen. Sie wechselte
während dieser Zeit 30mal den Blütenstand und flog dabei oft dicht
an den mit anderen Bienen besetzten Stauden von Cirsium olera-
ceum, sowie an Centaurea phrygia u.s. w. vorbei, ohne sich ım ge-
ringsten beirren zu lassen. Die Konstanz der Hummeln ist wohl
schwächer als die der Bienen, aber doch immer noch recht groß
(gegen Plateau). Während !/, Stunde sah ich ım Feld Nr. 13
eine Hummel etwa 300mal die Centaurea phrygia befliegen. Sie
setzte sich in dieser Zeit zweimal auf Cörsium palustre, aber nie-
Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 45
mals auf das von Hummeln sonst ebenfalls bevorzugte (irstum
oleraceum.
Welche Erkennungszeichen die Bienen und Hummeln beim
Aufsuchen der gleichen Blüten leiten, würde man schwer feststellen
können, wenn die Konstanz eine absolute wäre. Das ıst sıe aber
nicht; auch nicht bei den Bienen. Wir haben bei ihnen sogar zwei
verschiedene Fälle der Inkonstanz zu unterscheiden. Im ersten
seltenen Fall scheint die Konstanz überhaupt zu fehlen. So flog
in Feld Nr. 1 eine Biene suchend von Blüte zu Blüte (Zathyrus
pratensis, Trifolium repens, Urysanthemum Leucanthemum ete.); ın
Feld Nr. 16 fiog eine Biene von Centaurea phrygia zu Prunella
grandiflora, Trifolium pratensis, Trifolium repens etc. Da alle Blüten
ın großer Anzahl vertreten waren und die anderen Bienen auf der
Oentaurea phrygia sich konstant zeigten, ıst hier die Annahme Pla-
teau’s, dass die Bienen ın solchem Falle die Tracht mit der gleichen
Blüte nicht vervollständigen könnten, nicht zulässig. Ich möchte
vielmehr die Vermutung aussprechen, dass es sich um junge Bienen
handelte, bei denen die Konstanz noch mangelhaft ausgebildet war.
Für unsere Betrachtung ist nur der zweite Fall von Inkonstanz von
Bedeutung, bei welchem die Bienen und Hummeln die Blütenart
wechseln, weil ihre Kennzeichen sıe täuschen. Ich führe bei den
wenigen hier ın Betracht kommenden Beobachtungen auch die
Hummeln mit an, da dıe Anzahl der Fälle sonst zu klein wäre, um
Schlüsse aus ihnen ziehen zu können. In Feld Nr. 11 (1) blieben
die Bienen der Centaurea phrygia (rot) treu, flogen jedoch bisweilen
auf Trifolium pratense zu (rot), ohne sich auf ıhm niederzulassen.
In Feld Nr. 13 (2) flog, wie schon erwähnt, eine Hummel, die einige
hundertmal der Centaurea phrygia (rot) treu geblieben war, zweimal
auf Cirsium palustre; ın Feld Nr. 15(3) besuchte eine Hummel in
10 Minuten 39mal Trifolium incarnatum (purpur), einmal Trifohium
pratense (rot), dreimal näherte sie sich der Gymnadenia conopsea
(purpurrot), ohne sich jedoch auf der Blüte niederzulassen; in Feld
Nr. 17 (4) wechselte eine Biene in 3 Minuten 39mal den Blüten-
stand (Hypericum perforatum (gelb)), und flog dabei einmal Trago-
pogon pratensis (gelb) an; eine Hummel, welche ich 10 Minuten
beobachtete, besuchte dort (5) in den Flügen 1—30 die Centaurea
phrygia (rot), in den Flügen 31—41 nacheinander Lathyrus pra-
tensis (gelb), Lotus corniculatus (gelb) und Trifolium pratense (vot);
ın den Flügen 4253 wieder Centaurea phrygia (rot), in den Flügen
54—59 abwechselnd Centaurea phrygia (rot) und Trifolium pratense
(rot). Im Feld Nr. 14 (6) endlich flog eine Biene von (irsium olera-
ceum auf Centaurea-Centaurea-Centaurea und kehrte dann wieder
auf Cirsium oleraceum zurück.
Es sind im ganzen nur sechs Beobachtungen, bei denen aber
eine größere Anzahl von Fällen der Inkonstanz konstatiert werden
46 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
konnte. Die Beobachtungen 1—4 dürften ein Beweis dafür sein,
dass sich Bienen und Hummeln durch die Farbe täuschen lassen.
Die Bienen und Hummeln flogen von roten bezw. gelben Blüten
einer Art auf rote bezw. gelbe einer anderen Art. Besonders inter-
essant ist die Beobachtung (3) auf Feld Nr. 15. Die Hummel flog
hier verschiedene Male dicht an die Gymnadenia conopsea heran.
Da diese einen so intensiven Geruch hat, dass man auch einen ein-
zelnen Stengel nicht im Zimmer behalten kann, muss man annehmen,
dass die Hummeln sich entweder vom Geruch nicht leiten lassen
oder dass ihr Geruchsinn nur auf Nektar eingestellt ist und andere
(Gerüche nicht perzipiert. Bei den Beobachtungen 5—6 kommt die
Farbe für die Inkonstanz gar nicht oder erst in zweiter Linie in
Betracht. Das Resultat der zweiten Beobachtungsreihe ist daher
nicht ganz eindeutig, doch dürfte sich auf diesem Wege bei einer
größeren Anzahl von Einzelbeobachtungen der Wahrscheinlichkeits-
beweis für die Farbentüchtigkeit der Bienen und Hummeln ver-
stärken lassen. Die Beobachtungen stimmen mit den von Herrn
Geheimrat K. v. Frisch in Freiburg vorgeführten Experimenten
überein, wenn man annımmt, dass die Konstanz der Bienen mehrere
Tage anhält und die Farbe auch dort als Erkennungszeichen
diente.
Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung
und über Nachdauer dieser Farbänderung.
(Farbxenien und Färbungstelegonie.)
Von A. v. Tschermak (Prag).
Durc’'h systematische Bastardierungen zwischen Kanarienweibchen
und Männchen verwandter Wildvogelarten (Fringilliden: Hänfling,
Girlitz, Zeisig, Stiglitz, Gimpel) konnte ich vor einigen Jahren
(1910) den ersten zuverlässigen Beweis dafür erbringen, dass auch
ım Tierreiche sogen. Xenien vorkommen. Man versteht darunter
Abänderungen, welche mütterliche Organe oder die Hüllen der Frucht
(durch Bastardierung) in einer korrespondierenden, patroklinen d. h.
durch den: Vatertypus bezeichneten Richtung erfahren. In den er-
wähnten Versuchen betraf die patrokline Abänderung die Zeichnung
der Eischale. Während nämlich ein Kanarienweibchen bei Befruch-
tung durch ein art- und rassegleiches Männchen Eier legt mit un-
scharfer hellbirauner Fleckung, welche an unbefruchteten Eiern nur
angedeutet ist, oder nahezu fehlt, liefert dasselbe Individuum bei
Befruchtung ‘durch ein Männchen der genannten fremden Arten
Eier, die bestimmte schwarzbraune Abzeichen aufweisen. Diese
Punkte, Doppselpunkte, Punktreihen, Kurzstriche, Kommata, Geißeln
oder Fäden ?ihneln in hohem Maße der typischen Zeichnung der
Reinzuchteier der betreffenden Wildvogelart, so dass daraufhin für
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 47
ein geübtes Auge geradezu die Bestimmung der an der Bastar-
dierung beteiligten Vaterart möglich ist. Meine damalıge Fest-
stellung nahm bereits ausdrücklich Bezug auf die älteren Angaben
von W. von Nathusius (1867) und von Kutter (1877—1878),
dass eine „gewöhnliche“ bei Reinzucht weißschalige Eier legende
Haushenne (wahrscheinlich war die vielverbreitete Rasse Italiener
Rebhuhn gemeint) nach Befruchtung mit einem Hahn der Cochin-
chinarasse, welche bei Reinzucht braune Eier produziert, nunmehr
gelbliche Eier legen soll. Diese etwas schwankende Abänderung
soll schon wenige Tage nach Beginn der Bastardpaarung einsetzen
und im Laufe des Verkehrs der Tiere zunehmen, ohne allerdings
die typische Cochinchinafärbung zu erreichen. Diese älteren An-
gaben sind in umgekehrtem Sinne — nämlich Aufhellung der braunen
Reinzuchteifarbe von Plymouth Rock durch Bastardierung mit
einem Hahn der typisch weißeiigen Rasse „Italiener oder Livor-
neser Rebhuhnfarben“ — inzwischen von P. Holdefleiß (1911) er-
härtet und erweitert worden. Hingegen ist in letzterer Zeit A. Wal-
ther (1914) bei der Paarung von Thüringer Pausbäckchenhenne
(bei Reinzucht weiße bis gelbliche, ja hellbraune Eifarbe) und Nackt-
halshahn (rötlichbraune Eifarbe), Krüperhenne (weiß bis gelblich)
x. Japanesenhahn (weiß bis gelblich, ja hellbraun), Millefleurhenne
(braun bis hellbraun) X Pausbäckchenhahn (weiß bis gelblich, ja
hellbraun) zu einem wesentlich negativen, höchstens ım Fall III
angedeutet positiven Resultat bezüglich des Verhaltens der Eifarbe
(durchaus negativ bezüglich der Größe bezw. des Gewichtes, der Form
und des Glanzes) gelangt. Für dieses Ergebnis möchte ich einerseits die
erhebliche, zum Teil von weiß bis hellbraun gehende Variabilität
der Eipigmentproduktion bei den gerade gewählten Rassen und Indi-
viduen verantwortlich machen, andererseits wohl auch einen be-
sonderen Charakter der benützten Rassen, welcher sie gerade für
solche Versuche ungeeignet macht (vgl. meine eigenen Erfahrungen
unten!).
Die Feststellung von ganz spezifischen Zeichnungsxenien führte
mich dazu, beim Erklärungsversuche die Alternative aufzustellen:
entweder spezifische Mitbestimmung der Pigmentierung der Ei-
schale seitens des bastardierten Eidotters (intraovale Xenienreaktion)
oder charakteristische, geradezu korrespondierende Umstimmung
des mütterlichen Eischalenbildungsapparates durch irgendwelche
Bestandteile des fremdartigen Samens (extraovale Xenienreaktion).
— Die erstere Möglichkeit bezeichnete ich als zwar einfacher und
leichter vorstellbar, die andere jedoch als keineswegs ausgeschlossen.
Diese hier nur ganz kurz erwähnte Alternative, welche ich be-
reits früher (1910— 1912) ausführlich behandelt habe, sei durch zweı
schematische Figuren veranschaulicht. Denselben sei noch ein Dia-
gramm über die älteste, heute jedoch überwundene Vorstellung hin-
48 Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
zugefügt, dass gewisse Spermabestandteile direkt — ohne Umweg
über die befruchtete Eizelle — eine chemische Veränderung der
Eihüllen bezw. der Eischale zu bewirken vermögen (Seidlitz 1869).
Die drei Bilder bedürfen wohl keiner näheren Erklärung.
1. EB Ill.
KEI-
l
) U
)
|
|
l
f
A A
Direkter Einfluss des Intraovale Xenienreaktion Extraovale Xenienreaktion
Samens (Seidlitz 1869). (W. v. Nathusius 1879, (A. v. Tschermak 1910).
P. Holdefleiß 1911).
Schema der drei Möglichkeiten der Xenienreaktion:
(Abkürzungen: #L —+ U=Eileiter und Uterus, Ov = Ovarium.)
Eine Entscheidung in der oben erwähnten Alternative können
einerseits Versuche von Imprägnation mit unfruchtbar, doch sonst
nicht unwirksam gemachtem Samen bringen, andererseits Experi-
mente über eventuelle Nachwirkung einer Farbenabänderung nach
Aufgeben der Bastardzucht und Wiederherstellung der Reinzucht.
Für eine solche, bisher allerdings nicht sichergestellte Nach-
wirkung von Bastardierung an den Fruchthüllen oder gar an der
Frucht selbst besteht bereits der Terminus „Telegonie“. Im spe-
zıellen Falle hier handelt es sich um die Frage bloßer Hüllen-
telegonie bezw. Eifarbentelegonie. Der eventuelle Nachweis
eines solchen Vorganges würde für die oben an zweiter Stelle er-
wähnte Vorstellung, also für einen extraovalen Ursprung der Fär-
bungs- und Zeichnungsxenien des Vogeleies sprechen und damit
zur Vorstellung führen, dass bei der Imprägnation irgendwelche Be-
standteile des Samens zur Einwirkung auf den mütterlichen Eiı-
schalenbildungsapparat gelangen und dessen Tätigkeitszustand mit-
bestimmen, eventuell in spezifischer Weise verändern. In der
Frage der Färbungstelegonie von Vogeleiern liegt bisher nur die
ungefähre, nicht näher präzisierte und detaillierte Angabe von
.
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 49
Kutter (1878) vor, dass nach Bastardierung einer weißeiigen
Henne mit einem Cochinchinahahn die gelbliche Verfärbung der
Eier auch nach Wiederherstellung von Reinzucht abnehmend nach-
dauere; noch nach Monaten soll hie und da ein gefärbtes Ei ge-
legt werden.
Von den bezeichneten Gesichtspunkten aus habe ich seit 1912
umfangreiche Versuche über Verfärbung von Hühnereiern durch
Bastardierung und über Nachdauer dieser Farbenänderung durch-
geführt!). Zur prinzipiellen Sicherstellung von Xenien ist zwar das
Auftreten von charakteristischen Zeichnungen, wie sie an den
bastardierten Kanarieneiern beobachtet wurden, weit beweiskräftiger
als das Auftreten oder Verschwinden von diffuser Färbung, welche
beispielsweise Seidlitz (1869), allerdings mit Unrecht, auf eine
einfache chemische Reaktion des fremdartigen Samens mit dem
Sekret der Uterindrüsen bezog; für die Frage der Nachwirkung ist
jedoch das Verhalten der diffusen Eifarbe an dem weit bequemeren
Hühnermaterial ohne Einwand brauchbar. Zudem wurden Studien
über die Vererbungsweise einzelner Merkmale an den gewonnenen
Rassenbastarden ausgeführt und gleichzeitig mancher Fingerzeig für
die züchterische Praxis gewonnen. Über diese Ergebnisse wird
jedoch bei anderer ee berichtet werden.
In meinen Versuchen kamen folgende Rassen zur Verwendung,
welche gleich in jener Reihenfolge nebeneinander gestellt seien,
nach welcher während bestimmter Fristen Bastardzucht in beiderlei
Verbindungsweise durchgeführt wurde.
Tabellarısche Übersicht der verwendeten Rassen:
weißeilg brauneiig
Italiener Weiß Langshan
Italiener Rebhuhnfarben Plymouth Rock
Minorka weiß („alte“ Spezialform) Cochinchina
Die verwendeten Tiere waren von renommierten, für die
betreffenden Rassen als Spezialisten geltenden Züchtern bezogen
und von diesen als durchaus rasserein bezeichnet. Es wurden
nur solche Hennen verwendet, welche mit den rassegleichen Hähnen
Reinzuchteier produzierten, die an Farbe, aber auch an Größe und
Form nicht besonders stark variierten. Es kam also keine Henne
in Verwendung, die etwa bald reinweiße, bald gelbe oder braune Eier
legte. Dieses Verhalten wurde überdies vor Aufnahme der hybriden Ver-
1) Die Durchführung der Versuche wurde mir finanziell ermöglicht durch eine
»weimalige Subventivn seitens des k. k. österreichischen Ackerbauministeriums, dem
ich auch hier meinen besten Dank ausspreche. Ferner bin ich dem I. Österreichischen
(eflügelzuchtverein für die Überlassung von Volieren für die Dauer der in Wien
durchgeführten Versuche sehr verpflichtet. Seit 1. Nov. 1913 wurden die Versuche
im physiologischen Institut der Deutschen Universität in Prag fortgesetzt.
xXXXV. A
50 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
bindung in eigener Versuchseinrichtung noch durch eine etwa 2 Mo-
nate währende Reinzucht (Rı) kontrolliert; die dabei gewonnenen
Reinzuchteier wurden als Standardmaterial konserviert. Nach einer
siebenwöchentlichen Isolationszet —- erfahrungsgemäß reichen
20 Tage aus, um eine Nachwirkung des ersten Hahnes auszuschließen?)
(D. Barfurth) — wurde die erste Bastardzucht (Br) begonnen und
durch 10 Monate fortgesetzt, worauf wieder Reinzucht (Rır) herge-
stellt wurde. Auf diese wurde teilweise neuerliche Bastardierung
(Brr) und neuerliche Reinzucht (Rım) folgen gelassen. Von jeder
Rasse kamen nur je ein Hahn und je eine Henne in Verwendung,
was zwar vom züchterischen Standpunkte aus nicht vorteilhaft ist,
zur erstmaligen absoluten Sicherung und für die Übersichtlichkeit
der Versuchsergebnisse jedoch zweckmäßiger genannt werden muss.
Durchwegs beziehen sich also die gewonnenen Ergebnisse auf je
eine und dieselbe Henne, welche abwechselnd in Reinzucht und in
Bastardzucht gehalten wurde; so weit als möglich wurde auch ein
und derselbe Hahn bei Reinzucht bezw. bei Bastardzucht verwendet.
In einer zweiten Versuchsreihe (ab Winter 1914) wird unter Ein-
engung der Rassenzahl — auf Grund der Erfahrungen, die durch
die erste Versuchsreihe (1912—1914) gewonnen wurden — zur Ver-
wendung einer Mehrzahl von Hennen gleicher Rasse übergegangen
werden.
Über die Ergebnisse meiner Versuche orientiert die tabellarische
Übersicht, in welcher auch manche interessant erscheinende Einzel-
beobachtungen kurz vermerkt sind. Für jeden speziellen Versuch
ist am Schlusse des Kolumnenabschnittes das Resume gezogen (in
Kursivschrift).
Aus den drei in beiderlei Verbindungsweise durchgeführten
Versuchsserien ergibt sich in kurzer Zusammenfassung folgendes:
I. Bezüglich Verfärbung durch Bastardierung (Xenio-
dochie).
In so gut wie allen Fällen ließ sich eine Verfärbung
der Hühnereier durch Bastardierung nach der durch die
Vaterrasse bezeichneten Richtung hin erkennen. Aller-
dings war diese Xeniodochie in zwei Fällen (Prot. Nr. 1 Br — in
Bir‘ fehlend — und Prot. Nr. 4 Br) nur angedeutet, in einer Neben-
beobachtung (Prot. Nr. 2 Anm.) nur eben merklich und in einer
anderen solchen (Prot. Nr. 5 Anm.) nur gelegentlich vorhanden.
In den anderen Fällen war jedoch eine solche Verfärbung deutlich
(Prot. Nr. 2 Bı und Bır‘, Prot. Nr. 5 Br), ja sehr deutlich (Prot. Nr. 3 Bı,
minder Bır; Prot. Nr. 6 Br und Bir). Besonders eindringlich tritt
2) Es ist daher im allgemeinen die Vorsicht geboten, die Eier der ersten
>» Wochen einer Zucht für die entscheidende Beurteilung betreffs Xeniochie und
Telegonie auszuschließen.
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 51
jener Einfluss hervor bei den Rassenkombinationen: Italiener Reb-
huhnfarben 9 X Plymouth Rock 5 sowie Cochinchina 9 X Minorka
weiß („alte“ Spezialform) $ — wenigstens bei den gerade von mir
benützten Individuen. Die Farbenänderung durch Bastardierung
erfolgte in meinen Beobachtungsfällen ebenso oft in der Rich-
tung von Verstärkung der Pigmentierung von weiß zu braun
(Prot. Nr. 1 nur angedeutet, Prot. Nr. 3 sehr deutlich, Prot. Nr. 5
deutlich) als in der umgekehrten Richtung von Abschwä-
chung der Pıgmentierung von braun zu weiß (Prot. Nr. 2 deut-
lich und zwar unter Farbentonänderung ins Rötliche, Prot. Nr. 4
nur angedeutet, Prot. Nr. 6 sehr deutlich). Der Grad der Ab-
änderung ist augenscheinlich wesentlich abhängig von jeder der
beiden Rassen bezw. von der gewählten Rassenkombination, ferner
von der Verbindungsweise — die reziproken Versuche ergaben
keineswegs eine Abänderung von gleichem Grade (Prot. Nr. 1 nur
angedeutet — Nr. 2 deutlich; Prot. Nr. 3 sehr deutlich — Nr. 4
nur angedeutet; Prot. Nr. 5 deutlich — Nr. 6 sehr deutlich). Auch
die Individualität mag von Einfluss sein, doch vermögen meine zu-
nächst absichtlich auf je eine Henne beschränkten Versuche darüber
nichts auszusagen.
Dass die Breite der Variation der Eischalenpigmentierung bei
einer und derselben Henne (unter sonst gleichen Bedingungen) die
Möglichkeit einer Entscheidung bezüglich Vorhandenseins oder
Fehlens von Xeniodochie beeinflussen, ja aufheben kann, braucht
kaum nochmals betont zu werden. Speziell zu berücksichtigen ist
das Vorkommen von allmählıcher, sozusagen spontan fortschreitender
Farbenänderung der Eier im Laufe des Lebens einer Henne (eventuell
auch des Hahnes) trotz möglichstem Konstanthalten der äußeren
Bedingungen. Hierüber scheinen noch exakte Studien zu fehlen,
während bezüglich der Größe, bezw. des Gewichtes und der Form
solche an der Rasse Plymouth Rock bereits vorliegen (Maynie
R. Curtis unter Leitung von R. Pearl). Einen speziellen Fall
solcher Art konnte ich beobachten bei Reinzucht von Bastarden
erster Generation aus Minorka weiß, „alte“ Spezialform 9 X Cochin-
china g: die Eifarbe blasste binnen 1!/, Monaten in der Beobach-
tungszeit von 5. II. bis 25. IV. 1914 von dem ursprünglichen hell-
gelbbraun, allmählich fortschreitend, ab bis zu einem weiterhin
recht stabil bleibenden schwach bräunlichem Weiß. Ein hyper-
kritischer Beurteiler könnte vielleicht versucht sein, die angegebenen
Fälle von Xeniodochie auf Täuschung durch eine solche spontan
erfolgende „Altersveränderung“ der Pigmentierung zurückführen zu
wollen. Demgegenüber sei bemerkt, dass einerseits von einer solchen
allmählichen Veränderung in all den unter Prot. Nr. 1—6 ver-
zeichneten Hauptbeobachtungen während der Reinzuchten nichts zu
bemerken war. Vielmehr trat nach der während der Bastardzucht
4*
52
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
Tabellarische
der Versuche (1912—1914) über Farbxenien
Mutterrasse zur
| Vaterrasse
B Reinzucht (R) Eier bei erst- : ch Ale)
= | zur Bastard- | . : Eier bei erstmaliger
5 und zur Bastard- zucht (B) maliger Rein- Bietardzete (Bn)
2 zucht (B) a zucht (Rı)
A| verwendet
| verwendet | |
— nn [ | — —- ——s = =
1 | Italiener Weiß | Langshan Rı bis 15. IX. 1912. | Bı4. XI. 19121. IX.1913.
(Dauernd eine | Rein weiße Farbe, Rein weiß bis Spur gelb-
' u. dieselbe Henne rundliche — plumpe lich, ungeänderte Form.
, verwendet.) Form. Angedeutete Xeniodochie.
2 | Langshan Italiener |Rı bis 15. IX. 1912.| Bı 4. XT. 1912—31. VII.
Weiß Farbe ziemlich va- 1913.
(Dauernd eine
u. dieselbe Henne
verwendet.)
riant, von mittelgelb-
braun bis stark gelb-
braun, etwa die halbe
ıZahl der Eier mit
dunkler oder dunkel
| brauner Fleckung,
bezw. Puderune.
Deutlich stärkeres Vari-
ieren der Färbung unter
fortschreitendem Sinken des
Mittelwertes, nicht unter
einfach fortschreitendem
Abblassen. — Variation von
recht sattem, etwas rötlichen
Gelbbraun bis zu Gelbweiß.
Maximum — Extrem von
‚Bı erheblich satter und
\ mehr rötlich als Max. Ex-
‚trem von Rı. Minimum —
Extrem (relativ selten!) von
Bıı weitaus blasser als Min.
Extrem von Rı. Fleckung-
Puderung ab 25. IV. 1913
‘für die weitere Dauer von
| Br verschwunden.
Deutliche Steigerung der
Variabilität durch Bastar-
dierung, deutliche Xenio-
ı dochie bezw. Abschwächung
der Pigmentierung unter
Anderung des Farbentons
aus Gelblich- in Rötlich-
braun, Verschwinden der
, Zeichnung in der zweiten
Hälfte von Bı.
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
Übersicht
und Färbungstelegonie an Hühnereiern.
53
Eier bei zweiter Rein-
zucht (Rıt)
Eier bei zweiter Bastard-
| zucht (Bir)
I
|
Eier bei dritter Rein-
zucht (Rıt)
und bei dritter Bastard-
zucht (Bııı)
Rır 1. IX. 1913—25. IV.
1914.
(Hahn 20. III. 1904 er-
setzt.) i
Rein weiß, typische Form.
Keine Telegonie.
Bır‘ 25. IV.—5. VII. 1914.
' (Bastardzucht mit Zwerg-
'cochinchinahahn, der bei
vorausgeschickter Reinzucht
liche Eier erzeugt hatte.)
Rein weiß, ungeänderte
wohl unbefruchtet, wenig-
stens nicht anbrütbar.
Keine Xeniodochie.
gelblichweiße, kleine, läng-
Form und Größe — Eier |
| Rın 5. VIL—14. VII. 1914.
Rein weiß, typische Form.
| Bını 14. VIL.—13. X. 1914.
Rein weiß, typische Form.
| Keine Xeniodochie.
Rs III — 25T DV:
1914.
(Hahn 7. II. 1914 er-
setzt.)
Ziemlich variant von star-
kem Rötlichbraun bis Weiß-
braun, Mittel minder satt
und mehr rötlich als in Rı.
Max. Extrem von Rıı min-
der satt als Max. Extrem
von Rı oder gar Bı; Min.
Extrem von Rır erheblich
weißlicher als Min. Extrem
von Rı, jedoch etwas weniger
weißlich als Min. Extrem
von Br. Puderung nur auf
dem ersten Reinzuchtei
vom 3. II. 1914 in der
Spitzpolhälfte vorhanden,
sonst dauernd verschwunden
wie bereits in der zweiten
Hälfte von Bı.
Deutliche Minderung der
Variabilität durch Wieder-
herstellung der Reinzucht,
deutliche Telegonie bezw.
Nachdauer der Abschwä-
chung der Pigmentierung,
Nachdauer der Tonände-
rung in Rötlichbraun und
Nachdauer des Verschwun-
denbleibens der Zeichnung
(mit einem Ausnahmefall).
Bır‘ 25. IV.—9. VII. 1914.
(Bastardzucht*) mit / F,
[Minorka weiß 2 X Cochin-
china Z'|, der bei voraus-
geschickter Reinzucht mit
Schwester 2 F, [Minorka
weiß 2 X Cochinchina g'|
zuerst hellgelbbraune, später
fortschreitend hellere, bis
schwach bräunlichweiße
Eier produziert hatte.)
Geringe Variabilität von
rötlichem Weißbraun bis
Weiß, Mittel noch weniger
satt als in Rıı. Max. Ex-
trem von Bır‘ sehr erheb-
lich minder satt als Max.
trem von Bı1‘ etwas weniger
weiß als Min. Extrem von
Rıı oder als Min. Extrem
von Bı. — Puderung dau-
ernd ausnahmslos ver-
schwunden. — Verglichen
mit Reinzucht von @F, X
d F, (Geschwister — 5.11.
paarten Bastardes, zeigt das
Mittel von Bır‘ stärkere Pig-
mentierung als das Mittel
dieser Reinzucht, zeigen
beide Extreme von Bir’ stär-
kere Pigmentierung als beide
Extreme dieser Reinzucht.
Siehtliche Xeniodochie
bezw. weitere Abschwä-
chung der Pigmentierung
und Verschwundenbleiben
der Zeichnung infolge
neuerlicher Bastardierung.
rötlich oder gelblichbraunem |
Extrem von Rıı; Min. Ex- |
bis 25. IV.i914) des ange- |
Rın 9.—14. VII. 1914.
Keine Eiproduktion.
Bu [4 S VI EXT T9TA
(mit Ital. Weiß).
Eiproduktion 10.—26. IX.
Zieml. gleichmäßig, durch-
schnittlich zwischen dem
Mittel von Rıı und von Brı‘
stehend.
Geringere Xeniodochie
als in Bır'.
*) Anm. Bastardzucht
einer reinen Form mit einem
Hybriden ist durch das Sym-
bol Bı‘ bezeichnet. — Die
umgekehrte Bastardierung
F, [Minorka weiß 2 X
Cochinchina Langs-
han g' 25.IV.—9. V1I.1914
ergab ganz geringe, vari-
ierende Verstärkung der
Pigmentierung (etwas stär-
ker bräunlichweiß) gegen-
über dem letzten Stadium
der vorausgegangenen Rein-
zucht (5. II.—25. IV. 1914),
doch weit unter dem ersten
Stadium dieser Reinzucht.
Eben merkliche Xenio-
dochie.
54 Tschermak, Über ‚Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
Tabellarische
der Versuche (1912—1914) über Farbxenien
Mutterrasse zur |
|
N
u : Vaterrasse . .
1 Reinzucht (R) zur Bastard- Eier bei lg Eier bei erstmaliger
s und zur Bastard- | HB maliger Rein- ee (Bı
3, zucht (B) HN zucht (Rı) BEI SZUCFUNNEN
Ai verwendet | Yerwen er
3 | Italiener Reb- Plymouth |Rı bis 15.IX. 1912.| Br 4. XI. 1912—1. IX.
huhnfarben Rock Wenig variierende, | 1913.%)
(Dauernd eine ganz schwach gelb-- Unter geringem Oszil-
u. dieselbe Henne \lichweiße Färbung, lieren anfangs (bis April
und je ein und ‚längliche und grazile 1913) recht starke Verfär-
derselbe, Hahn ‘Form (dauernd un- bung in helles Braungelb,
verwendet.) ‚ verändert bleibend). allmähliche Abnahme, später
|(?. V. 1913) schon weit
| ı weniger gelb, nur gelbweiß
| — doch durchwegs noch
'gelblicher als Max. Extrem
von Rı.
' Steigerung der Varia-
‚bilitat durch Bastardie-
| rung, sehr deutliche Xenio-
| ‚ dochie bezw. Verstärkung
der Pigmentierung infolge
ı Bastardierung.
|
4\ Plymouth Rock |ItalienerReb-| Rı bis 15. IX. 1912.| Br 4. XI. 1912—1. IX.
(Dauernd eine |
huhnfarben
' u.dieselbe Henne
und je ein und
derselbe Hahn
verwendet.)
|
Ziemlich vari-
‚lerende Eifarbe von
weißbraun bis mittel-
‚braun, mit braunen
Flecken.
| (Heller als die Eier
in sonstigen Rein-
zuchten von Ply-
ı mouth Rock.)
1913.
Deutlich stärker und zwar
unregelmäßig variierend von
satter gelb- oder rötlich-
braun bis graugelb oder
ıbraunweiß. Min. Extrem
| von Bı ist ein wenig heller
als Min. Extrem von Rı
(1 Ei am Stumpfpol stark
| rötlichbraun, am Spitzpol
| mittelbraun). — Fleckung
‚dauernd verschwunden.
Deutliche Steigerung der
Variabilität durch Bastar-
dierung, Xeniodochie nur
| angedeutet.
Tsehermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
Übersicht
und Färbungstelegonie an Hühnereiern.
St
or
Eier bei zweiter Bastard-
zucht (Bıı)
Eier bei zweiter Rein- |
zucht (Rıı) |
Eier bei dritter Rein-
zucht (Rın)
und bei dritter Bastard-
zucht (Bıır)
Rır g7 IX. 191: 3—25. zZ | Brı 25. IV.—7. VI. 1914.
1914. Etwas satter gelblich als |
Ziemlich variante gelb- in Rır gegen Schluss, nicht
weiße Färbung, anfangs |so satt wie in Rır zu An-ı
sogar etwas satter als am | fang.
Ende von Br, satteste Stufen Minder deutliche Xenio-
ganz auffallend an satteste dochie bezw. geringe neuer-
Stufen von Br heran- |%ene Verstürkung der Pig-
reichend; allmählich (spe- mentierung.
ziell ab 11. IV. 1914) ab-|
nehmend — doch nie so| |
schwach gelblichweiß wie
in Rı, noch immer etwas
gelblicher.
Sehr deutliche Telegonie,
bezw. Nachdauer verstärk-
ter Pigmentierung und er- |
höhter Variabilität. |
am, 7
VI.—14. VII. 1914.
(kelativ früh aufgenom-
men, da Plymouth Rock-
Hahn 7 7. VI. 1914.)
Zum Teil weißlicher als
in Bır, vereinzelt an Max.
Extrem von Bir heran-
reichend, nicht so stark pig-
mentiert wie in Rıı zu An-
fang. Doch von Rı noch
immer merklich verschieden,
ı besonders auffällig in den
| satteren Stufen, z. B. noch
kamel25SVIIE: 1914 deutlich
‚ gelbweißes Ei produziert.
Minder deutliche Tele-
gonie bezw. Nachdauer
wenig verstärkter Pigmen-
ı bierung.
RE IIIRBZ5. Ve 1914: — |
(Plymouth Rock-Henne?r.)
Ziemlich variant, doch
Spielraum deutlich enger
als in Br, von mittlerem
Rötlichbraun bis Weiß-Röt-
lichbraun. Mittel von Rıı |
erheblich satter als Mittel |
von Rı, kein Ei so satt wie |
Max. Extrem von Bı; Min.
Extrem von Rıretwasblasser
als Min. Extrem von Rı
und als Min. Extrem von
Br. Fleckung dauernd ver-.
schwunden.
Deutliche Minderung der | |
Variabilität durch neuer- |
liche Reinzucht; betreffs
Telegonie keine Aussage
möglich.
| licher,
‚licher als in Rım.
| ursachten Tode
Bırm‘ ab 14. VII. 1914.
Bastardzucht mit F,
[Plymouth Rock 2 X. Ital.
‚ Rebh.
Stärker variierend als in
Rını, Max. Extrem gelb-
licher, Min. Extrem weiß-
Mittel etwas gelb-
Angedeutete Keniodochie,
*) Anm. Eine Bastard-
henne $F, (Ital. Rebh. 2
> Plymouth Rock fg‘), ver-
leint gehalten mit f F,
(Plymouth Rock 2 X Ttal.
Rebh. 5) vom 5. 1I.—11.
| III. 1914, enthielt nach
ihrem durch Legenot ver-
(1125ER:
1914) ein Ei mit weißgelb-
‚licher Schale.
96
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
Tabellarische
der Versuche (1912—1914) über Farbxenien
„| Mutterrasse zur | Yuter |
2| Reinzucht (R) ee ı Eier bei erst- RR Min.
3 .ı | zur Bastard- 0 Er Eier bei erstmaliger
= und zur Bastard- ht (B) maliger Rein- Basta BITE
= zucht (B) Zr L C t zucht (Rı) Be lSurt lan HUN)
A verwendet We
5 Minorka weiß |Cochinchina | Rı bis 15. IX.1912.*) | 4. XI. 1912—24. V. 1913.
(Dauernd eine, Ziemlich variant, | : (Henne + 24. V. 1913.)
‚u. dieselbe Henne reinweiß bis gelblich- | Stark variant, von gelb-
verwendet.) | , weiß. lichweiß bis hellgelbbraun,
| | Mittelwert erheblich höher
| als Mittelwert von Rı.
Steigerung der Varia-
bilität durch Bastardie-
rung; deutliche Xenio-
dochie bezw. Verstärkung
der Pigmentierung.
6 Cochinchina ı Minorka Rı bis 15. IX. 1912.| Bı 4. XI 1912 —1. RX.
u. dieselbe Henne
und ein und der-
selbe Hahn zur
Bastardierung
verwendet.)
(Dauernd eine |
Wenig variierend,
ı mäßig bis mittel röt-
‚ lieh-gelbbraun.
| bihität
1913.
Stark variierend von satt
rötlich-gelbbraun (z. T. er-
\heblich satter als in Rı)
durch braungelb bis zu
bräunlich-weiß und zwar in
irregulärem Schwanken (1Ei
maximal rotgelbbraun mit
weißen Spritzern an der
Stumpfpolhälfte; 1 Ei am
| Stumpfpole mittelbraun, am
| Spitzpole
bräunlich-weiß).
Steigerung der Varia-
durch Bastardie-
rung, sehr deutliche Xenio-
| dochie bezw. Abschwächung
der Pigmentierung.
Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
Übersicht
und Färbungstelegonie an Hühnereiern.
=
57
Eier bei zweiter Rein-
zucht (Rıı)
Eier bei zweiter Bastard-
|
|
| zucht (Bir)
Eier bei dritter Rein-
zucht (Rııı)
Rır 1. IX. 1913—5. II.
1914.
(Unbefruchtete Eier wäh-
rend Isolierung, da Cochin-
china-Hahn + 24. V. 1913.)
Gleichmäßig, satt rötlich-
gelbbraun wie Max. Ex-
treme unter Bı, erheblich |
satter als Rr. Vor dieser
Legeperiode sehr lange
Pause:
1. IX. 1913—20. I. 1914.
Aufhören des Variierens
bei Aufgeben der Bastard-
zucht, keine Telegonie (aller-
dings große Pause!)
Bır ab 5. II. 1914.
Neuerlich starkes Vari-
‚ieren, ähnlich wie in Br
von satt rötlich-gelbbraun
‚ bis weißlich-gelb bezw. grau-
gelb.» Min. Extrem in Bıı
nicht so licht wie in Br.
'rotgelbbraun mit weißen
Punkten auf der ganzen
mit braunen Punkten in
der Spitzpolhälfte; 1 Ei
mittelgelbbraun am Spitz-
pol, bräunlichweiß am
Stumpfpol.)
Steigerung der Varia-
‚bilität durch Bastardie-
rung, doch mit etwas ge-
ringerem Spielraum als in
Br. Sehr deutliche Xenio-
ı dochie bezw. Abschwächung
der Pigmentierung.
— (1 Ei gleichmäßig satt |
Oberfläche; 1 Ei weißgelb |
*) Anm. Über die von
Nachkommen aus dieser Ba-
stardierung(Q und Z'F, [Mi-
norka 2 X Cochinchina |)
erzeugten Eier siehe unter
Prot. Nr. 2. — Eine Henne
einer anderen Spezialform
der Rasse Minorka weiß
(als Minorka „neu“ bezeich-
net) legte bei Reinzucht
rein weiße Eier, bei Bastar-
dierung zuerst mit einem
atypischen, dann mit einem
typischen Hybriden %' F,
[Cochinchina 2 X Minorka
weiß „alt“ gJ'] im allge-
meinen rein weiße, nur ver-
einzelt gelbliche Eier, was
einer gelegentlichen Xenio-
dochie entspricht.
58 Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
Bı oder Bır erfolgten Abänderung die Tendenz zu einer gegensätz-
lichen Veränderung während der folgenden Reinzucht Rır oder Rın
hervor. Andererseits wäre es sehr sonderbar, wenn eine spontane
Altersveränderung bei den weißeiigen Rassen in einer Zunahme der
Pigmentierung, bei den brauneugen Rassen gerade umgekehrt in
einer Abnahme der Pigmentierung gelegen wäre. Endlich schließt
der zweifellose Einfluss, den die Bastardierung gleichzeitig auf den
Spielraum der Eifarbenvariation besitzt, eine solche Annahme
völlig aus.
An der Möglichkeit bei Auswahl geeigneter Rassen und
Individuen und beı geeigneter Rassenkombination und
Verbindungsweise zweifellose Eischalenxenien zu pro-
duzieren, ist demnach für Rassenkreuzungen in der
Formengruppe „Haushuhn“ ebensowenig zu zweifeln als
für die früher mitgeteilten Artbastardierungen ın der
Familie der Fringilliden. Im Gegensatze zur Veränderung: der
Hühnereifarbe durch Bastardierung wurde eine solche der Größe
und der Form nicht beobachtet (in Bestätigung des Befundes von
A. Walther). Ich gelange somit zu einer Erhärtung meiner
früheren Angaben und zu einer Bestätigung der Beobachtungen von
W. v. Nathusius, Kutter und P. Holdefleiß. Die ersteren
beiden Autoren konstatierten, wie oben erwähnt, eine Zunahme
der Pigmentierung bei der Bastardierung weißeiig (Ital. Rebhuhn?)
9 X brauneiig (Cochinchina) 5, der letztgenannte Beobachter eine
Abnahme der Pigmentierung bei der umgekehrten Verbindung braun-
eiig (Plymouth Rock) 9 X. weißeiig (Ital. Rebhuhnfarben) J..
Als interessantes Datum muss die Erscheinung hervorgehoben
werden, dass Bastardierung wenigstens in bestimmten Fällen,
die Variabilität der Eifarbe in deutlichem Ausmaße er-
höht. Es wurde dies speziell in den Fällen Prot. Nr. 2, 3, 4, 5, 6
konstatiert und durch die Feststellung einer Minderung der Varia-
bilität nach Aufgeben der Bastardzucht (Br), also bei nachfolgender
Reinzucht erhärtet.
Diese Folge der Bastardierung weist m. E. darauf hin, dass
durch die Imprägnation mit fremdrassigem Sperma die Pigment-
sekretionsstätten in einen geänderten Reaktions- bezw. Tätigkeits-
zustand versetzt werden, welcher bald zu einer sogar verstärkten
Ausprägung des Rassencharakters an Eipigmentierung, bald zu einer
Minderung derselben in der Richtung der bastardierenden Vater-
rasse führt. Man kann geradezu von einer Gleichgewichtserschütte-
rung sprechen, von einem Versetzen in Oszillation unter Verschie-
bung der Mittellage nach der väterlichen Seite hin, von. einer Art
Wettstreit zwischen Rassencharakter und Fremdcharakter, wobei
bald der eine, bald der andere siegt und der Rassencharakter ge-
legentlich sogar stärker zum Ausdrucke kommt als zuvor bei Rein-
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 50
zucht. Ausdruck eines Wettstreites der beiden gegensätzlichen
Faktoren ist auch die mitunter beobachtete ungleichmäßige Fär-
bung der beiden Eipole bezw. Eihälften (vgl. Prot. Nr. 4Bı sowie
Nr. 6Bı und Br).
Bezüglich des Verhaltens der Xeniodochie bei wieder-
holtem Wechsel von Reinzucht und Bastardzucht sei be-
merkt, dass der verfärbende Einfluss der Bastardierung immer
schwächer auszufallen scheint. So war derselbe beı Fall 2 ın
Bir‘, noch mehr ın Bım weit geringer als in Bı; auch bei Fall 3
war die Wirkung ın Bır, noch mehr in Bim‘ geringer als in Bı.
Es scheint der pigmentbildende Anteil des Sexualapparates wieder-
holt gegensätzlich beeinflusster Hennen überhaupt minder reaktions-
fähig zu werden, gewissermaßen an Plastizität seiner Funktion zu
verlieren und mehr oder weniger ın einer Mittellage zu erstarren
(vgl. das über Telegonie bei wiederholtem Zuchtwechsel zu Be-
merkende).
Mit der vorstehenden Darstellung ıst allerdings die oben nur
als Möglichkeit erwähnte Vorstellung einer extraovalen Xenien-
reaktion als gesichert vorweggenommen. Die Berechtigung wird
sich jedoch aus den nachstehenden Ausführungen über Telegonie
ergeben.
II. Bezüglich Nachdauer der durch Bastardierung
erfolgten Verfärbung (Telegonie).
In bestimmten Fällen ließ sich eine gewisse Nachdauer
der durch Bastardierung bewirkten Veränderung der
Schalenfarbe während der nachfolgenden Reinzucht er-
kennen. Eine sölche Telegonie wurde zwar bei Fall 1 und 6 (bei
Fall 5 fehlt Rır) vermisst, auch war bei Fall 4 infolge relativ großer
Variabilität keine Aussage möglich — doch war bei Fall 3 ın Rıı
die Nachwirkung sehr deutlich (in Rıı minder deutlich), ebenso bei
Fall 2 ın Rır unverkennbar. In Fall 3 bestand der telegone Effekt
in einer nachdauernden Verstärkung, in Fall 2 in einer nach-
dauernden Minderung der Pigmentierung und Farbentonänderung
ins Rötliche. In Fall 3 erfolgte ein allmähliches Abklingen, ohne
dass nach siebenmonatlicher Reinzucht (Rır) die ursprüngliche Eı-
farbe (von Rı) erreicht worden wäre. Auch ın Fall 2 war die
Veränderung nach der gleichen Zeit noch merklich. Beide einmal
(dann neuerdings) bastardierten Hennen blieben in ihrer Pigment-
produktion alteriert, sozusagen aus der durch Rı bezeichneten
typischen Lage abgelenkt. Vom züchterischen Standpunkte sind
die benützten Hennen, d. h. die Italiener Rebhuhn-Henne als
durch Bastardierung mit einem Plymouth Rock-Hahn, ebenso
die Langshan-Henne als durch Bastardierung mit einem Italiener
Weiß-Hahn nachhaltig „verdorben“ zu bezeichnen, da die
60 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
erstere Henne atypischerweise statt weißer oder ganz schwach
gelblichweißer Eier solche mit deutlich gelblicher, mitunter sehr
deutlich gelblicher Schale legt — die Langshan-Henne statt satt-
brauner nur weißbraune Eier produziert.
Andererseits vermochte neuerliche Bastardierung auch aus der
telegonen Ablenkungslage heraus — neben neuerlicher Steigerung
der Variabilität — eine neuerliche Ablenkung nach der Richtung
der bastardierenden Vaterrasse hin zu bewirken: eine solche neuer-
liche Xeniodochie von telegoner Lage aus wurde in Fall 2 (Bır
und Bım) und in Fall 3 (Bır und Bu‘) festgestellt. Im ersteren
Falle erfolgte sie ım Sinne weiterer Abschwächung, im anderen
Falle im Sinne weiterer Verstärkung der Pigmentierung.
Bei wiederholtem Wechsel von Bastardzucht und Reinzucht
scheint die Telegonie — ebenso wie dies oben von der Xenio-
dochie bei wiederholtem Wechsel von Reinzucht und Bastardzucht
bemerkt wurde — abzunehmen (so bei Fall 3 in Rım gegenüber Rın),
ohne dass — wenigstens in der bisherigen Beobachtungsdauer —
die Ausgangslage (Rr) wieder erreicht wurde. Auch die Steigerung
der Variabilität durch Bastardierung scheint, trotz sichtlicher Ab-
nahme infolge neuerlicher Reinzucht (Rır bezw. Rır), in gewissem
Grade nachzudauern (vgl. Fall 3).
Die nächste Versuchsreihe soll die bisher gemachten Fest-
stellungen an einer größeren Anzahl von Hennen der Italiener Reb-
huhn- und der Langshan-Rasse nachprüfen?).
Schon durch die abgeschlossene erste Beobachtungsreihe glaube
ich den ersten stichhaltigen Beweis (von der nur gelegent-
lichen Angabe Kutter’s |1878] abgesehen) erbracht zu haben für
das Vorkommen von Eischalentelegonie, bezw. Nachdauer
der bastardiven, xeniodochischen Verfärbung an Hühnereiern. Ein
genauer Systematiker mag ja diese Art von Xeniodochie nur als
eine Pseudoform bezeichnen, weil sie nur die Eihüllen, nicht weiter
abliegende mütterliche Teile betreffe. Allerdings sind Fälle von
korrespondierender Abänderung solcher Art, also „echte“ Xenien
— ebenso Fälle von „echter“ Telegonie, welche oogene Teile bezw. den
Embryo selbst betreffen würde, — überhaupt nicht mit irgendwelcher
Zuverlässigkeit beobachtet und zwar weder bei Pflanzen noch bei
Tieren. Auf die diesbezüglichen Literaturangaben sei hier nicht
weiter eingegangen. Nur sei nachdrücklich betont, dass mit der
Feststellung einer Färbungstelegonie der Hühnereischale ın gewissen
Fällen meinerseits keineswegs die Möglichkeit oder Wahrscheinlich-
3) Ich beabsichtige dann deren Ergebnisse in Zusammenhang mit jenen der
ersten Versuchsserie ausführlicher darzustellen unter gleichzeitiger Anführung kolori-
metrischer Angaben über die Färbungsgrade. Das bisher gewonnene Material wurde
als ziemlich umfangreiche Sammlung konserviert, soweit es nicht zur Nachzucht
Verwendung fand.
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 61
keit einer „echten“ Embryotelegonie behauptet wird. Vielmehr
sind die festgestellten Erscheinungen des ersteren Gebietes prinzipiell
ganz anders zu beurteilen als die angeblichen Phänomene des letz-
teren Gebietes. Der Nachweis des Vorkommens einer chromatischen
Eihüllentelegonie gestattet überhaupt keinerlei Schluss zugunsten
der Annahme einer Embryotelegonie.
Der Nachweis des Vorkommens von chromatischer Eischalen-
telegonie entscheidet, wenigstens mit höchster Wahrscheinlichkeit,
die eingangs erörterte Alternative: intraovale oder extraovale Natur
der Xenienreaktion im letzteren Sinne. Mit der Möglichkeit einer
extraovalen Xenienreaktion hatte ich schon beim erstmaligen
Nachweise von chromatischen Eischalenxenien an Fringillidenarten
gerechnet. ‚Jedoch musste diese Eventualität damals noch als gleich-
wertig mit der entgegenstehenden Möglichkeit einer intraovalen
Xenienreaktion behandelt werden. Ich gelange demnach auf Grund
des Nachweises, dass bastardıve Verfärbung der Hühnereischale bei
neuerlicher Reinzucht nachdauern kann, dass ferner Bastardierung
die individuelle Variabilität der Pigmentproduktion steigert, dazu,
eine charakteristische Beeinflussung des weiblichen Genitaltraktes
durch gewisse Bestandteile des rasse- oder artfremden Spermas
(eventuell auch des art- und rassegleichen, bloß individual- oder
körperfremden) anzunehmen. Diese Beeinflussung hat die Tendenz,
den noch nicht genau bekannten Ort und Modus der Pigment-
produktion nach der durch die bastardierende Vaterart bezeichneten
Richtung hin abzuändern. Diese Einflussnahme zielt also ab auf
eine korrespondierende, patrokline Umstimmung des die
Eischalenproduktion, speziell die Eischalenpigmentierung besorgenden
Anteiles des weiblichen Genitalapparates. Nach dieser Auf-
fassung erfolgt — im Prinzip unabhängig von der Befruchtung der
Eizelle — irgendeine Imprägnation auch der bleibenden Anteile
des mütterlichen Fortpflanzungsapparates *). Es kommt dabei, wenig-
stens in gewissen Fällen, zu einem deutlichen Wettstreit der ur-
sprünglichen, mütterlichen bezw. rasse- oder artgemäßen Disposition
oder Tätigkeit des Pigmentierungsapparates und dem intoxikativen,
rasse- oder artfremden Faktor. Dieser Wettstreit äußert sich spe-
ziell in einem Wechsel zwischen Verstärkung der rassegemäßen
Pigmentproduktion und rassefremder Minderung derselben — ein
Wechsel, welcher an einem und demselben Ei merklich sein kann.
Dieser Wettstreit hat einen ähnlichen Charakter wie jener, welcher
bei gewissen Intoxikationen oder Infektionen zu beobachten ist
4) In solchen Fällen könnte man geradezu von einer „Genitaltrakt-Befruch-
tung“ sprechen und diese in eine gewisse Analogie zum sogen. vegetativen Befruch-
tungseffekt am pflanzlichen Fruchtknoten setzen — ein Effekt, der gleichfalls im
Prinzip unabhängig ist von der Befruchtung der Eizelle selbst (vgl. E. v. Tsehermak,).
62 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
zwischen einer erzwungenen abnormen Tätigkeit und der eventuell
reaktiv verstärkten normalen Tätigkeit desselben Organs.
Über den Ort, die Art und die Vermittlungsstoffe dieser Ein-
flussnahme ist heute noch keine spezielle Aussage möglich. Ist
doch beim Vogel auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass das
Ovarıum das Pigment bezw. eine Vorstufe des Pigments für die
Eischale liefert oder wenigstens irgendwie an der Pigmentbildung
mitwirkt (Wiekmann 1893). Ob dabei ein direktes Eindringen
von Spermatiden ın mütterliches Gewebe, speziell in die Schleim-
haut des Eileiters, beim Vogel speziell in das Ovarialgewebe oder
in die Kalkdrüse des sogen. Uterus in Betracht“ kommt, bleibe
dahingestellt. Eine solehe Immigration oder Infektion’ der Mucosa-
drüsengänge, der Mucosazellen und des submucösen' Bindegewebes
ist bekanntlich von Kohlbrugge (1912) sowohl für das Haus-
huhn als auch für Maus und Kaninchen angegeben, von anderer
Seite jedoch bestritten worden. Sicher ist mit der Möglichkeit
eines Eindringens des fremdrassigen oder fremdartigen Sperma-
eiweiß ın gelöster Form und zwar mit einem Eindringen in die
Uteruswand, speziell in die Elemente der Kalkdrüse, aber auch ın
das Ovarialgewebe, weiterhin in die Blutbahn zu rechnen. So konnten
Waldstein und Ekler (1913) das Auftreten spezifischer Abwehr-
fermente im Sinne von Abderhalden gegen rasse- oder art-
gleiches, nur individual- oder körperfremdes Spermaeiweiß ım Blute
weiblicher Tiere nachweisen, welche vorher belegt worden waren.
Die Vorstellung, dass gewisse Stoffe des Spermas eine intoxikative
Umstimmung an den die Eischalenpigmentierung besorgenden An-
teilen des weiblichen Genitalapparates bewirken, kann sich also be-
reits auf eine Anzahl von Beobachtungen stützen, welche von ganz
verschiedenen Gesichtspunkten aus unternommen wurden. Über den
Träger der sozusagen toxischen Stoffe, sowie über deren Natur,
dürften Versuche Aufklärung bringen, in denen Xenienwirkung an-
gestrebt werden soll durch Einbringung von Spermatiden gleicher
Art neben fremdartigem bezw. fremdrassigem Sperma, dessen Sperma-
tıden entfernt oder sei es mechanisch, sei es aktinisch, durch ultra-
violette oder durch Radıumstrahlungen, zerstört worden sind (von
mir bereits 1912 geplant), oder neben Stoffen, die man aus dem
fremdartigen bezw. fremdrassigen Sperma isoliert hat.
(sewiss wird diese Vorstellung sowie die damit eröffnete weitere
Perspektive, dass die Resorption gewisse Spermabestandteile, spe-
zıell bei Rassen- oder Artverschiedenheit, aber vielleicht auch beı
Rassen- oder Artgleichheit, also bloßer sexualer Typenverschieden-
heit, eine Intoxikation des weiblichen Organismus und eine spezi-
fische, ja korrespondierende Beeinflussung gewisser Funktionen des-
selben hervorzurufen vermag, manchem etwas zu kompliziert und
zu kühn erscheinen. Doch führen die mitgeteilten Beobachtungen
Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 63
fe) g )
über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung und über
Nachdauer dieser Verfärbung ungezwungen zu jener Annahme, die
sich bereits als Arbeitshypothese bewährt hat. Weitere Beobach-
tungen werden über deren Zuverlässigkeit zu entscheiden haben.
Zitierte Literatur,
Curtis, Maynie R., A Biometrical Study of Egg-Production in the Domestic Fowl.
IV. Factors influeneing the size, shape and physical constitution of eggs.
Arch. f. Entw.-Mech. Bd. 39, S. 217—327, 1914.
Holdefleiß, F., Versuche über Xenienbildung und Vererbungsgesetze bei der
Kreuzung von Hühnern. Ber. a. d. physiol. Labor. und der Versuchsanstalt
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— Über Veränderung der Form, Farbe und Zeichnung von Kanarieneiern durch
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Glanz und Farbe der Hühnereier. Landw. Jahrb. Bd. 46, S. S9—104, 1914,
’
64 Fruhwirth, Die Pflanzen der Feldwirtschaft.
C. Fruwirth. Die Pflanzen der Feldwirtschaft.
Gr. 8. VIII und 160 Seiten, mit 4 farbigen und 3 schwarzen Tafeln, 85 Abbild.
im Text. Stuttgart 1913. Franck’sche Buchhandlung.
Das im Rahmen eines populären Werkes (Die Pflanzen und
der Mensch) als 2. Band erschienene Werk behandelt die für den
Menschen wichtigsten Pflanzen der Feldwirtschaft. Nach einer
kurzen geschichtlichen Übersicht über Ursprung und Wanderung
der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen werden in einem zweiten
Abschnitt die Getreide, die Hülsenfrüchte, die Hackfrüchte, die
Handels- und die Futterpflanzen eingehend besprochen. In einem
dritten Abschnitt wird erörtert, wie neue Formenkreise bei Kultur-
pflanzen entstehen. Im vierten Abschnitt bespricht Verf. den Wert
dieser Pflanzen für die Privat- und Weltwirtschaft. Ein Anhang
endlich erörtert die Technik der landwirtschaftlichen Pflanzenkultur.
RP.
Remo Grandori. Risultati dei nuovi Studi Italiani
sulla Filossera della Vite.
Kl. Ss. XV und 256 Seiten. Mit 17 Tafeln und 1 Fig. im Text. Mailand 1914,
Ulrico Hoepli.
In Frankreich, wo die Verheerungen durch die von Amerika
auf unbekanntem Wege eingeschleppten Phyloxera sich zuerst in
erschreckendem Maße gezeigt hatten, waren schon zahlreiche Beob-
achtungen über die Lebensgewohnheiten des Insektes angestellt
worden, ohne jedoch alle Unsicherheit zu beseitigen. In Italien
sind auf Anregung des Ministeriums der Landwirtschaft eingehende
Studien über die Biologie der Phyloxera angestellt worden, durch
Grassi und seine Schüler, deren Ergebnisse im Jahre 1912 ver-
öffentlicht worden sind. Im vorliegenden Bändchen gibt der Verf.,
einer der Mitarbeiter Grassi’s, eine gedrängte Übersicht jener
Studien in der Hoffnung, dass sie allen, welche an denselben ein
Interesse haben, von Nutzen sein werde. P.
anstalt für Wasserhygiene in bDerlin-Dahlem, Post: Berlin-
Lichterfelde 3, Ehrenbergstrafse 38, 40, 42.
Die Königliche Landesanstalt für Wasserhygiene hat mit der
Abgabe von Nährgelatine, die für die Zwecke der bakteriologischen Wasser-
untersuchung bestimmt ist, begonnen. Der Preis für je ein Reagensgläschen mit
10 cem Nährgelatine (ausschließlich Verpackung) ist, den Selbstkosten der An-
stalt entsprechend, auf 18 Pfg. festgesetzt.
Eine Abgabe unter 10 Stück kann nur in Ausnahmefällen stattfinden; für
größere Aufträge muß sich die Landesanstalt eine Lieferzeit von etwa 8 Tagen
vorbehalten.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr. K. Goebel und Dr.'R: Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
ss von Georg Thieme in Leipzig.
en Nase für 12 Hefte Bakazı >0 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13,
einsenden zu wollen.
Ba. xXXXY. 20. Februar N: R.
Inhalt: Ann Die Überwintering von Form mica picea Bar andere ash Beobachtungen. —_
Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen aus der Lacerta muralis- Gruppe. —
IE ochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. — Kohlbrugge, War
Darwin ein originelles Genie? — Abderhalden, Abwehrfermente,
Die Überwinterung von Formica picea und andere
biologische Beobachtungen.
Von W. Bönner S. J. (Charlottenlund, Dänemark).
(Mit einer Tafel.)
Die Woche nach Neujahr 1914 brachte zum ersten Male starken
Frost ohne vorausgehenden Schneefall. Es war mir somit Gelegen-
heit gegeben, die geplanten!) Untersuchungen betreffs der Über-
winterung von Formica picea ın Angriff zu nehmen. Wenn diese
Ameise überhaupt das Moor im Winter verließ, musste sie jetzt
ausgewandert sein, überwinterte sie aber im Moor, so bot die ge-
frorene Sphagnumdecke die einzige Möglichkeit, in dieser Jahres-
zeit zu ihr vorzudringen.
Am 10. Januar begann ich meine Untersuchungen. Es herrschte
7°C Kälte. Nachts sank die Temperatur bis — 10°C. Auf den
Straßen lag noch hier und da festgetretener Schnee vom Dezember;
das Moor aber war schneefrei und die picea-Nester also leicht zu finden.
Bevor ich die einzelnen Nester untersuchte, stellte ich fest,
dass die Sphagnumdecke 12—15 cm tief gefroren war. Der Wasser-
spiegel lag 17—20 cm tief. Die Demmereiln innerhalb des gefrorenen
Sphagnums war Null. Die unmittelbar darunter esancı: unge-
l) Siehe Formica fusca pieea, eine Moorameise. Biol. Centralbl., Heft 1, 1914.
XXXV. 5
66 Bönner, Die Überwinterung von Formica pricea etc.
frorene Schicht sowie das Wasser zeigten + 2°C. Damit stimmen
die Messungen J. Steenstrup’s?) überein, der mehrmals die Tem-
peraturen unterhalb gefrorener Moorschichten gemessen hat und
sie niemals unter + 2° © fand.
Ich suchte die Ameisen zuerst ın der erwähnten ungefrorenen
Moorschicht zwischen dem Wasserspiegel und der gefrorenen
Sphagnumdecke. Die Untersuchung war leicht; ich brauchte die
Nester nur ringsum loszuschneiden und abzuheben; aber ich suchte
vergebens. Ich begann nun eines der größeren Nester freizulegen
und seiner ganzen Ausdehnung nach in schmale Scheiben auseinander
zu schneiden, die ich dann einzeln nach Ameisen und anderen In-
sekten untersuchte. In einem der mittleren Gänge des ge-
frorenen Nestes traf ich auf Ameisen (s. Fig. 1). Ungefähr
100 Arbeiterinnen saßen dicht gedrängt um 2 Königinnen. Alle
Wände des Ganges wie des ganzen Nestes waren weiß
von auskristallisierten Eisnadeln und so hart, dass sie
wie Glas zersplitterten. An den Ameisen waren die Exkre-
mente und andere Eispartikel festgefroren. Die Bewohner des
Nestes blieben trotz der Erhellung und obgleich ich die Nestteile
eine Stunde weit transportierte, um sie zu Hause zu photographieren,
an der gleichen Stelle sitzen. Sie waren aber keineswegs steif ge-
froren oder auch nur erstarrt, sondern geschmeidig wie gewöhnlich.
Nicht selten bewegten sie Beine oder Fühler. Im warmen Zimmer
erholten sie sich nach einigen Stunden völlig und kletterten mit
gewohnter Lebhaftigkeit im Beobachtungsnest umher. Im Moor
untersuchte ich noch eine Anzahl Nester; in allen, die eine voll-
ständige Durchsuchung gestatteten, fand ich die Ameisen in einem
der Gänge eingefroren. Meist saßen sie etwas unterhalb oder in
der Mitte des Nestes. Sie waren also bei der allmählich ein-
dringenden Kälte nicht einmal in die tiefer liegenden Moorschichten,
von denen die unterste sogar noch ungefroren war und +2° C
zeigte, hinabgestiegen. Bei einigen besonders großen und alten
Nestern war das Baumaterial so zusammengefroren, dass es mir
mit dem Werkzeug, das ich bei mir führte, unmöglich war, die
Masse zu zertrümmern. Nur in solchen Nestern fand ich die
Ameisen nicht.
Die Widerstandsfähigkeit von Formica picea gegenüber der
Kälte erfährt eine interessante Erläuterung durch eine Beobachtung,
die mein Freund J. Wolfisberg(Kopenhagen) machte. Er hatte ein
Beobachtungsnest der Moorameise nach der von mir angegebenen Art
und Weise eingerichtet und im Dachgarten seiner Wohnung frei aufge-
stellt. Unverhofft eintretende Kälte ließ das ganze Nest zu einem
Eisklumpen zusammenfrieren, der durch seine Ausdehnung das Glas
2) Amtl. Bericht d. 24. Versammlung deutsch. Naturf. und Ärzte in Kiel
1846, p. 135.
Bönner, Die Überwinterung von Formica pieca ete. 67
zertrümmerte. Er hielt das Nest für vernichtet und hieß es an Ort
und Stelle liegen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Wie staunte
er, als er nach einigen Wochen den aufgetauten Sphagnumklumpen
in die Hand nahm und die Ameisen noch munter und unbeschädigt
vorfand. Leider wissen wir nicht, wie die Ameisen sich in diesem
Fall während des Frostes verhalten haben, aber es scheint mir nicht
ausgeschlossen, dass Formica picea, wie es von anderen Tieren be-
kannt ist, ein völliges Hartfrieren und Wiederauftauen überleben
kann. Der Temperaturwechsel muss nur langsam vor sich gehen,
wie es Ja unter den natürlichen Umständen auch der Fall ıst. Das
Wasser findet dann Zeit, aus den Geweben auszukristallisieren
bezw. wieder ın sie einzudringen, ohne sie zu zerstören. Selbst-
verständlich dürfen die Ameisen ebensowenig wie die Tiere, bei
denen man ein schadloses Hartfrieren nachgewiesen hat, völlig vom
Wasser umgeben sein, da sonst der Druck, der durch dıe Gefrier-
ausdehnung des Eises entsteht, den Organısmus zermalmt. Künst-
liche Einfrierungsversuche, die ıch anstellte, blieben alle erfolglos;
teils, weil es recht schwierig ist, eine genügend langsame Tempe-
raturerniedrigung künstlich herzustellen, teils weil es nicht ausge-
schlossen ıst, dass die Ameisen durch die benutzten Kältemischungen
(Kohlensäure oder Äther) Schaden gelitten hatten.
Im Anschluss daran möchte ich auf einige in botanischen Ar-
beiten niedergelegte Beobachtungen über die Überwinterung von
Ameisen hinweisen, auf die mich Prof. Eug. Warming aufmerk-
sam machte. In den Salzmarschen der Nord- und Ostseeküsten
findet man eine auffällig große Anzahl Ameisenhaufen, die wegen
ihrer eigentümlichen Vegetation seit langem das Interesse der
Botaniker auf sich gezogen haben. Über den Einfluss, den die
Ameisen hier auf die Zusammensetzung der Flora ausüben, möchte
ich im Zusammenhang an anderer Stelle berichten. An dieser Stelle
solluns nur das Überwinterungs- oder genauer das Überschwemmungs-
problenı dieser Ameisen beschäftigen, mit um so mehr Grund, als
das UÜberschwemmungsproblem auch für Formica picea von Be-
deutung ist, wie wir später sehen werden.
Die Entstehung der Salzmarschen als eine Ablagerung des
Meeresschlammes zur Zeit der Flut bedingt ihre geringe Höhe über
dem Meeresspiegel. Die Folge davon ist, dass die Salzmarschen
im Herbst und Frühling teilweise oder ganz für kürzere oder längere
Zeit unter Wasser stehen. Oft ragen dann die 30—40 em hohen
Haufen von Lasius flaruıs und Myrmica ruginodis mit ihrem obersten
Teil über die Wasserfläche heraus, und hier oben hausen dann die
Ameisen; oft aber steht auch der ganze Haufen unter Wasser, und
dann leben die Ameisen in der Tiefe des Baues. Die Überschwem-
mung der Ameisen ist auf Fanö von Warming°), auf Langeoog
3) Dansk Planteväkst, Bd. 1, p- 254. Dort findet man auch die übrige Literatur.
ı)
65 Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc.
von Buchenau, auf Amager von E. H. Ostenfeld und mir be-
obachtet worden. Die Ameisen werden von den Fluten nicht ge-
tötet. Diese Tatsache ıst in jedem Falle merkwürdig. Die Be-
wohner von Langeoog erzählten Buchenau®), die gelben Ameisen
(Lasius flarus) konstruierten ım Herbst eine etwa eigroße und sehr
harte Hülle, in der sie den Winter überdauerten. Diese Hülle seı
wasserdicht und bewahre die Tiere vor Berührung mit dem See-
wasser. Buchenau bat ım November 1874 einen Bewohner von
Langeoog um Zusendung einiger solcher Gebilde. Er erhielt nur
das Stück eines Ameisennestes, aber absolut nichts, was einer Hülle,
einem Gespinst oder dergl. entsprochen hätte. Die erdige Sand-
masse, die man ihm zusandte, war von zahlreichen Gängen durch-
setzt, in denen einige Ameisen umherliefen. In der Mitte befanden
sich Höhlungen, ın welchen die Ameisen massenhaft beisammen
waren; auch diese Tiere waren munter. Einige Höhlungen waren
mit Puppen sehr verschiedener Entwickelungsstadien angefüllt.
Soviel Buchenau’s Mitteilungen. Genaueres kann ich leider auch
nicht angeben; ich wollte nur auf diese zerstreuten Beobachtungen
hinweisen und kehre zu Formica picea zurück.
Die gefrorenen Sphagnumnester ließen einen klaren Einblick
in ihre Bauart gewinnen. Die weiße Sphagnumkuppel, die ich
früher als Sonnendach bezeichnete, ıst äußerst leicht gebaut und
hat kaum die Dicke eines Löschpapiers. Sie ist trocken, luftgefüllt
und deshalb weiß; ıhr Zweck ist offenbar, vor direktem Sonnen-
licht zu schützen und doch eine völlige Durchwärmung der obersten
Nestkammer zu ermöglichen. Gegen direkte Bestrahlung ist pice«
sehr empfindlich: und zwar sınd es die Wärmestrahlen, die sie ge-
nieren, wie aus folgendem Versuch hervorgeht. Ein kleines Be-
obachtungsnest, das 2 Königinnen und ein Dutzend Arbeiterinnen
enthielt, wurde ca. 20cm unter den Kohlenspitzen einer elektrischen
Bogenlampe von 500 Kerzen Lichtstärke aufgestellt, deren Strahlen
noch durch eine Sammellinse konzentriert wurden. Bei Schluss des
Lichtkreises musste das Lichtbündel unmittelbar auf die Ameisen-
gruppe fallen ohne dass sie durch die geringste Erschütterung ge-
stört worden wäre. Ich konnte somit die ausschließliche Wirkung
der Belichtung studieren. Obgleich das Licht nach dem Ein-
schalten mit blendender Fülle die Ameisen überflutete, so dass
eine Beobachtung ohne Schutzbrille kaum möglich war, zeigten
diese auch nicht mit dem geringsten Fühlerzucken eine Wahrneh-
mung desLichtes; es war als ob sie blind wären. Nach 20—30 Se-
kunden wurden die Fühlerbewegungen lebhafter zum Zeichen einer
behaglichen Stimmung; nach 40 Sekunden wurden die Bewegungen
unruhiger und hastiger und nach 50-60 Sekunden seit Einschalten
des Strömes verließen alle ın eiliger Flucht, dıe Königinnen voran,
4) Abh. Naturw. Vereins Bremen IV, p. 215, Nachtrag p. 276.
Bönner, Die UÜberwinterung von Formica pieeq etc. 69
den Lichtkreis. In den unbeleuchteten Nestteilen angelangt, waren
sie bald wieder ruhig; einzelne, die sich beim Umherlaufen dem
Lichtkreis näherten, fuhren plötzlich gleichsam von Schmerz durch-
zuckt zurück, wenn sie mit einem Körperteil in den Lichtkreis ge-
raten waren. Eine Anzahl, die nicht aus dem Lichtkreis entfliehen
konnten, lagen bald mit zitternden Gliedmaßen verendend am Boden.
Die Temperatur innerhalb des Lichtkreises war gegen Ende des
Versuches auf 37° © gestiegen; die Flucht der Ameisen fand bei
26—28°C statt. Bei einem weiteren Versuch, der den natürlichen
Bedingungen besser entsprach, ließ ich das Licht aus ca. 15 cm Ent-
fernung direkt auf die Sphagnumdecke eines Beobachtungsnestes
fallen. Obgleich die Wärmewirkung das im Torf enthaltene Wasser
zum Verdampfen brachte, wurden die Ameisen, die wenige Zenti-
menter tiefer hausten, kaum gestört. Eine Anzahl Exemplare, die
oben auf dem Sphagnum herumliefen, verhielten sich gegenüber
der direkten Wärme ebenso, wie die Ameisen des ersten Versuches:
sobald sie in den Lichtkreis gerieten, stürzten sie auf demselben
Wege, auf dem sie hineingekommen waren, wieder hinaus. Im
natürlichen Nest schützt das Sonnendach vor den direkten Wärme-
strahlen; die Temperatur wird aber selbst in der obersten Kammer
nicht unerträglich werden, da ja schon der Boden und die Wände
dieser obersten Etage mit Wasser getränkt sind, das durch seine
Verdunstung die Temperatur herabsetzt und durch die bekannte
Kapillarwirkung des Sphagnumtorfes immer wieder ersetzt wird.
Das Endresultat ıst also jene den Ameisen überaus angenehme
feucht-warme Treibhausluft. So weit über die Nestkuppel.
Die übrigen Wandungen des Nestes (s. Fig. 2 und 3) sind
2—5 mm dick und bilden ein System von ziemlich deutlich etagen-
förmig angeordneten Gängen. Nur in den unteren Partien findet
man zuweilen größere Kammern. Als Stütze des Baues dienen
vor allem die ungemein festen Oxycoccusstengel. Schon bei den
Untersuchungen des Moores im vorigen Sommer war mir die
Festigkeit besonders älterer Bauten aufgefallen. Sie sind bedeutend
stärker als die umgebende Sphagnumdecke. Die kleinen Moos-
partikel sind so eng zusammengepackt, dass das aus ihnen be-
stehende Baumaterial härter und solider wird als der gepresste
Torf, den man als Belag von Insektenkasten verwendet. Die Nester
scheinen mir vielmehr ın das lebende Sphagnum hineingebaut als
aus ıhm herausgegraben zu sein, in dem Sinne, dass die Ameisen
Nestmaterial zum Bau zusammentragen und nicht aus ihm heraus-
tragen. Auf das Hineintragen grüner Sphagnumspitzen werde ich
später noch zu sprechen kommen. Nach Adlerz ®) sind die Nester
5) Arkiv för Zoologi v. 8, p. 1, 1914. Formica fusca-picea Nyl., en torf-
mossarnas myra. Diese Abhandlung ist auch an den übrigen Stellen gemeint, wenn
nichts Besonderes angegeben ist.
70 Bönner, Die Uberwinterung von Formiea picea ete.
ausgegraben und das ausgegrabene Material zum Bau der Nest-
kuppel verwandt worden. Jedoch übersteigt die Sphagnummasse,
die innerhalb eines Nestes auf einem bestimmten Raum angehäuft
ist, sicherlich die Sphagnummasse, die das Sphagnum selbstätig auf
einem gleichgroßen Raum anhäuft. Dieser Unterschied ist wohl nur
durch die Annahme erklärbar, dass die Ameisen Material zum Bau
oder zu anderen Zwecken herbeitragen. Vielleicht ist es noch am
besten, wenn man sagt, es handle sich weder um ein einfaches Aus-
graben noch ein einfaches Aufbauen, sondern um ein Umbauen
der lockeren Sphagnummasse zu einem festen Nest, wobei kaum
ein Sphagnumblättchen auf seinem ursprünglichen Platz bleibt und
auch neue Moosfragmente herbeigeschafft werden.
Über die Entwickelungsstadien der Nester kann ich folgendes
mitteilen. Mehrmals fand ich Nester an Stellen, wo jede Spur
von einem Kuppelbau fehlte. Diese Nester waren sehr volkarm
und hatten weder Larven noch Puppen. Ich vermute deshalb in
diesen Nestern junge Niederlassungen; ganz unter den gleichen
Umständen fand ich im Moor eine aus einem Dutzend Arbeiterinnen
und einer toten Königin bestehende Myrmica laevinodis-Kolonie.
Wenn die Nester Brut hatten, fand ich sie stets mit einer Kuppel
überwölbt‘®). Durch diesen Bau gehen die Sphagnumpflanzen, so-
weit sie nicht schon von den Ameisen abgebissen sind, zugrunde;
Oxycoceus palustris, Eriophorum vaginatum, Empetrum nigrum
und Calluna vulgaris, die für das Lyngbymoor charakteristisch sind,
wachsen ungestört weiter und geben dem Bau einen Teil seiner
Festigkeit. Indem diese Pflanzen die Kuppel allmählich überwuchern,
entziehen sie sie den Blicken. Die alten, großen Nester werden
deshalb gerade durch das Vorherrschen der genannten Phanero-
gamen verraten.
Formica picea scheint ıhre Wohnung sehr leicht zu verlegen.
Alle Nester, die ich, wenn auch nur ganz oberflächlich, störte, fand
ich stets beim nächsten Besuche verlassen. Dazu stimmt die An-
gabe Sahlberg’s, er habe die gemischte Kolonie sangwuinea-picea
nicht wiederfinden können; sie war wohl ausgewandert. Diese Eigen-
tümlichkeit hängt bei picea vielleicht mit den anspruchslosen
Forderungen zusammen, die sie an einen Wohnort stellt. An jeder
Stelle der Sphagnumdecke findet sie sie vollauf befriedigt, und
mit wenig Arbeit ist das Heim notdürftig hergestellt. Vielleicht
gelten ähnliche Gesichtspunkte auch für andere Ameisen z. B. baut
Tapinoma erraticum, die, wie der Name sagt, sehr häufig wechselt,
ganz kunstlose und oberflächliche Nester in Erdhäufchen oder unter
Steinen, während Lasius fuliginosus, der wohl am schwersten aus
seinem Bau zu vertreiben ist, das kunstvollste Nest unter unseren
einheimischen Ameisen verfertigt. Auch folgende Beobachtung
6) Vgl. die unten angeführten Beobachtungen von Kuhlgatz.
Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc. 1
beweist noch, wie leicht picea auswandert. Eine ganze Anzahl von
Nestern, die ich zu Hause untersucht hatte, wurden mit allem In-
halt an einer feuchten Stelle zwischen Moos und Irisstengeln aus-
geschüttet. Ich setzte noch einige Königinnen zu dem Haufen und
sah dann, wie die Ameisen in den nächsten Tagen ein Nest
einrichteten. Wochenlang konnte ich sie auf den lIrisblättern
herumlaufen sehen. Seitdem ich aber das Nest geöffnet habe, um
zu erfahren, wie sie sich den neuen Verhältnissen angepasst
hatten, sind alle spurlos verschwunden. Es handelte sich um
mehrere tausend Ameisen. In diesem Falle lag aber die nächste
Sumpfgegend wohl einen Kilometer entfernt.
Ich fand die Nester mehrmals gegen den Wasserspiegel hin
durch eine 1—2 em dicke Schicht aus Sphagnumfragmenten ab-
gegrenzt; besonders war das bei alten Nestern der Fall. Nach
Adlerz’ Beobachtungen setzten sich die Gänge des Nestes unter
dem Wasserspiegel fort, ja die Ameisen suchten sogar auf der
Flucht vor dem Verfolger unter dem Wasser ıhr Versteck, wo sie
sich noch festbissen, um nıcht ın die Höhe getrieben zu werden.
Nach einigen Minuten kamen sie dann wieder zum Vorschein und
versteckten sich ın Nestteilen über dem Wasserspiegel. Adlerz
vermutet, es liege hier eine ziemlich weit fortgeschrittene An-
passung an das feuchte Element vor. In dieser Ansicht wurde er
bestärkt durch einige einfache Versuche. Von fünf picea nämlıch,
die er 24 Stunden unter Wasser setzte, bestanden zwei die Wasser-
probe, indem eine völlig gesund, die andere nur mit einem kleinen
Rest von Leben davonkam. Ich wiederholte das Experiment mit
picea. Nach 24 Stunden entnahm ich die Ameisen dem Wasser;
nach weiteren 24 Stunden waren alle wieder zum normalen Leben
zurückgekehrt, so dass ich sie wieder zu ihren Kameraden ins Be-
obachtungsnest setzen konnte. Um zu entscheiden, ob es sich
wirklich um eine Anpassung ans Wasserleben handelt, die Formica
picea eigentümlich ist, machte ich einen Gegenversuch mit Lasius
flavus, die ich aus ihrem Winterquartier ausgrub. Ich ließ ihnen
im warmen Zimmer Zeit, sich etwas zu erholen und unterwarf dann
ebenfalls fünf Exemplare dem Versuch. Nach 10 Stunden Aufent-
halt unter Wasser entnahm ich zwei dem Gefäß; 3 Stunden später
waren sie wieder völlig munter. Die drei übrigen blieben 20 Stunden
unter Wasser, wo ein Sieb den Auftrieb verhinderte. Abends be-
befreite ich sie aus ihrem feuchten Gefängnis; am folgenden Morgen
liefen auch sie umher ohne ein Zeichen irgendwelcher Beschädigung.
Einen Tag später fand ich zwar alle fünf tot, wahrscheimlich aber
nur, weil ich vergessen hatte, sie aus einem kleinen, fest ver-
schlossenen, trockenen Glasröhrchen herauszunehmen. Wegen
Mangel an Versuchsmaterial kann ich augenblicklich nicht ent-
scheiden, inwieweit diese Beobachtungen von anderen Ameisen
m Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc.
gelten”); sicher aber kann man diese Tatsache kaum als einen
Grund für eine besondere Anpassung von Formica picea ans
Wasserleben anführen. Höchst interessant wäre es, wenn sıch die
freiwillige Flucht unter das Wasser bei Formica picea bestätigte.
Jedoch glaube ich, dass bis jetzt noch eine einfachere Erklärung
möglich ist. Das Benehmen der Ameisen, die im Beobachtungs-
nest unter das Wasser gerieten, machte mich stutzig. Da diese
Nester einige CGentimeter hoch mit Wasser gefüllt sind, ist es sehr
leicht, Ameisen, die sich ın den untersten Gängen des Nestes be-
finden, unter das Wasser zu bringen: man braucht das Glas nur
schief zu halten. Bei diesen Versuchen beobachtete ich, wie die
betreffenden Ameisen in sichtbarer Unruhe und ohne jede
Orientierung in Nestteilen, die ihnen völlig bekannt
waren, umherirrten. Den Körper dicht an die Unterlage ge-
presst, um nicht durch den Auftrieb des Wassers losgerissen zu
werden, krochen sie, mit den Fühlern unruhig umhertastend, lang-
sam durch die Gänge, um oft, wenn sie dieht unter dem Wasser-
spiegel angelangt waren, wieder ins tiefere Wasser zurückzukehren.
Nach 2—3 Minuten verloren sie das Bewusstsem. Der Mangel an
Orientierung lässt sich durch das Versagen der topochemischen
Wahrnehmungsorgane der Ameisen erklären, die unter Wasser
ihren Zweck wohl nicht mehr erfüllen können. Liefen die Ameisen
nach Adlerz’ Beobachtungen dennoch ins Wasser, so möchte ich
dafür die „kopflose Angst“ verantwortlich machen. Nach einer
brieflichen Mitteilung glaubt Adlerz, dass er die Nester zufällig
bei sehr hohem Wasserstand getroffen habe, und dass deshalb das
Wasser in die unteren Nestgänge eingedrungen sei. Es ist nicht
einmal notwendig, dıes anzunehmen, um zu erklären, weshalb ein-
zelne Gänge unter den Wasserspiegel führten. Wenn man ım Moor
vor einem Neste steht, um es zu untersuchen, so ist durch die Körper-
schwere die ganze Sphagnumdecke im Umkreis von einem Meter
5—10 em, wenn das Moor sehr schwankend ist noch mehr, herab-
gedrückt. Infolgedessen werden die untersten Nestpartien leicht
unter Wasser gesetzt. Wie dem aber auch sein mag, ich glaube,
wir müssen annehmen, dass die Ameisennester im normalen Zu-
stand völlig über dem Wasser liegen. Eine Ameise, die auf einem
der untersten Gänge entflieht — und hierhin entfliehen die meisten
— kann recht wohl, wenn der Gang zufällig unter Wasser steht,
in dieses hingeraten und sich in dem Sphagnum festbeissen. Nach
”) P. Wasmann teilt mir mit, dass Arbeiterinnen von Formica-Arten, die
im Zuckerwasser des Fütterungsapparates seiner Beobachtungsnester ertrunken waren
und viele Stunden oder selbst einen Tag darin gelegen hatten, wieder zum Leben
kamen, wenn sie in reines Wasser gelegt, damit die Stigmen nicht zukleben, und
dann langsam getrocknet wurden. Königinnen von Monomorium Pharaonis kamen
sogar nach 3 Tagen wieder zum Leben, nachdem sie unterdessen im Wasser gelegen
hatten.
Bönner, Die UÜberwinterunge von Formiea picea etc. 3
s (x
einiger Zeit wird sie Bemühungen machen aus dem Wasser heraus-
zukommen, und wenn ihr das gelingt, möchte ich es eher einen
Zufall nennen. Welche von beiden Erklärungen die richtige ıst
möchte ich aber noch nicht entscheiden.
Die bei Formica picea zuerst gefundenen und beschriebenen
Moornester sind für diese Ameise nicht charakteristisch, da sie
weder stets noch ausschließlich bei ihr gefunden werden. [Dies
bestätigt auch eine, während der stark verzögerten Drucklegung
dieser Arbeit erschienene Notiz von Forel. Er fand Formica picea
in den Torfmooren von Boche bei Yvorne. Die Ameisen bauten
hier ähnlich wie die r«fa-Arten. Auf dem Korrekturbogen bei-
gefügt.]
Am 25. Februar fand ich eine große Anzahl der Birken, die
das Lynbymoor bewachsen, abgehauen. Durch die zahlreichen
30—50 em hohen Strünke, die zurückgeblieben waren, wurde ıch
auf die morschen Birkenstrünke aufmerksam, die von früheren Ab-
holzungen herstammten. Ich begann sie zu untersuchen, und
gleich der erste, den ich mit leichter Mühe abbrach, war ge-
füllt mit Formica picea. In eigroßen, ovalen Räumen saßen Hun-
derte von Arbeiterinnen mit einigen Königinnen. Die Ameisen
waren noch in der Winterruhe und verhielten sich ziemlich ruhig.
Die Kammern waren anscheinend von Käferlarven ausgehöhlt und
von den Ameisen erweitert; einige engere Gänge waren nämlich
noch mit Holzmehl angefüllt, wie man es als Arbeit von Käfer-
larven findet. Die von Ameisen bewohnten Kammern konnte man
leicht erkennen; ihre Wände waren von einer schwarzen Farbe
durchdrungen, die mehrere Millimeter tief ins Holz eingedrungen
war, während die Kammern, die nicht von Ameisen benutzt wurden,
die natürlich weißen Wände zeigten. Dieser Aufenthaltsort war
von außen um so schwieriger zu erkennen, als alle Ausgänge des
Nestes unten im Stamm innerhalb der Sphagnumschicht lagen,
was wohl auf eine Beziehung der Ameisen zum Moore hindeutet.
Unter der Rinde des gleichen Birkenstämmchens lebte eine Kolonie
Leptothorax acervorum, die kleine Larven enthielt. Es war eine
sehr kleine Form mit spärlicher Behaarung, ganz ähnlich Nylan-
ders Lept. muscorum, die ja für die alten Birkenstämme in Hoch-
mooren charakteristisch ist. Von drei weiteren Stämmen, die ich
untersuchte, war wieder einer von picea bewohnt.
Die Mn ornehter sind um so weniger für pecea eigentümlich,
als sie auch bei anderen Ameisen ln lar worden sind; sie
scheinen ein allgemeinerer mes pus der Ameisen an das
Moorleben zu sein und bilden einen neuen Beweis für die große
Anpassungsfähigkeit der psychischen Begabungen der Ameisen.
Aus Sahlberg’s Schilderung des sangwinea-picea-Nestes konnte
man das nicht schließen, da der Nesttypus sich häufig nach der
‚)
Ta Bönner, Die UÜberwinterung von Formica picea ete.
Sklavenart richtet. Anders liegt es bei Kuhlgatz’ °) Beobachtungen,
dessen Beschreibung ich wörtlich anführen will: „Auf einem anderen
(srasbult entdecke ich zwischen aufragenden Halmen einen
eigentümlichen Kuppelbau. Die nähere Betrachtung seines
Details mit Hilfe der Lupe zeigt, dass der Bau aus winzigen
Rudimenten von Sphagnummoos besteht. Ich nehme eine
Skizze und trage dann die Kuppel vorsichtig ab. Sofort sehe ich
auch hier wieder die Knotenameise (Myrmica scabrinodis) hausen.
Die Kuppel dient den Tieren zur Pflege ihrer Brut. Eier, Larven
und Puppen bedürfen zu ihrer Entwicklung viel Wärme und
Sonnenschein. Aber die hohen Halme des Bultes beschatten zu
sehr. So bauen die Ameisen sich ein Türmchen zur Sommerkur
für ihre Nachkommenschaft. Bei bedecktem Himmel und Regen-
wetter tragen sie sie wieder hinunter. — In manchen Grasbulten,
die ich sonst noch öffnete, fand ich andere Ameisenarten, in den
Bulten überhaupt ein reiches Tierleben. Die Bulte sind als Trocken-
inseln in der feuchten Sphagnummatte für viele Kleintiere Wohn-
und Entwickelungsstätte. Man kann sıe als Zentren auffassen, aus
denen immer wieder neues Leben ın das Moor ausgeht.“ Augen-
scheinlich haben wir es hier mit dem gleichen Nesttypus zu tun,
wie er von picea beschrieben ist.
Auch die Mitteilungen Kuhlgatz’ über „andere Ameisen“ ım
Moore verdienen Interesse. Die Zahl der Ameisen nämlich, die
ın ziemlich feuchter Umgebung oder gar ım Moor gefunden wurden,
ist gar nicht gering. Adlerz teilt sie nach der größeren oder ge-
ringeren Gesetzmäßigkeit, mit der sie ın Sumpfgegenden auftreten,
in mehrere Gruppen ein.
Gruppe 1 bilden jene, die nur ausnahmsweise auf feuchtem
Boden getroffen werden; wahrscheinlich wurden die Weibchen nach
dem Paarungsflug dorthin verschlagen, es gelang ıhnen aber, sich
allein oder mit fremder Hilfe in den neuen Verhältnissen zurecht
zu finden. Hierhin gehören nach Adlerz: Formica sangwinea,
Form. fusca, Camponotus herculeaneus, Lasius niger, Leptothorax
acervorum und Harpagoxenus sublaevis. Für sangwinea sind diese
Angaben durch Sahlberg und vielleicht auch durch Bondroit
bestätigt. Nach mündlicher Mitteilung fand Mag. Henriksen
Formica fusca und Lasius mixtus in einem Sphagnummoore. Im
gleichen Moor fand er ın quartären Schichten Tetramorium caespi-
fım und Myrmica scabrinodis, welch letztere Adlerz aber der fol-
genden Gruppe zuteilt. Ich selbst fand, wie oben schon gesagt,
ebenfalls Leptothorax acervorum und außerdem ZLasius niger ım Moor.
(sruppe 2 umfasst nach A dlerz Formica exsecta, Myrmica scabri-
nodis, ruginodis und laevinodis, man findet sie nach ıhm zwar auf
S) 32. Bericht des Westpreußischen Botanisch-Zoologischen Vereins. Danzig
1910, p. 80.
Bönner, Die UÜberwinterung von Formica pieea etc. 75
trockenem Boden, jedoch meistens und am zahlreichsten in Sümpfen
und feuchten Örtlichkeiten. Für ruginodis, laevinodis und exsecta
ist das bekannt, für scabrinodis jedoch überraschend, da ihr bisher
immer eine Vorliebe für trockene, ja dürre und sandige Stellen zu-
geschrieben wurde. Doch fanden Kuhlgatz und Henrichsen
sie ebenfalls ın Mooren.
Gruppe3 bildet Formica sueeica Adl., die ausschließlich in der
Nähe von Sümpfen oder wenigstens von Wasser vorkommt, jedoch
keine besondere Anpassung erkennen läßt.
Gruppe 4 stellt Formica picea, die sich „anscheinend vollständig
für das Leben ım Hochmoor angepasst hat, in dem ich sie bisher
nur angetroffen habe“ (Adlerz).
Diese letzte Bemerkung von Adlerz gibt mir Gelegenheit, etwas
auf die Verbreitung von Form. picea einzugehen. Die Vermutung,
dass bei manchen in der Literatur angeführten Fundorten für
gagates eine Verwechslung mit pzcea vorliegt, hat in den meisten
Fällen eine Bestätigung gefunden. Für England war eine Revision
der Angaben Saunder’s bereits von Donisthorpe°) im vorigen
Jahre durchgeführt. Von ıhm und anderen wurde picea unter
gleichen Umständen im New Forest gefunden. Adlerz !%) publi-
zierte gleichzeitig mit mir und unter demselben Titel eine Arbeit
über pzcea, die große Übereinstimmung mit der meinigen zeigt.
Er fand die Ameisen in Sphagnummooren des mittleren Schweden
bei Borgsjö, Liden und Alnö. Nach einer brieflichen Mitteilung
beziehen sich seine früheren Augaben über yagates bei Kongsvold
in Norwegen auf Formica picea. Dagegen sind die Ameisen,
die er auf Öland fand und als gagates bezeichnete, keine
picea, sondern müssen als eine gagates-ähnliche fusca-Form ange-
sehen werden wie die fasco-gagates-Varietät, dıe Forel aufstellte.
Adlerz fand diese Ameisen auch nicht ın Mooren, sondern auf
trockenem Boden. Im nördlichen Osteobottnien — nebenbei be-
merkt wohl dem nördlichsten Fundort für Ameisen, fast unter dem
Polarkreis! — wo Nylander picea schon gefunden hatte, hat sie
neuerdings Räsänen!!) wiedergefunden, aber als gagates bestimmt.
Die Vermutung, die Emery 1909 aussprach, nämlich dass pice«a
wohl bis nach Ostasien und China verbreitet sei, hat eine interes-
sante Bestätigung gefunden, indem Forel!?) unter dem Material,
das ihm von der Insel Formosa zugesandt wurde, eine Varietät von
Formica picea fand, der er den Namen v. formosae gab. Dieser
Fundort ist auch insofern auffällig, als dıe Fauna der Insel haupt-
9) The Entomologist’s Record v. 25 p. 67—68, Myrmecophilous notes for 1912,
10) 1. ec. oben S. 69 Anm. 5.
11) Meddelanden af:Soc. pro Fauna et Flora fennica v. 38 p. 52 (finnisch mit
schwedischem Resume).
12) Arch. für Naturgeschichte v. 79, 1913, Heft 6, p. 201.
76 Bönner, Die Überwinterung von Formica picea etc.
sächlich malaischen Charakter trägt, picea v. formosae also (mit
einigen anderen Arten) als ein paläarktischer Überläufer zu be-
trachten ist. Leider fehlen noch biologische Angaben, so dass wir
nicht wissen, ob diese Varietät auch an Moore gebunden ist.
Zum Schlusse möchte ich noch die Aufmerksamkeit auf einige
Punkte lenken, über die ich keine Klarheit gewinnen konnte. Ad-
lerz fand in dem Sphagnummaterial der picea-Nester Pilzhyphen,
die nach seiner Ansicht zur Festigkeit des Baues beitragen oder
auch den Ameisen zur Nahrung dienen können und deshalb viel-
leicht von ihnen kultiviert werden, wie es von anderen Ameisen
bekannt ist. Ähnliche oder sogar die gleichen Pilzbildungen waren
mir auch aufgefallen. Ich hielt sie für die bei den Ericaceen, Empe-
traceen und vielen Humusbewohnern häufigen Mykorrhizabildungen,
und Genaueres habe ich auch bis jetzt noch nıcht feststellen können.
In Nestern, die ich ım Moor untersuchte, fand ich mehrmals
grüne Stengelspitzen von Sphagnum, die eben abgerissen zu sein
schienen, an Stellen, wohin sie unmöglich von selbst kommen
konnten. Ganz das gleiche beobachtete ich in künstlichen Nestern
Ich kann das nur durch die Annahme erklären, dass die Ameisen
diese Moosfragmente losgerissen und ins Nest geschleppt hatten;
jedoch habe ich nie eine Ameise solch einen frischen Sphagnum-
teil tragen gesehen. Vielleicht steht diese Beobachtung in Be-
ziehung zu den Pilzhyphen.
Ähnlich ging es mir mit einem eigentümlichen Dimorphismus der
Arbeiterinnen von Formica picea. Bei Untersuchungen der Nester
in der freien Natur fielen mir die zwei Typen zuerst als hellere
und dunklere Exemplare auf, die ungefähr ın gleicher Anzahl
vorhanden waren. Da es Januar war, konnten es schwerlich un-
ausgefärbte Exemplare sein. Im Beobachtungsnest sah ich dann,
dass die hellen, fast grauen Individuen meist 1—2 mm größer
waren als die tiefschwarzen; der Hinterleib war unverhält-
nısmäßig größer. Zu diesen morphologischen Unterschieden
lernte ich biologische kennen. Die großen Individuen sitzen mei-
stens im Innern des Nestes in Klumpen zusammen, die kleinen
Individuen sind oben auf dem Neste oder ordnen das Nest. Bei
Störung des Nestes fliehen die großen Exemplare nach unten, die
kleinen stürzen zur Verteidigung heraus. Dies fiel mir besonders auf,
als ich einmal das Nest unvorsichtig öffnete und mir die Ameisen
wütend entgegen kamen. Ehe ich geschlossen hatte, waren 26
herausgelaufen, ich fing sie ein; es waren alles kleine schwarze
Exemplare, was unmöglich Zufall sein konnte. Der letzte Umstand
erklärt auch, warum einem beim Öffnen eines Nestes in freier
Natur zuerst nur die kleinen schwarzen auffallen, so dass man sie
auf den ersten Blick mit großen Lasius niger verwechseln kann,
wie ich früher schrieb. Wahrscheinlich haben wir es hier mit einer
Biologisches Centralblatt 1915. Taf. 1.
Eisal®
Gefrorenes Nest von F. picea senkrecht durchgeschnitten (?/,). Rechts etwas unter der
Mitte die Ameisen.
Fig.2. Fig: 3.
Stück aus dem Innern eines Nestes von Das gleiche Stück wie Fig. 2, aber von
F. picea. Von oben gesehen. (Etwas vergrößert.) der Seite gesehen. (Etwas vergrößert.)
27
er
Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. er
gynäkoiden Arbeiterform zu tun, wie sie Wasmann!*) schon
bei Formica sangwinea, Formica rufibarbis und Polyergus rufescens
beobachtet hat. Auch dort bildeten sie die obere Grenze der Ar-
beitergröße, waren heller und fielen durch die Größe des Hinter-
leibes auf. Merkwürdig scheint mir nur ihre große Anzahl; sie
bilden — wenigstens in dem Beobachtungsnest, mit dem ich augen-
blicklich arbeite —, gut die Hälfte der Arbeiterinnen. Auch konnte
ich bisher nicht entscheiden, ob die vorhandenen zahlreichen Eier
von den Königinnen allein oder auch von ihnen stammen. Das
alles wird sich aber leicht durch Experimente klarstellen lassen.
Adlerz bemerkte auch, dass die Arbeiterinnen, die ın den tieferen
Teilen des Baues waren, einen auffallend stark angeschwollenen
Hinterleib hatten, der die helleren Ligamente der Hinterleibsringe
deutlich durchscheinen ließ. Er benutzt diese Tatsache zur Stütze
seiner Hypothese, dass die Ameisen von den erwähnten Pilzhyphen,
die sich vor allem ın den unteren Teilen des Nestes finden, leben.
Erklärung der Abbildungen.
Fig. 1. Gefrorenes Nest von F. picea senkrecht durchschnitten (?/,). Rechts
etwas unter der Mitte die Ameisen.
Fig. 2. Stück aus dem Inneren eines Nestes von F. picea. Von oben ge-
sehen (etwas vergrößert).
Fig. 3. Das gleiche Stück wie in Fig. 2, aber von der Seite gesehen (etwas
vergrößert). a
Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen
aus der Lacerta muralis-Gruppe.
Von Robert Mertens, Leipzig.
Die im Jahre 1572 von Theodor Eimer entdeckte und als
Lacerta muralis coerulea beschriebene Eidechse erregte sofort wegen
ihres Farbenkleides größtes Interesse im Kreise der Zoologen.
Während man zu der Zeit nur braune oder grüne Mauereidechsen
kannte, war diese auf dem steilen (äußersten) Faraglionifelsen bei
Capri beheimatete Eidechse von auffallend schwarzblauer Färbung.
Nach und nach lernte man noch drei weitere schwarze (resp. schwarz-
blaue) Formen der Mauereidechse kennen; alle sind sie Insel-
bewohner. Außer der eben erwähnten ZLacerta coerulea Eimer
(= faraglionensis Bedriaga) sind es noch die Lacerta lilfordi var.
typica Günther von den Balearen, die Lacerta melissellensis Braun
von einigen dalmatinischen Felseninseln (z. B. Melissello) und die
Laeerta fülfolensis Bedriaga vom Filfolafelsen bei Malta.
Es ıst klar, dass diese schwarzen Formen sofort Anlass zu
vielen Untersuchungen gaben, um Grund und Ursache dieses merk-
13) Biol. Centralbl. v. 15, 1895, p. 606; ferner: Ameisenarbeiterinnen als
Ersatzköniginnen (Mitt. Schweizer Ent. Ges. XI, 1905, Heft 2), und Zur Kenntnis
der Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg III. Teil 1909.
7s Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc.
würdigen Melanismus zu erforschen. Allein keine einzige Hypothese
konnte genügen. Inzucht, durch Isolation bedingt, konnte den
Melanısmus nicht fördern, denn sonst wären auch die noch viel
weiter im Meere gelegenen Gallifelsen von solchen schwarzblauen
Tieren bevölkert; dortige Tiere sind nach Eimer und meinen per-
sönlichen Erfahrungen grün, nur die Bauchseite zeigt einige Ver-
dunkelung (statt weißgrau); auch die Bauchrandschilder sind größer
und intensiver blau gefärbt. Das Klıma konnte auch nicht die Ur-
sache des Melanismus sein, denn auf dem nur 150 m entfernten
Capri, wo klimatische Verhältnisse doch die gleichen sein müssen,
kommen nur grüne oder grünlichbraune muralis- oder richtiger serpa-
Echsen vor. Dass den Eidechsen auf dem Faraglioni irgendwelche
Nahrung zu Gebote steht, die den Melanısmus zur Folge hat, ist
kaum anzunehmen, denn Eimer, der Arthropoden, die ja in erster
Linie die Nahrung unserer Echsen darstellen, vom Faraglionifelsen
bekam, erkannte darunter nichts Auffallendes. Andererseits kann
auch einseitige Nahrung das Dunkelwerden nicht bedingen, denn
sonst würden wir ın unseren Terrarien, wo viele Eidechsen meist
auf einseitige Beköstigung mit Mehlwürmern angewiesen sind, schon
längst solches wahrgenommen haben, Dass auch ferner, wie es
Eimer annimmt, die Faraglionieidechsen durch ihre schwarze Fär-
bung, Schatten und Risse auf hellem Gestein imitieren, d. h., es
also sich hier um weiter nichts als eine Schutzfärbung handelt,
braucht wohl nicht erwähnt zu werden, denn was für Feinde sollten
die Eidechsen auf steilem, auch dem Menschen fast unzugänglichen
Felsen haben? Eımer erwähnt die Möven, doch nie habe ich
solche Echsen fangen sehen, da sie doch in erster Linie Fischfresser
sind. Wenn aber auch wirklich die Eidechsen in den Möven einen
schlimmen Feind hätten, so wären auch Echsen auf anderen Fara-
glionifelsen ebenfalls schwarzblau.
Das Problem wurde noch schwieriger, als man Lacerten vom
Monacone und den Gallifelsen mit berücksichtigte. Hier sınd
Eidechsen zu finden mit mehr oder weniger Andeutung an das
Dunkelwerden der Färbung. Was konnte nun diese Schwarzfärbung
bedingen? Auf ganz Capri treffen wir nur grüne und braune La-
certen an, auf dem nur wenige Meter entfernten Felsen plötzlich
dunkelschwarzblaue; auf anderen Felsen bei Capri finden wir, was
um so merkwürdiger ist, wiederum gewöhnliche oder nur etwas
dunkler gefärbte Formen. Nicht als ob es sich auf dem einen Fara-
glionifelsen etwa um eine neue Art handelte — im Gegenteil, weder
im Habitus, noch in Beschuppung oder Beschilderung finden wir
eine Differenzierung von den gewöhnlichen Eidechsen.
Das heisst nun aber, die Lösung dieses interessanten Problems
muss auf einem anderen Wege versucht werden. Wenn wir uns
nämlich die Schwarzfärbung der Faraglioniechse nicht sekundär,
Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. 19
wie man es jetzt allgemein tut, sondern primär vorstellen, so müssen
wir auch die relativ dunkleren Galli- und Monaconeechsen nicht als
Formen auffassen, die ım Begriff sind, dunkler zu werden, sondern
die einstmal dunkel waren und jetzt heller werden. Mit anderen
Worten, dieses läuft darauf hinaus, dass vor Jahrtausenden ın
Europa Eidechsen lebten, welche alle ähnlich wie die jetzige schwarz-
blaue coerulea gefärbt waren. Was nun diese ursprüngliche Fär-
bung bedingte, ıst ja schließlich Nebensache, doch bin ich der An-
nahme, dass es das Bedürfnis sich zu sonnen war, das den überaus
wärmeliebenden Lacerten die Schwarzfärbung verlieh, um die
Sonnenstrahlen besser absorbieren zu können. Diese Einrichtung
ist auch jetzt noch bei allen Lacerten durch die Schwarzfärbung
der Mesenterien erhalten. Nun musste diese auffallende Schwarz-
färbung der Oberseite den Eidechsen wohl für die Aufnahme der
dem regeren Stoffwechsel notwendigen Wärme von großem Nutzen
sein, konnte sie jedoch nicht ın genügendem Maße vor ihren Feinden
schützen. Es bildete sich also nach und nach eine grünliche Fär-
bung mit dunklerer netz- oder streifenartigen Zeichnung, die ja den
Grasboden, Gestrüpp, Steine etc., auf dem die Eidechsen leben, im
höchsten Maße nachahmt. Dieses ist nun die Färbung der jetzigen
italienischen Lacerten. Noch zu der Zeit, wo alle Eidechsen dunkel
gefärbt waren, musste der Faraglionifelsen, der früher zweifellos
mit Caprı ın Verbindung stand, sich losgelöst haben und den
schwarzen Lacerten, die dort absolut keine Feinde haben können
und darum auch keine Änderung in der Färbung erfuhren, blieb
nun ihr Urkleid erhalten. Bemerken möchte ich auch, dass dieser
Felsen durch seine Steilheit fast ganz unzugänglich ist. Dass auch
Eidechsen dort beim Anblick des Menschen sich gänzlich furchtlos
verhalten, berichtet auch Eimer. Ich kann dasselbe aus eigener
Erfahrung nach vielen in meinem Besitze befindlichen Tieren be-
stätigen. Alle anderen Felsen, wie z. B. der Monacone und die
Galliinseln werden von Fischern, die letzteren sogar regelmäßig
von Wachteljägern besucht. In alter Zeit waren da auch Bauwerke
errichtet, was jetzt die dort befindlichen Ruinen beweisen. Die
Eidechsen, die auf diese Weise mit dem wenig tierfreundlichen
Menschen bekannt geworden sind, sind jetzt im Begriffe, ihre Fär-
bung zu ändern, also Schutzfärbung anzunehmen; d.h. heller zu
werden. Auf den Galliinseln soll auch die Zornnatter (Zamenis
gemonensis), bekannt als eine arge Eidechsenfeindin, vorkommen.
Der blaue Axillarfleck sowie die blauen Seitenschilder wäre alles,
was den jetzigen Lacerten von ihrem eimstmaligen Kleide erhalten
blieb. Interessant ist noch die Frage, warum wohl die Faraglioni-
echsen durchschnittlich größer werden als die Echsen vom Fest-
lande. Mag der regere Stoffwechsel wegen der günstigeren Auf-
nahme von Wärme, die die Dunkelfärbung zur Folge hat und die
s0 Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc.
Annahme, dass sie auf dem steilen Felsen ın ihrem Daseın voll-
ständig ungestört höheres Alter erreichen mögen, diese Tatsache
bedingen.
Diese Ausführungen, die natürlich nur rein hypothetisch zu
nehmen sind, werden sich wohl ohne weiteres nicht nur auf die
Faraglioniechsen, sondern auch auf andere melanotische Inselformen
beziehen lassen. Auch auf andere ZLacerta-Arten kann man diese
Hypothese anwenden. So z. B. auf die Echsen der Lacerta ocellata-
Gruppe, an die sich die Eidechsen der Kanarischen Insel anschließen.
Es handelt sich hier um relativ große Tiere (Zacerta ocellata, pater,
tangintana, galloti, simonyi), die untereinander ım Habitus ziemlich
ähnlich sind. Hier finden wir auch die auf dem Festlande be-
heimateten Lacerta ocellata, pater, tangintana durchaus grün; die
die Kanaren bewohnenden galloti und sömonyi sind durchweg alle
dunkel (schwärzlich) gefärbt. Doch auch diese letzteren sind stark
im Aufhellen begriffen. Auch noch einer Eidechse unserer heimischen
Fauna sei hier gedacht. Es ist dies die rätselhafte ZLacerta nigra,
eine schwarze Varietät unserer Lacerta rivipara. Ich habe dieses,
sowohl auf der Ober- als auch auf der Unterseite kohlschwarz ge-
färbte Tier bei Oberhof (Thüringen) auf ziemlich trockenem Terrain
fangen können. Man war der Meinung, dass Feuchtigkeit diese
eigentümliche Schwarzfärbung verursacht. Nach unseren Aus-
führungen können sıe nichts anderes als Relikte einer ursprüng-
lichen Eidechsenfärbung darstellen.
Wenn wir uns zum Schlusse noch den histologischen Verhält-
nissen der Haut der Faraglionieidechsen zuwenden, so sei vor allem
bemerkt, dass die schwarzblaue Farbe der Eidechsen nicht etwa
durch ein blaues Pigment bedingt wird, sondern eine Lage von
schwarzen Bindegewebszellen, über der sich noch eine Schicht farb-
loser Epidermis befindet, die blaue Färbung in unseren Augen her-
vorruft. Bei den grünen Eidechsen befindet sich dagegen zwischen
der schwarzen und der farblosen Schicht noch eine Schicht von
gelbem Pigment, die nun den Eindruck von grün bedingt!). Nun
sehen wir auch hier, dass die histologischen Verhältnisse der Haut
bei der Faraglioniechse viel einfacher, ursprünglicher sind Jals bei
den grünen Echsen. So müssen wir denn bei den letzteren auch
die Schicht der gelben Pigmentzellen als eine sekundäre Einlage-
rung betrachten; erst diese bedingt die sogen. Schutzfärbung bei
unseren jetzigen Echsen. Den Faraglioniechsen fehlt diese Lage
der gelben Pigmentzellen noch, ihr schwarzblaues Kleid braucht
diese Schutzeinrichtung nicht.
Zusätze: 1. Die ın letzter Zeit vorgenommenen Untersuchungen
von W. J. Schmidt haben gezeigt, dass bei den grün gefärbten
1) Vel. Th. Eimer, Zoolog. Studien auf Capri 11.
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 51
Eidechsen die grüne Farbe durch das Strukturblau der Guano-
phoren und das darüber gelagerte Lipochromgelb erzeugt wird.
Unter diesen beiden Schichten befinden sich noch die sogen. Melano-
phoren, die aber am Zustandekommen des Grüns nicht beteiligt
sind. Sie erzeugen die schwarze Zeichnung der Oberseite, indem
an diesen Stellen die Guanophoren und das Lipochromgelb durch
die Melanophoren gänzlich verdrängt werden. Bei den blauschwarzen
Faraglioniechsen scheint in erster Linie der Lipochromfarbstoff zu
fehlen, so dass an der Färbung nur die Guanophoren und die
Melanophoren beteiligt sind.
2. Es liegt mir natürlich fern, meine Hypothese über den Mela-
nismus als Urfarbe der Lacertiden auch auf andere Tiere beziehen
zu wollen. So sind wir z. B. ziemlich sicher, dass der Melanısmus
bei gewissen Säugetieren (Nagetieren) als durchaus sekundär auf-
zufassen ist. Der Verfasser.
Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
Von Oskar Prochnow in Berlin-Lichterfelde.
(Mit 4 Figuren.)
1:
Die Eigenbewegungen der Tiere und Maschinen.
Alle Eigenbewegungen der Tiere und Maschinen sind Be-
wegungen durch Rückstoß und können in zwei Gruppen eingeteilt
werden:
1. in Bewegungen durch Rückstoß mit Beanspruchung des um-
gebenden Mediums oder in Bewegungen durch Abstoßen von
dem umgebenden Medium,
2. in Bewegungen des ganzen Körpers infolge von beschleunigten
oder gehemmten Bewegungen einzelner Teile des Körpers oder
in Bewegungen durch Selbstrückstoß.
Zu der ersten Gruppe von Bewegungen gehören das „Schlagen“
eines Gewehrs beim Abfeuern, ..die Bewegung der Turbinen, das
aktive Schwimmen der Lebewesen im Wasser sowie der Flug der
Vögel, alle Bewegungen der auf Rädern laufenden Maschinen und
schließlich unser Gehen, Laufen und Springen, —- zu der zweiten
Gruppe von Bewegungen gehören viele Regulierbewegungen bei
lebhaften Bewegungen, unsere Hilfsbewegungen der Arme beim
Springen, alle Rückdrehbewegungen des Ganzen, wenn ein Teil
beschleunigt oder gehemmt wird in einer Drehung. Hierzu gehört
auch die Drehbewegung beim Sprung der Ellateriden, unserer Schnell-
käfer, wie ich im folgenden beweisen werde.
De Gruppen von Eigenbewegungen mögen durch Beispiele näher beschrieben
werden:
1. Wie ist es möglich, dass wir gehen? — Allgemeiner: Welches sind
die physikalischen Gründe, dass sich ein Körper durch eine in seinem Innern er-
xXXXV. 6
82 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
zeugte Kraft relativ zu einem andern fortbewegt? Wenn wir sagen, wir kontrahieren
die Muskeln auf der Streckseite eines Beines, so dass es gehoben wird, verlegen dadurch
den Schwerpunkt des ganzen Körpers etwas nach vorn, lassen den Körper auf dieses
Bein fallen, dann das andere durch die Gleichgewichtslage hindurch nach vorn pen-
deln u. s. w., so haben wir dadurch die aufgeworfene Frage nicht physikalisch be-
antwortet.
Auf die Bedingungen eines Ereignisses werden wir am ehesten aufmerksam,
wenn wir feststellen, wann es nicht eintritt. Ich frage daher: Unter welchen Be-
dingungen können wir nicht oder doch nur sehr schwer gehen. Im Sande — wird
man sagen. Der Grund dafür ist der, dass wir uns dort nicht so leicht von der
Erde abstoßen können. Denn zu jeder Bewegung eines Körpers durch eigene Kraft
relativ zu einer Unterlage ist eine träge Masse nötig, die durch ihren Trägheits-
widerstand dem sich bewegenden Körper einen Stützpunkt bietet, von dem er sich
abstoßen kann. Es ist — kinetisch betrachtet — beim Gehen des Menschen nicht
anders als beim Abfeuern einer Kanone: wie die Pulverladung auf Geschoss und
Geschütz einwirkt und die leichtere Kugel weit nach vorn, das schwerere Geschütz
ein wenig nach hinten wirft, so wirkt die „Muskelentladung‘“ auf den Körper des
Lebewesens wie auf die Erde ein, indem sie beide auseinander treibt, das Lebewesen
um Schrittlänge nach vorn und die „unendlich“ viel schwerere Erde — ich rechnete
einmal aus, dass die Erde 10° — 100000 Trillionen mal so viel wiegt wie ein er-
wachsener Mensch — um einen unmessbar kleinen Betrag zurück.
Eine andere Bedingung des Gehens ist die Reibung zwischen unserer Stütz-
fläche und dem Boden; denn ohne Reibung können wir den Trägheitswiderstand
der Erde nicht hervorrufen, so dass wir uns nicht von ihr — oder eigentlich sie von
uns — abstoßen können.
Es ist also beim Gehen wie beim Schwimmen, Fliegen u. s. w. derselbe
Vorgang:
Das Tier, das sich fortbewegen will, drückt mit Teilen seines Körpers gegen
die Unterlage, die Luft, das Wasser, den Erdboden. Dadurch wird der Trägheits-
widerstand des Mediums hervorgerufen, das sich nicht ohne Rückwirkung auf das
Tier aus der Ruhelage herausbringen lässt. Darauf aber gerade ist es abgesehen ;
denn der Rückstoß des Mediums ist es, der die Richtung hat, nach der „sich‘ das
Tier bewegen will; er ist es, der das Tier während der ganzen Dauer des Stoßes
entgegen seinen Bewegungen dorthin treibt, wohin es will.
Alle Eigenbewegungen relativ zu einer Unterlage erfolgen also nach dem Prinzip
von Aktion und Reaktion; das Tier führt eine Aktion aus und nutzt die dadurch
hervorgerufene Reaktion.
2. Welchen Nutzen haben unsere Armbewegungen beim Springen?
— Beim Schlussprung in die Höhe schleudern wir die Arme im Augenblick des
Absprungs ruckartig nach vorn und besonders nach oben und hemmen die Arm-
bewegung möglichst plötzlich während des Sprunges selbst. Während des Ab-
sprunges wird dadurch der Druck auf die Unterlage, z. B. das Sprungbrett, ver-
stärkt, also auch der nutzbare Gegendruck der Unterlage auf den Körper. Während
des Sprunges selbst wirkt die Hemmung der Armbewegung in demselben Sinne
fördernd auf den Springer. Von der Tatsache dieses Antriebes überzeugt man sich
leicht, wenn man, auf einem Stuhle sitzend, folgende Armbewegung ausführt: die
Arme ungefähr gleichmäßig .beschleunigt hebt und sie dann möglichst kräftig an-
hält; man wird an der Druckverminderung auf das Gesäß merken, dass dieses
Bremsen der Bewegung des einen Körperteils den ganzen Körper nach oben treibt.
Diese Wirkung erklärt sich auch durch den Rückstoß. Beschleunigen wir die Arm-
bewegung, so wird auf den Körper eine entgegengesetzte Beschleunigung ausgeübt.
So macht sich bei jeder Bewegung eines für diese Betrachtung vom umgebenden
Medium unabhängigen Körpers eine entsprechende Gegenbewegung geltend. Es ist
wie in dem obigen Beispiel vom Gehen auf der Erde: an die Stelle des die Erde
durch seine Fußtritte von sich wegdrehenden Menschen ist der Arm getreten, an
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 83
die Stelle der Erde und des Menschen auf ihr der Mensch allein. Wenn der Mensch
sich durch seine einzelnen stoßartigen Fußtritte von der Erde abstößt, so dreht er
sie in entgegengesetzter Richtung zu der, in der er sich bewegt; hemmt er dagegen
plötzlich seinen Lauf, etwa dadurch, dass er den Fuß in den Boden einstemmt, so
übt er damit ein dem ersten entgegengesetztes Drehmoment auf die Erde aus, dessen
Wirkung also mit der Bewegung des Läüfers vor dem Hemmen des Laufs gleiche
Richtung hat. Wie also jede Beschleunigung eines Körperteils dem ganzen Körper
eine dieser Beschleunigung entgegengesetzt gerichtete Beschleunigung erteilt, so er-
teilt jede Hemmung einer Eigenbewegung eines Körperteils dem ganzen Körper eine
Beschleunigung in Richtung der Eigenbewegung des bewegten Körperteils. Ich be-
zeichnete derartige Bewegungen oben als Bewegungen durch Selbstrückstoß.
Um solche Bewegungen handelt es sich auch, wenn man in den dafür ge-
eigneten Spreewaldkähnen hin und her läuft oder sich in den Knien hin und her
wiegt oder in einem Rollsitzboot auf der Rollbahn hin und her fährt. Wenn man
dabei die Beschleunigungen passend einrichtet, so kann man dem Kahn oder Boot
— strömungsloses Wasser und Windstille vorausgesetzt — leicht eine dauernd fort-
schreitende Bewegung nach der Seite des wirksameren Rückstoßes aufzwingen. Soll
z. B. das Boot nach vorn fahren, so ziehe man den Körper, wenn er am Ende der
Rollbahn nach der Spitze des Bootee zu angekommen ist, mit großer Kraft zu dem
Stemmbrett heran und bremse diese Bewegung gegen das Ende langsam ab, dann
gehe man langsam zurück und bremse diese nach der Spitze des Bootes gerichtete
Körperbewegung zum Schluss stark ab.
Auf einen Unterschied der Abstoßbewegungen von den Selbstrückstoßbewegungen
soll noch hingewiesen werden: Während bei den Abstoßbewegungen auch konstante
Geschwindigkeiten des sich bewegenden Körpers wirksam sind zur Erzielung von
Rückstoßbewegungen, da ja dadurch in der Regel die Teilchen des umgebenden
Mediums beschleunigt werden und infolgedessen eine Reaktion ausüben, kommen
Selbstrückstoßbewegungen nur durch Geschwindigkeitsänderungen, also durch Be-
schleunigungen oder Hemmungen zustande.
Ich musste auf diese beiden Arten von Rückstoßbewegungen eingehen, weil
die Schnellbewegung der Elateriden aus beiden zusammengesetzt ist.
1.
Kritik der bisher aufgestellten Erklärungen der Schnell-
bewegung, insbesondere der zuletzt veröffentlichten Er-
klärung Otto Thilo’s (Biolog. Centralblatt, Bd. XXXIV, Nr. 2
S. 150—156).
Soviel ich sehe, behaupten alle Autoren, dass Elateriden, die
— was wegen der starken Wölbung der BauchSeite und flachen
Wölbung der Rückenseite und der dadurch bedingten Schwerpunkts-
lage in der Nähe der Rückenseite nicht selten geschieht — auf den
Rücken gefallen sind, mit ihren kurzen Beinen den Boden nicht
berühren, jedenfalls aber sich mit ihrer Hilfe nicht wieder auf-
richten könnten, wenn sie in der Schnellbewegung nicht ein Mittel
dazu hätten.
Ich habe mehrmals gesehen, dass sie es doch vermögen, aller-
dings scheint es ihnen mehr Mühe zu machen als das Empor-
schnellen. Meist versuchen die Käfer dieses Mittel erst, wenn
sie sich mehrmals emporgeschnellt und trotzdem — eben der
Schwerpunktslage wegen — die normale Lage nicht erreicht haben;
6*
)
S4 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
sie helfen dann auch wie andere Käfer durch Spreizen der
Elytren nach.
Das Instrument des Käfers für die von einem knipsenden Schall
begleitete Schnellbewegung besteht im wesentlichen aus einem Dorn
am Hinterrande des Prosternum und einer passenden Grube am
Vorderrande des Mesosternum.
H. Landois (1874) erklärt sich das Schnellen folgendermaßen:
„Wenn das Tier auf dem Rücken liegt, biegt es die Vorder-
brust rückwärts und bringt so den Dorn derselben aus der Höhle,
in der er in der Ruhe belegen ist. Nun krümmt sich der Körper
plötzlich nach der Bauchseite und dadurch schießt der Dorn wieder
in die Grube und das Insekt stößt dabei mit dem Rücken des
Thorax kräftig auf den Boden und wird durch diesen Stoß empor-
geschnellt. Dieses Emporschnellen des Käfers ist mit einem knipsen-
den Ton verbunden ... Der Dorn der Vorderbrust ist ziemlich
lang und auf der Oberfläche, wie auch an der Spitze ziemlich stark
behaart, weswegen der knipsende Ton nicht dadurch hervorgebracht
werden kann, dass etwa die Spitze des Dorns auf den Grund der
Höhle stieße. Bei größeren Elateren, etwa KHlater oculatus aus
Illinois, sieht man auf der Unterseite des Dornes in einiger Ent-
fernung von der Spitze desselben schon mit freien Augen einen
erhabenen glatten Wulst. Dieser wird beim Emporschnellen des
Käfers über den erhabenen Vorderrand der Grube gezwängt. Hat
der Wulst den Rand passiert, so knipst es...“ („Tierstimmen*, S. 105).
R. Hesse (1910) schreibt (in „Tierbau und Tierleben‘“ I, S. 212):
». .. Der Käfer stemmt zum Schnellen den Dorn gegen den
Vorderrand der Grube und lässt ihn unter starker Anspannung der
Streckmuskulatur plötzlich abgleiten, wobei durch das Hineinfahren
des Dorns in die Grube der knipsende Ton entsteht. Dabei ergibt
sich ein heftiges Zusammenknicken des gebeugten Gelenkes, so dass
der vorher konkave Teil der Rückenseite jetzt konvex vorspringt
und gegen die Unterlage stößt; durch deren Rückstoß wird der
Käfer ın die Höhe geschleudert. Da dieser Stoß aber nicht im
Schwerpunkt angreift, sondern vor demselben, so wird das Tier in
der Luft um die durch den Schwerpunkt gehende Querachse ge-
dreht und kommt mit der Bauchseite nach unten herab.“
Otto Thilo (1914) bemängelt (im Biol. Centralblatt S. 150ff.)
an diesen Beschreibungen und Deutungen mit Recht die Ungenauig-
keit der Beobachtung und gibt eine andere Erklärung. Er weist
zunächst darauf hin, dass die Krümmung des Rückens stets gering
ist und insbesondere gering wird, wenn der Käfer seine Vorberei-
tung zur Schnellbewegung — das Anstemmen des Dornendes gegen
den Grubenrand — ausführt. Thilo meint daher, dass der Aus-
gleich dieser Krümmung nicht ausreichen könne, um den Käfer so
hoch zu schleudern, und sagt in den „Ergebnissen“:
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. s5
„Der Sprungkäfer schleudert sich dadurch in die Höhe, dass
er mit seinem Brustdorn gegen den zweiten Brustring schlägt. Der
Dorn ist hierbei keine Sperrvorrichtung, sondern dient nur zur
Führung und Sicherung der Bewegung.“
Diese Ansicht begründet Thilo nicht durch Versuche, sondern
durch teilweise wenig geschickte Vergleiche mit anderen springenden
Geräten, einer mit einem Schlagbügel versehenen Mäusefalle, die
sich durch das Aufschlagen des Bügels auf das eine Ende in der
Richtung der Bewegung des Bügels überschlägt, und durch Hin-
weis auf das Klippholz oder Prellholz, das die Kinder über einen
Stein legen und durch einen Schlag auf das eine Ende zum Über-
schlagen über dieses Ende veranlassen.
Nun sind jedoch die Ursachen des Überschlagens dieser beiden
Geräte durchaus nicht dieselben. Das Prellholz der Kinder
springt nach dem Gesetz vom zweiarmigen Hebel (Wurfhebel), die
Mäusefalle und das Klippholz Thilo’s, das ja ım Prinzip nichts
anderes ıst als eine Mäusefalle — die Maus müsste nur die
Zündschnur durchfressen und dann schnell nach dem anderen
Ende laufen — springt nach dem oben erläuterten Gesetz vom
Selbstrückstoß. Das scheint Thilo übersehen zu haben; sonst
würde er wohl nicht in der Wirkung des Schlages auf das eine
Ende die Erklärung des Sprunges der Mäusefalle und der Elateriden
gesehen haben. Ganz haltlos wird aber dieser Erklärungsversuch,
wenn man bedenkt, dass, wenn der „Schlag“ auf das eine Ende
des doch krummen Rückens der Elateriden die Schnellbewegung
auslösen sollte, der Käfer sich in der Richtung über das getroffene
Ende hinweg überschlagen müsste, also über den Kopf und nicht,
wie Thilo und Hesse angeben, über den Hinterleib.
So war ich denn, als ich Thilo’s Arbeit gelesen hatte (mit
deren Ergebnissen er in der „Umschau“ einen größeren Leserkreis
bekannt machte), davon überzeugt, dass diese fast jedem Kind be-
kannte Erscheinung bisher noch keineswegs physikalisch einwand-
frei erklärt ist und wurde in dieser Ansicht noch dadurch bestärkt,
dass sogar die Richtung des Überschlags in den verschiedenen, auf
biologische Verhältnisse überhaupt eingehenden Lehrbüchern nicht
übereinstimmend angegeben wird: Hesse (a. a. ©.) gibt wie Thilo
an, dass sich der Käfer über den Hinterleib überschlägt, Schmeil
(Lehrbuch der Zoologie, 1912, S. 376), dass die Drehung um das
Kopfende erfolgt.
IM.
Die Gestalt des Sprungorgans.
Das Sprungorgan variiert in der Familie der Elateriden nicht
unbeträchtlich. Übereinstimmend ist jedoch bei allen Arten der
Dorn am Hinterrande des Prosternum und die dazu passende Grube
am Vorderrande des Mesosternum. Der Dorn (Fig. 1 und 3) er-
S6 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
scheint, von der Bauchseite aus gesehen, schwach konvex gekrümmt.
Er trägt an der Unterseite, etwa um !/, bis !/, der Länge von der
Spitze entfernt, einen Wulst. Dahinter ist die Unterseite kopf-
wärts mehr oder minder deutlich gekielt. Die ganze Unterseite
Fig. 1.
Fig. 1. Schattenriss eines zum Absprung bereiten Schnellkäfers
(Athous rufus Degeer). Der Wulst des Dorns ist gegen den Rand der
Grube gepresst; das Pronotum berührt die Untterstützungsfläche nicht.
Vergr. 4:1.
Fig. 2. Vorderer Teil eines Schnellkäfers (Athous rufus Degeer), von
unten gesehen.
D Dorn, @ Grube, ® Vorsprung am Hinterrande des Prosternum,
9 Bremsgrube zur Aufnahme des Vorsprungs v, A hinterer seitlicher Vor-
sprung des Hinterrandes des Prosternum, f Gelenkfurche zur Aufnahme
des Vorsprunges h. Vergr. 5:1.
Fig. 3. Vorderer Teil eines Schnellkäfers (Athous rufus Degeer), von
der Seite gesehen. Vergr. 7:1.
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet, S7
des Dorns ist unbehaart und sehr glatt, die Spitze und die Ober-
seite kurz behaart.
Die Grube passt nicht bei allen Arten gleichgut für den Dorn.
Ihre Öffnung ist ungefähr oval; hinten ist die Grube am tiefsten.
Der Vorderrand springt etwas vor und zeigt in der Mitte einen
Ausschnitt. In diesen passt der Kiel der Unterseite des Dorns
hinein. Vom Vorderrande der Grube führt eine glatte, ein wenig
gekrümmte Gleitbahn in die Tiefe der Grube. Darauf gleitet der
Dorn bei der Schnellbewegung abwärts. Neben und unterhalb der
Gleitbahn ist die Grube weniger glatt und z. T. schwach behaart.
Das Gelenk für die Drehung des Prothorax wird von den
Skeletteilen des Pro- und Mesonotum gebildet. Da der dorsale
Einschnitt zwischen Pro- und Mesothorax ziemlich tief ist, so liegt
der Drehpunkt nur wenig dorsal von der transversalen Median-
ebene. Zu diesem Drehgelenk gehören auch die äußeren seitlichen,
bei allen Arten mehr oder minder deutlich entwickelten Fortsätze
des Prothorax, für die teilweise (z. B. Fig. 2 bei f) Gelenkfurchen
am Vorderrande des Mesothorax entwickelt sind.
Eine Skeletteigentümlichkeit ist bisher übersehen worden, die
für die Wirkung des Sprungorgans von großer Bedeutung ist.
Der Hinterrand des Prosternum springt jederseits vom Dorn
(Fig. 2, D) etwa in der Mitte zwischen der Medianlinie und dem
äußeren Rande jederseits in Gestalt einer Spitze (r) oder eines
Bogens nach hinten zu vor. Diesem Vorsprunge entspricht am
Vorderrande des Mesosternums eine Grube (g), in die die Spitze oder
der Bogen hineinpasst. Ich habe sie in Fig.3 als Bremsgrube be-
zeichnet. Ist der Dorn in die Grube (G@) hineingedrückt, so greifen
auch diese Vorsprünge in ihre Gruben ein.
IV.
Versuche über das Springen der Schnellkäfer.
1. In welcher Weise hängt der Sprung von der Ela-
stizität der Unterlage ab?
Ein und derselbe Elater sanguineus L., 16 mm lang, diente für
alle Versuche als Versuchstier. Es wurde zunächst die Sprunghöhe
gemessen.
a) Auf Glas: Sprunghöhe:
1. Versuch 7 cm
% ” 8 E2]
3. 3 _ ER
b) Auf einer Aluminium-
schachtel von 1 mm
Wandstärke und 9 cm
Durchmesser: F
1. Versuch £ B7Z
3 11
+ 93 Te
Ss Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
c) Aufeiner Pappschachtel
von 1'/,mm Wandstärke,
Größe 14 X 19cm:
1. Versuch IR,
2. 1 12.5,
Bel, Iuzer
d) Auf einem zusammen-
gefalteten Taschentuche:
1. Versuch Ele Am folgenden Tage richtete sich der
2. % LICH: | Käfer auf dieser Unterlage in zwei
3 r I, von drei Fällen mit den Beinen auf.
e) Auf trockenem, feinem
Sande: Sprunghöhe:
1. Versuch 1!/,cm
2. „ 1 „
Su, Se,
f} Auf Watte:
5; Versuch R 2 Der Käfer richtet sich mit Hilfe seiner
i 2 2 Beine auf.
u , 0
g) Anf derselben Papp-
schachtel wie oben (ec):
1. Versuch 10: ,,
2. „ 12 „
Bu lem,
Alle Versuche wurden kurz hintereinander angestellt, der letzte
Versuch zu dem Zwecke, um festzustellen, ob der Käfer schon er-
müdet war. Eine Kontrollversuchsreihe am folgenden Tage zeigt
bei anderer Anordnung der Versuche die gleichen oder nur ganz
wenig davon abweichende Sprungleistungen.
Wie zu erwarten war, zeigte sich eine direkte Abhängigkeit
von dem Widerstand der Unterlage: der Sprung ıst höher, wenn
die Unterlage aus nicht nachgebenden Teilen besteht, insbesondere,
wenn die Unterlage federt.
Die Sprungleistungen sind allerdings auf der Pappschachtel
nur wenig höher als z. B. auf Glas. Am zweiten Versuchstage
tritt dies noch deutlicher hervor.
Da ergab sich auf Pappe, Aluminium Glas
die Reihe der Sprunghöhen 10,12,10; 10,11,11; 10,10, 11 (cm).
Den Haupteinfluss scheint daher die Elastizität des Chitins zu
haben.
2. Stößt sich der Käfer mit Prothorax und Elytren
von der Unterlage ab?
Wenn ein Schnellkäfer in der Rückenlage ist, berührt er mit
dem Pronotum die Unterlage im allgemeinen nicht (Fig. 1). Ob
dies beim Sprunge geschieht, untersuchte ich „durch folgende zwei
Versuchsanordnungen.
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. Ss)
Ich legte den Käfer mit einer Pinzette rücklings auf eine mit
Ruß geschwärzte Glasplatte und ließ ihn springen. Dann haftet
der Ruß von allen den Stellen an seinem Körper, die er vor oder
beim Sprunge berührt. Auf diese Weise konnte ich nun feststellen,
dass eine starke Berührung des Pronotum mit der Unterlage nicht
nötig ist (vgl. Fig. 4, b).
Fig. 4.
Berührungsstellen ab-
springender Elateriden mit
einer berußten Glasplatte.
(Nat. Gr. Phot.) a
Hinten Berührungsstelle der
Elytren, davor von Prothorax
und Fühlern, seitlich von den
Beinen.
a und b von Elater sangui-
neus L., e und d von Athous
niger Redt. Bei a und d Be-
rührung mit den Beinen, bei d
vor dem Sprunge heftige ab-
stoßende Beinbewegung. Bei c,
besonders aber bei db nur ganz
schwache Berührung des Protho-
rax, möglicherweise nur von der
Krümmung rückwärts und nicht
vom Sprunge herrührend.
b
Den Beweis, dass eine solche Berührung überhaupt nicht statt-
zufinden braucht, erbrachte folgender Versuch:
Ich legte den Käfer mit einer Pinzette so auf den Rand einer
Glasplatte oder eines Mikroskopierspatels oder eines etwa 1 cm
breiten Blechstreifens, dass nur die Elytren aufliegen, das Pronotum
aber über den Rand ganz hinausragt. Der Käfer trachtet zwar,
sich durch Drehen oder vorzeitiges Abspringen zu befreien, doch
gelingt der Versuch nach einiger Übung, so dass sich der Käfer
kurze Zeit vor dem Sprunge in der gewünschten Lage befindet. Es
zeigte sich, dass der Käfer auch aus dieser Lage abspringen kann —
also ohne dass er das Sprunggelenk zum Abstoßen gebraucht.
3. Nach welcher Richtung überschlägt sich der Käfer?
Die Beantwortung dieser Frage ist für die Erklärung der Sprung-
bewegung von großer Wichtigkeit.
Die direkte Beobachtung ist sehr schwer, da die Gesamtdauer
des Emporschnellens und Niederfallens !/, bis !/, Sekunde beträgt.
Trotz angespanntester Aufmerksamkeit ist es nicht in allen Fällen
möglich, mit Bestimmtheit zu sagen, ob das Überschlagen über den
Kopf oder über den Hinterleib erfolgt. In allen Fällen, wo der
90 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
Verfasser und die hinzugezogenen Beobachter mit Bestimmtheit
sagen konnten, nach welcher Richtung die Drehbewegung erfolgte,
lautete das Urteil: über den Hinterleib. Erstaunlich ist, dass der
Käfer auch in diesen Fällen sehr häufig nach der Richtung zu
niederfällt, wo vorher sein Kopf lag.
Auch bei den Versuchen, wo der Käfer allein mit den Elytren
auf einem Blechstreifen auflag, lautete das Urteil in allen Fällen,
wo Bestimmtes gesagt werden konnte, dahin, dass die Drehung
über die Hinterleibsspitze erfolgte. Trotzdem fiel der Käfer nach der
Richtung von seiner Ausgangslage aus nieder, wohin der Kopf zeigte.
Ohne Mühe kann man die Richtung der Drehbewegung fest-
stellen, wenn man den Käfer auf feinem, trockenem Sande seine
Sprünge ausführen lässt. Der Käfer kann sich dann nur ganz wenig
erheben und die ganze Bewegung ist in den meisten Fällen nichts
anderes als eine Drehung des Käfers um die Hinterleibsspitze aus
der Rückenlage in die Bauchlage.
Diese Versuche reichen zur Auflösung der Sprungbewegungen hin.
V.
Erklärung des Springens der Schnellkäfer.
Wenn sich der Käfer emporschnellen will, bewegt er den Pro-
thorax so lange auf und ab, bis der glatte Wulst auf der Unter-
seite des Dorns gegen den Rand der Grube stößt. — Man kann
dieses Anpassen in der Regel beobachten. Führt man am toten
Käfer dieses Anpassen aus und zwängt dann den Dorn in die Grube,
so hört man, wie schon Landois beobachtete, einen knipsenden
Ton in dem Augenblick, wo der Wulst über den Rand der Grube
gleitet. Es fällt in diesem Augenblick offenbar der gekielte proxi-
male Teil des Dorns auf den gekerbten Rand der Grube. Dann
gleitet der Dorn schnell in die Grube hinein. Die Bewegung wird
durch das Anschlagen der Vorsprünge des Prosternum-Hinterrandes
an die Bremsgruben am Mesosternum-Vorderrande und wohl auch
durch das Auftreffen des Dornendes auf den Grund der Grube ab-
gebremst. Dass der Grund der Grube schwächer chitinisiert ist als
die Gleitbahn, lässt darauf schließen, dass das Abbremsen der Be-
wegung an dieser Stelle von untergeordneter Bedeutung ist. Zu
Thilo’s Darstellung ist hier zu bemerken, dass der Dorn nicht fest
in der Grube sitzt wie ein Säbel in seiner Scheide, sondern bei
manchen Arten ziemlich großen Spielraum hat. Weiter scheint mir
irrtümlich, dass die Haare zur Verminderung der Reibung dienen
sollen. Sie vermehren zweifellos die Reibung und finden sich daher
nur dort, wo Reibung nicht vorhanden oder bedeutungslos ist, z. B.
auf der Oberseite des Dorns, der nicht fest in die Scheide passt.
Die Versuche lassen zunächst darauf schließen, dass drei Be-
wegungsursachen vorliegen:
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 91
1. Der Selbstrückstoß durch Abbremsen der Prothoraxbewegung,
der eine Drehung um die Hinterleibsspitze herbeiführt (Versuch
auf Sand, vgl. IV),
2. die Stoßwirkung des Abhremsens der Prothoraxbewegung,
wodurch der Käfer wie ein Wurfhebel um den Unterstützungspunkt,
also über den Kopf gedreht wird (Auffallen kopfwärts),
3. die elastische Gegenkraft des Chitins und der Unterlage
(Versuche über die Sprunghöhe).
Zu erörtern bleibt noch, welchen Zweck der Wulst auf der
Dornunterseite hat.
Eine Bewegung löst das Hinweggleiten des Wulstes über den
Grubenrand wohl nicht aus. Es könnte nur, während der Wulst
auf den Grubenrand hinaufgleitet, wenn also seine Bewegung be-
schleunigt ist, eine Selbstrückstoßbewegung eintreten, die der unter
1. genannten entgegenwirkt; wenn der Wulst jedoch hinabgleitet
von dem Grubenrande, müsste eine Stoßwirkung auftreten, die in
demselben Sinne wirkt wie die Kraft, die unter 2. genannt ist.
Diese Kraft scheint in der Tat nicht unbedeutend zu sein, denn
der knipsende Ton, der offenbar von dem Aufprallen des Dorns
auf die Gleitbahn herrührt, ist stets deutlich hörbar. Man könnte
zwar meinen, dass das Abbremsen der Prothoraxbewegung von dem
Geräusch begleitet ist; doch überzeugen Versuche am toten Tiere
davon, dass es bereits „knipst“, wenn der Wulst über den Gruben-
rand hinweggedrückt ist, ehe noch der Vorsprung die Bremsgrube
berührt hat.
Die Hauptbedeutung des Dornwulstes suche ich jedoch anderswo.
Ich sehe sie darin, dass es dem Käfer so möglich wird, zunächst
einen festen Halt zu finden und, wenn der Widerstand dann durch
starke Muskelanspannung beseitigt ist, sehr schnell eine große Be-
wegungsgeschwindigkeit zu erzielen, so dass beim Abbremsen dieser
Geschwindigkeit eine große Selbstrückstoßkraft auftritt.
Diese ist nämlich das stets Wirksame, auch wenn die Unter-
lage für einen hohen Sprung keine Möglichkeit bietet. Die Wurf-
hebelwirkung ist zweifellos unbedeutender. Denn der Käfer indi-
vidualisiert den Sprung nicht; er müsste also, wenn die Wurfhebel-
wirkung stark wirksam wäre, auch auf nachgiebiger Unterlage mehr
oder minder senkrecht in die Höhe springen oder auf der Stelle
liegen bleiben — indem sich die beiden entgegengesetzten Dreh-
kräfte dann das Gleichgewicht hielten.
Ist die Wurfhebelwirkung auf dieser nachgiebigen Unterlage
nicht wirksam, so kann sie doch bei fester Unterlage in Erschei-
nung treten. Denn die Drehwirkung wird sicher dadurch gehemmt,
dass die Unterstützungsstelle dem Druck nachgibt. Dadurch erklärt
sich teilweise das mehr oder minder senkrechte Emporschnellen
sowie das häufige Auffallen kopfwärts.
92 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
Schließlich findet, wie auch die Photographie der Berührungs-
stellen beweist, in manchen Fällen ein Abrollen der Elytren auf
der Unterlage statt, so dass dabei auch ein Abstoßen der hinteren
Teile der federnden Chitindecken eintritt, das offenbar das Ergebnis
hat, dass der Körper einen Antrieb zum Sprung nach der Seite
des Kopfes hin bekommt.
Sehr wünschenswert wären gute kinematographische Aufnahmen
der Schnellbewegung.
Ergebnisse.
1. Das Sprungorgan besteht erstens aus einer Vorrichtung zur
Ermöglichung einer schnellen Drehbewegung des Prothorax und
zweitens aus einer Vorrichtung zum Abbremsen der Bewegung.
Zur Erzielung der schnellen Drehbewegung dient der Dorn des
Prosternum, dessen an der Unterseite befindlicher Wulst gegen
den Rand der Grube vorn am Mesosternum gepresst und dann nach
Einsetzen des vollen Muskeldrucks darüber hinweggezwängt wird.
Das Abbremsen dieser Bewegung geschieht wohl teilweise durch
das Auftreffen des Dorns auf den Grubengrund, vorwiegend aber
durch das Anstoßen der seitlichen inneren Vorsprünge des Prosternum-
Hinterrandes gegen die Bremsgruben am Mesosternum-Vorderrand.
2. Die Schnellkäfer können auch auf wenig festen Unterlagen
ihre Sprünge ausführen, z. B. auf feinem, trockenem Sande. Dann
besteht die Schnellbewegung in einer Drehung um das Hinterleibs-
ende. Auf fester Unterlage spielt die Elastizität des Chitins eine
größere Rolle als die der Unterlage.
Die Drehung beim Sprunge scheint stets um das Hinterleibs-
ende zu erfolgen, auch dann, wenn der Käfer, was sehr häufig ge-
schieht, kopfwärts von der Absprungsstelle landet.
3. Die Schnellkäfer brauchen beim Absprunge die Unterlage
nur mit den Elytren zu berühren. Die Elytren rollen sich dabei
bisweilen bis zur ganzen Länge auf der Unterlage ab.
4. Alle bisher aufgestellten Erklärungen der Schnellbewegung
sınd falsch:
Der Käfer stößt sich nicht mit dem Pronotum und den Elytren
ab (z. B. Hesse, Tierbau und Tierleben I, S. 212); er springt
ebenso gut, wenn nur die Elytren aufliegen.
Er schleudert sich auch nicht durch die Schlagwirkung auf den
Vorderrand des Mesosternums in die Höhe (Thilo, Biol. Oentralbl.,
1914, S. 150ff.), denn dann müsste die Drehung wegen der Wurf-
hebelwirkung über den Kopf erfolgen. Die Schlagwirkung ist nur
eine Teilursache.
5. Beim Schnellen wirken folgende Bewegungsursachen:
a) Der Selbstrückstoß infolge der Hemmung der Drehbewegung
des Prothorax, der die Drehung über das Ende des Abdomens
bedingt,
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 93
b) der Schlag des Dorns auf die Gleitbahn nach dem Hinüber-
gleiten des Wulstes über den Grubenrand und der Brems-
schlag der mittleren seitlichen Chitinvorsprünge hinten am
Prosternum gegen die Bremsgruben vorn am Mesosternum
als Ursachen einer Wurfhebeldrehung des Käfers um die
Unterstützungsstelle der Elytren als Drehstelle, wodurch
die Drehbewegung um das Ende des Abdomens abgeschwächt
und der Druck auf die Unterlage verstärkt wird,
c) die Federkraft des Chitins infolge des Drucks auf die Unter-
lage und der Abrollung der Elytren auf der Unterstützungs-
fläche.
Der Selbstrückstoß und die Wurfhebelwirkung wirken einander
entgegen und pressen, wenn beide wirksam sind, den Käfer gegen
die Unterlage. Auf nachgiebiger Unterlage gibt die Unterstützungs-
stelle dem Druck nach und die Wurfhebelwirkung kommt nicht
zur Geltung. Dann bleibt nur die Drehung des Selbstrückstoßes
übrig, die den Käfer über die Spitze des Abdomens dreht. Das
Auffallen in der Richtung des Kopfes von der Absprungstelle aus
scheint dadurch bedingt zu sein, dass die sich auf der Unter-
stützungsfläche abrollenden Elytren auf den Käfer abstoßend ein-
wirken. Dass die Drehung anscheinend stets über die Spitze des
Abdomens erfolgt, lässt auf die vorherrschende Wirkung des Selbst-
rückstoßes infolge der Hemmung der Drehbewegung des Prothorax
schließen.
War Darwin ein originelles Genie?
Von J. H. F. Kohlbrugge, Utrecht.
Wie dachte Darwin selbst über seine Originalität?
Am schärfsten sprach er sich darüber wohl in den folgenden
Worten aus: “I was forestalled!) in only one important point,
which my vanity has always made me regret.” Alles andere, was
er in seinen Werken in bezug auf die Deszendenztheorie gebracht
hatte, war also von ihm entdeckt, von ihm geschaffen worden!
Ähnlich klingen die folgenden Worte, die auf das Ganze zielen:
“It has?) some times been said, that the success of the origin proved
‘that the subject was in the air’, or ‘that men’s minds were prepared
for it’. I do not think this is strietly true, for I occasionly
sounded not a few naturalists and never happened to come across
a single one, who seemed to doubt about the permanence of
species”.
1) Bei Erwähnung von Forbes’ Erklärung der Arktischen und Hochgebirgs-
Fauna und Flora durch die Eisperioden. Life and letters. Vol. I, p. 71, New
York 1887.
2) Fr. Darwin. The life and letters of Ch. Darwin. Vol, 1, p. 71, New
York 1887.
94 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
Ungefähr dasselbe äußerte er in der ersten Auflage seiner
Origin of species (p. 481). “Why, it may be asked, have all the
most eminent living naturalists and geologists rejected this view
of the mutability of species”. Auf S.6 lesen wir “The view which
most naturalists entertain that each species has been independently
created.”
Wir sehen also, dass Darwın glaubte, dass er nahezu alle
wichtigen Beweise (alle bis auf einen) oder Erklärungen zu seiner
Deszendenzlehre selbst und selbständig gefunden habe. Dass er
allein stehe in seiner Auffassung der Variabilität der Organismen,
dass die übrige Welt noch versunken sei in der Schöpfungslehre
und dass er demnach durch seine selbstgefundenen Auffassungen
und Erklärungen gegen diese Welt in die Schranken trat und sie
überwand.
Darwin hielt sich selbst also für ein durchaus schöpferisches
Genie!
Diese Selbsteinschätzung wurde z. B. durch Mantegazza be-
stätigt?).
Darwin & un creatore: „anch’ egli dopo vent’annı di osser-
vazıone e dı meditazione disse nel mondo delle forme vive: Sıa
la luce, e anch’egli morendo nelle supreme ore della sua serena
agonia, poteva, guardandosi indietro, compiacersi di s& stesso et dell’
opera sua. E. Darwin vide che la luce era buona.“
Diesen Worten nach dürfte man Darwin also mit den Worten
des alten Kirchenliedes: „Veni creator spiritus“ begrüßen.
Ich habe nicht weiter nach derartigen Äußerungen in der
Darwinistischen Literatur gesucht, aber nach Radl?), der sie gut
kennt, tragen die Darwinisten die Sache stets so vor, als ob der
Darwinismus eine absolute, von der Zeit unabhängige, durch seinen
genialen Kopf entdeckte Wahrheit sei; als ob alle Forscher vor
Darwin an direkte Erschaffung jeder Spezies glaubten. Erst
Darwin habe die historische, kausale Methode und das exakte
Denken in die Naturwissenschaften eingeführt, welche denn auch
durch ihn, da er sie aus den theologischen und teleologischen Fesseln
befreite, zur Wissenschaft wurde. Da wir nun keinen Grund haben,
dieses alles gläubig anzunehmen, so wollen wir zunächst einmal
untersuchen, ob wirklich die Variabilität der Organismen zu Dar-
win’s Zeit eine unbekannte oder von allen verurteilte Lehre war.
Es könnte doch sein, dass Darwin seine Zeitgenossen und die
Literatur nicht kannte, um so mehr, da er ja von sich selbst be-
zeugte: “During my whole life I have been singularly incapable of
3) Archivio per l’ antropologia e etnologia. Firenze 1905, p. 311.
4) E. Radl. Geschichte der biologischen Theorien. T. IT, Leipzig 1905,
S. 113, 273, 554.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 95
mastering any language?°).” Sein Urteil beruhte also vielleicht nur
auf seinen Erfahrungen, die er durch Gespräche mit einigen seiner
Landsleute machte. Von diesen schrieb H. Hauff: „Nur in Eng-
land klebt noch ein Teil der Naturforscher hartnäckig an dem Buch-
staben der Schrift, was wohl daher rührt, dass so viele Lehrer der
Naturgeschichte Geistliche der bischöflichen Kirche sind,“ was
Judd bestätigt!‘)
Zuvor muss ich noch einem zuweilen gemachten Einwand be-
gegnen, dass zumal der induktiv arbeitende Forscher, der zahllose
neue Tatsachen ans Licht bringt, die Literatur vernachlässigen
dürfe, wenn ihn diese bei seinen originellen Untersuchungen auf-
halte. Ich gebe gerne zu, dass diese Auffassung eine gewisse Be-
rechtigung für sich hat, so lange wenigstens, wie solch ein Forscher
sich auch kein Urteil erlaubt über die Literatur, über die Auf-
fassung seiner Zeitgenossen oder über die Geschichte seiner Wissen-
schaft. Oben sahen wir aber, dass Darwin sich wohl erlaubte,
seine Zeitgenossen und den Zeitgeist zu beurteilen. Dann muss
man aber auch von ıhm fordern, dass er beide kannte. Kannte er
sie nicht und erlaubte er sich trotzdem ein Urteil, so fehlte es ıhm
an wissenschaftlichem Ernst!
Zwar hat Darwin sein berühmtes Buch anfangs ohne jede
historische Einleitung erscheinen lassen, wodurch er ganz besonders
den Eindruck erweckte, dass seine Tat, seine Theorie’), eine origi-
nelle, neugeschaffene sei. Später jedoch zunächst in der ersten
deutschen Auflage und dann ın der amerikanischen Auflage brachte
er eine historische Einleitung und zwar auf Antrieb Bronn’s°).
Obgleich diese Einleitung äußerst oberflächlich und kurz gehalten
ist, so ist es doch immerhin eine historische Einleitung. Einerseits
gibt uns diese nun das Recht, von ihm zu fordern, dass er die
Geschichte, über die er schrieb, kannte, anderseits vernichtete er
durch diese Einleitung die selbstbehauptete Originalität.
Wir wollen uns nun zunächst unter Darwin’s Zeitgenossen
von 1830— 1859 umsehen, ob unter ıhnen namhafte Forscher sich
5) Fr. Darwin. The life and letters of Ch. Darwin. Vol. I, p. 29, New
York 1887.
6) H.Hauff. Vermischte Schriften. Bd.I. Skizzen aus dem Leben und der
Natur. Stuttgart und Tübingen 1840, S.202. J.W.Judd. The coming of evolution,
1910, p. 25 schrieb “Uniformitarianism and Plutonisme were looked upon, with
aversion and horror as subversive of religion and morality.” Coneybeare, Sedg-
wick, Buckland, Whewell, Henslow waren Geistliche. Judd, ]. c. schrieb
weiter in bezug auf England (p. 1). “At the beginning of the century the few who
ventured to entertain evolutionary ideas where regarded by their scientific contem-
poraries, as wild visionairies, or harmless ‘cranks’, by the world at large as ignorant
‘quacks’ or ‘designing atheists” (vgl. auch Judd S. 61).
7) Er selbst schrieb oft “my theory”. So auf S. 206, 280, 302, 463, 465 der
ersten Auflage. Darüber handelt auch Fr. Darwin. Ch. Darwin, 1892, p. 246.
8) Fr. Darwin. Ch. Darwin, 1892, p. 246.
I6
finden lassen, die die Variabilität der Organısmen lehrten.
finden dann die folgenden Autoritäten.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
ich selbst gelesen habe.
I#
2.
3.
4.
. Omalius d’Halloy
Qu
Wilbrand 1830.
Matthew 1831.
E. Geoffroy St. Hilaire
1831.
Aug. de St. Hilaire 1831.
1831,
1846.
. Nodier 1832.
. Leuckart 1832.
. de la Beche 1833.
. von Baer 1834, 1859.
Grant 1834.
. Poiteau 1834.
. Heer 1834, 1855, 1858.
. Schubert 1835, 1839, 1852.
. Ehrenberg 1835, 1838.
. Rossmässler 1835,
1847,
1856.
. Rafinesque 1836.
. Schopenhauer 1836, 1850,
. Reichenbach 1837.
. Herbert 1837.
. Oken 1837.
Dutreichet 1837.
. von Berg 1837, 1843.
. Bucher de Pertes 1838.
. Burdach 1838, 1840.
. Spring 1838, 1853.
liıttre 1838
.v. Martius 1839.
. Wimmer 1839.
. Meunier 1839.
. Carpenter 1839, 1841.
. Wetter 1839.
00121839.
. Kehlau 1840,
. Hauff 1840.
. Illgen 1840.
. Perty 1841, 1846.
. Moritzi 1842.
. Landbeck 1842.
. Balsac 1842, 1848.
40.
41.
. Hooker 1844, 1853, 1859.
. Lindley 1844.
. Chambers 1844, 1853 etc.
. Pietet 1844,°1853.
. Vogt 1845, 1847.
. Wimmer 1846.
. Fraas 1847.
. Gerard 1847.
. Cotta 1848.
. Cockburn 1849.
. Martin 1849.
. Schleiden 1850, 1852.
. Braun 1851, 1859.
. Reichenbach 1851.
. Freke 1851.
. Kützing 1851, 1856.
>Bronns18hr
. Donders 1851.
. Naudın 1852, 1858.
. Quenstedt 1852.
. Unger 1852.
. Eschricht 1852.
. Spencer 1852.
. Schaaffhausen 1853.
. Brehm 1853.
. Baumgärtner 1853. 1855.
. Carus 1853.
. Keyserling 1853.
. Mac Gregor 1853.
. Nägelıi 1853, 1859.
. Lecocq 1854.
. Schultz - Schultzenstein
Wır
Ich gebe nur solche, die
Haldeman 1843.
Regel 1843.
1854.
. Baden Powell 1855.
. de ÖCandole 1855.
. Büchner 1855.
. Laugel 1856.
. Müller 1856.
. Burmeister 1856.
. Serres 1857.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 07
81. Jaeger 1857. 85. Maury 1859.
82. Virchow 1858. 86. Hudson Tuttle 1859.
83. Wallace 1858. 87. Hooker 1859.
84. Huxley 1859.
Diese 87 Namen von Zeitgenossen, die sich durch weiteres
Nachforschen wohl werden vermehren lassen, zeigen in unwider-
leglicher Weise, dass Darwın die Literatur nicht kannte und dem-
nach den Zeitgeist nicht beurteilen konnte. Dann war es allerdings
leicht, sich selbst zu suggerieren, dass er ein origineller Schöpfer
sel. Dieses Namenverzeichnis beweist weiter, dass Darwın sich
die nutzlose Aufgabe zuerteilte um offene Türen einzurennen, als
er schrieb: „Mag ich mich auch geirrt haben ... indem ich die
Tragweite der natürlichen Zuchtwahl überschätzte .... trotzdem
glaube ich wenigstens dadurch etwas Gutes gestiftet zu haben, dass
ich das Dogma von einzelnen Schöpfungen umgestoßen habe“).
Oder wir müssen annehmen, dass Darwın für die ganz speziellen
damaligen englischen Verhältnisse schrieb, die aber, wie die oben
gebrachten englischen und amerikanischen Namen beweisen, auch
nicht ganz seiner Beschreibung des Zeitgeistes entsprachen, was er
in seiner Einsamkeit auf Down wohl nicht erfahren hatte. Oder
Darwin wollte sich vielleicht mit seinem Buche an die Theologen
und das große Publikum wenden, die allerdings der Meinung waren,
dass jede Spezies einzeln geschaffen worden sei? Gegen letztere
Auffassung ıst aber einzuwenden, dass Darwin in den oben ge-
gebenen Zitaten selbst immer von den „naturalist“ spricht, also
von seinen Fachgenossen. Dann kannte er wohl nur einige der
damaligen, heute längst vergessenen englischen Dozenten, während
er die Literatur einfach nicht kannte. Um dies noch stärker hervor-
treten zu lassen und weil Darwin in seiner später gegebenen histo-
rischen Einleitung weit über die selbstdurchlebte Periode hinausgeht,
so empfiehlt es sich, dass wır uns auch nach den Vertretern der Varia-
bilität umsehen, die vor 1830 gelehrt haben. Dabei wollen wir die
älteren Autoren, solche z. B., die Variabilität annahmen, weil sonst
in der Arche Noah kein Raum für alle Tiere gewesen sei, außer
acht lassen und ebenso die mittelalterlichen, oft recht phantastischen
Anschauungen über Variabilität. Wir fangen darum erst mit dem
18. Jahrhundert an.
88. de Maillet 1715, 1748. 93. Buffon 1756, 1761.
89. Marchant 1719. 94. Duhamel du Monceau
90. Needham 1747, 1749. 1758:
91. Baumann (Maupertuis) 95. Wolff 1759.
1751. 96. Robinet 1761.
92. Diderot 1754, 1769. 97. Bonnet 1764, 1769.
9) Der englische Text folet unten auf S. 108.
XXXV. 7
98
98. Duchesne 1766. 129.
99. Maupertuis 1768. 130.
100. Holbach (Mirabaud) 131.
1710: 1323
101. Kawersnief 1775. 133.
105 Pallas 1777,.41780.31811.. 243%
103. Zimmermann 1778. 135.
104. Leske 1779. 136.
105. Soulavie 1780. lauf
106. Fabricius 1781, 1804. 138.
107. Ealecone&r 1782. 139.
108. Douglas 1785. 140.
109. Forster 1786. 141.
110: E. Darwin 1789, 1796. 142:
ON ar
112. Hunter 1794. 143.
113.0 0-b anası 1.796,17797: 144.
114. Deleuze 1800. 145.
115. de Lazepede 1800. 146.
116. Rodig 1801. 147.
117. de Lamarck 1801, 1809. 148.
118. Schelver 1802, 1812. 149.
119. Playfair 1802. 150.
120. Treviranus 1802.
1217 Bertrand 3803.
122. Gautierı 1806. 151
1232 V.0181.1808,.1817, 1823. 152.
124. Hagen 1808. 93}
125. Philites 1809. 154.
126. Bonellı 1809. 155.
127. Meiners 1811. 156.
128. Spix esilale 197
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
Fries 1814.
Feburier 1815.
Lawrence 1816.
Doornik 1816.
Lenhossek 1816.
Schweigger 1818, 1820.
Wells 1818.
Tauscher 1818.
Ballenstedt 1818.
Poiret 1819, 1820.
v. Schlottheim 1820.
Agardh 1820.
Link 1821.
Pander, d’Alton 1821 bıs
11825;
Meckel 1821.
Körte 1821, 1824.
Nöggerath 1822.
Herbert 1822, 1837.
Gaede 1823.
Hayn 1823.
Stahl 1824:
Bory St. Vincent (Dietion.
de l’histoire naturelle) 1824
bis 1830.
Defrance 1824.
v. Buch 1825.
Grant 1826.
Prichard 1826, 1834.
Lyell 1827, 1836.
Ritgen 1828.
Kaup 1829.
Zu diesen wären dann noch diejenigen zu fügen, welche nicht
eine Variabilität durch äußere oder innere Einflüsse, sondern eine
Entstehung neuer Spezies durch Kreuzung lehrten. Von diesen
will ich hier nur die folgenden nennen.
158. Linne 1743—1762. 163. Henschel 1820.
159. Gmelin 1749—1760. 164. Knight 1821, 1823.
160. Koelreuter 1761, 1764. 165. Sageret 1830.
161. Adanson 1763. 166... Eu vıSs91837.
162. Ackermann 1812.
Hier wären besonders noch manche Botaniker hinzuzufügen !°).
10) Ältere Arbeiten finden sich z. B. noch bei J. Dryander: Catalogus
bibliothecae historico-naturalis Josephi Banks. Londini 1797. T. III. Abteilung
Transmutatio specierum.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 99
Eine weitere kleine Reihe von Forschern, die Variabilität für eine
bestimmte Gruppe lehrten, werde ich weiter unten bringen.
Wir wissen nun, mit welchem Leichtsinn Darwin urteilte und
ebenso Haeckel!!) als er schrieb: „Um die Bedeutung dieses
doppelten Verdienstes richtig zu würdigen, muss man bedenken,
dass fast die gesamte Biologie vor Darwin den entgegengesetzten
Anschauungen huldigte und dass fast bei allen Zoologen und Bota-
nikern die absolute Selbständigkeit der organischen Spezies als
selbstverständliche Voraussetzung aller Form-Betrachtung galt. Das
falsche Dogma von der Beständigkeit und unabhängigen Erschaffung
der einzelnen Arten hatte eine so hohe Autorität und eine so allge-
meine Geltung gewonnen, und wurde außerdem durch den trügen-
den Augenschein bei oberflächlicher Betrachtung so sehr begünstigt,
dass wahrlich kein geringer Grad von Mut, Kraft und Verstand
dazu gehörte, sich reformatorisch dagegen zu erheben und das
künstlich darauf errichtete Lehrgebäude zu zertrümmern.“ Wir
wissen nun, wie wir über diesen Mut und das Zertrümmern zu
denken haben!?). Auf diese trockenen Namenverzeichnisse, be-
sonders auch weil ich diese einstweilen ohne den näheren Literatur-
nachweis bringe”), mögen nun noch einige Zitate folgen, welche
dasselbe beweisen wie die Namen.
Wir haben oben bereits Hauff als Zeugen angeführt, dass
man um 1840 auf dem Kontinent ziemlich allgemein an die Ver-
änderlichkeit der Spezies glaubte. Gleiches lehrt uns die 1842 zu
Erlangen erschienene Streitschrift!*) von G. F. Müller, welche diese
Konstanz heftig verteidigt und nicht erschienen sein würde, wenn
die Variabilität nicht viele Anhänger gehabt hätte. Deutlich sind
auch die Worte von K. E. von Baer. „Es wäre!) geradezu un-
möglich, alle Aussprüche von Naturforschern aufzuzählen, welche
sich gegen die Konstanz der einzelnen Arten erklärt haben.“ Auch
11) Schöpfungsgeschichte, 9. Aufl., S. 107.
12) Man vergleiche damit die Worte von Dewar (D. Dewar u. F. Finn.
The making of Species. London 1909, p. 6, 7): “We hear much of the “magnitude
of the prejudices” which Darwin had to overcome, and of the mighty battle which
Darwin and his lieutenant Huxley had to fight before the theory of the origin
of species by natural selection obtained acceptancee. We venture to say that
statements such as these are misleading. We think we may safely assert that
scarcely ever has a theory which fundamentaly changed the prevailing scientific
beliefs met with less opposition.”
13) Ein Artikel wie dieser würde durch einen ausführlichen Literaturnachweis
allzu große Dimensionen annehmen. Ich gedenke ihn später zu bringen, wenn die
Verhältnisse die Herausgabe eines Buches „Die Geschichte der Evolution“ ge-
statten.
14) G. Fr. Müller. Die Entstehung des Menschengeschlechts. Erlangen 1842.
15) K. E. v. Baer. Studien aus dem Gebiet der Naturwissenschaften. 1876,
P. 273.
7*
100 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie ?
Ehrenberg’s Schrift von 1852'%) wäre hier zu nennen, in der
man auch (S. 1) diese Worte findet: „Die neueste Bewegung in
den organischen Naturwissenschaften stellt alle Formbeständigkeit
in Frage.“ Diese Bewegung hatte außer der Evolutionstheorie noch
verschiedene Wurzeln. Wir nennen hier:
Erstens aus den am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahr-
hunderts sehr beliebten Untersuchungen über die Generatio spon-
tanea und das Leben der niedrigsten Organismen. Diese hatten zu
der Überzeugung geführt, dass wenigstens die niedrigen Organismen
direkt ineinander übergehen können. Im 18. Jahrhundert ging diese
Auffassung von Needham aus, der deshalb durch Voltaire scharf
angegriffen wurde. Im 19. Jahrhundert war Agardh der Haupt-
repräsentant dieser Richtung, an den sich die meisten anderen
anschlossen. Die mir bekannt gewordenen Forscher, welche die
niederen Formen ineinander übergehen ließen, bringt das nach-
folgende Verzeichnis.
167. Needham 1747, 1749. 183. Eichwald 1821.
168. Richard 1780. 184. Ramdohrius '
169. Engramelle | nn 185. Vaucher Eichw ld
170. Muller ek, 186. Gruithuizen | la
| Richard
171. Le Bossu 187. Wiegmann 1822.
172. Ingerhous 1784. 188. Fries 1821, 1822, 1829.
173. Lichtenstein 1797. 189. Meyer 1825.
174. Treviranus 1802. 190. Turpin 1826.
175. Girod Chantran 1802. 191. Edwards 1826.
176. Sprengel 1804, 1812. 192. Meyen 1827.
177. Trentepohl 1807, 1823, 193. Borry St. Vincent: 1827.
1826. 194. Unger 1827, 1830, 1843.
198.4 Nitzschw181%. 195. Leuckart 1827.
179. Agardh 1814, 1820, 1823, 196. Hundeshagen 1829.
1826, 1828, 1829. 197. Himley 1838.
180. Schweigger 1820. 198. Carpenter 1839, 1841.
181. Nees v. Esenbeck 1820. 199. Kützing 1841.
182. Hornschuh 1821.
Da auch diese Autoren die Konstanz der Art wenigstens für
die niederen Organismen bekämpfen, so wäre unsere Zeugenreihe
auf fast 200 angewachsen, während Darwin in seiner historischen
Einleitung nur 2317) zu nennen wusste. Dabei habe ich erst einen
kleinen Teil der Literatur durchgesucht. Ich bezweifle, ob man
16) ©. G. Ehrenberg. Über die Formbeständigkeit und den Entwicklungs-
kreis der organischen Formen. Aus den Monatsberichten der Akademie, Berlin 1852.
17) Man findet 25 Namen, von denen ich glaube, dass Owen und Isid.
Geoffroy St. Hilaire besser fortgelassen werden. Diese, wie viele andere zweifel-
hafte Zeugen, wird man auch in meinen Verzeichnissen nicht finden. G. Seidlitz
brachte später auch nur 47 Namen (Darwin’sche Theorie, 2. Aufl., Leipzig 1875).
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie ? 101
solch eine stattliche Reihe gleich bedeutender Forscher wird zu-
sammenstellen können, welche die Konstanz der Art verteidigten,
wenn ich auch einige tüchtige Geologen zu nennen wüsste, welche
den Standpunkt Cuvier’s übertrieben auffassten.
Zweitens wurde obengenannte Bewegung sehr gestützt durch
Schwann’s Zellenlehre Ehrenberg (l. c. S. 30—31) bemerkt
dazu: „Jetzt wird häufig die Ansicht laut und öffentlich gebildet,
dass eine Zelle mit ihrem Zellkerne einem Ei gleiche und alle Eier
samt den ganzen Infusorien nur solche Zellen wären. Nichts ge-
rıngeres als die ım Erdinnern geologisch wahrnehmbare Aufeinander-
folge verschiedener Formenreihen, deren Erkenntnis noch so mangel-
haft und deren Darstellung oft so wenig physiologisch richtig ist,
glaubt man sogar damit zu erklären.“ „Freilich (l. ce. S. 10) löst
sich jetzt jede Pflanzenvorstellung in der Literatur der Botanik fast
allein in Zellen auf, die so wenig das Bild einer Pflanze geben
können als Mauersteine das eines Hauses, oder es zergeht die Vor-
stellung in ein Nebelbild proteischer Fortbildung und Verwandlung,
welche alle Formbegrenzung nach allen Seiten hin aufhebt, alle
Genera und Spezies vernichtet'?).
Drittens wirkte hier der 1842 von Steenstrup entdeckte
Generationswechsel kräftig mit, der den Übergang des einen Tieres
in ein anderes direkt zu zeigen schien.
Viertens zeigte auch hier die Naturphilosophische Lehre von
der Metamorphose ihren Einfluss (Ehrenberg, l. c. S 141), da sie
überall nach Urformen suchte. Sie ließ alle Seitengebilde der
Pflanze mit Goethe aus dem Blatt entstehen und alle Unterteile
des tierischen Körpers aus Wirbeln. Sie verflüssigte also auch die
Formen.
Fünftens stimmte für dıe Variationsfähigkeit der Organismen
die geologische Formenreihe. Dazu bemerkte Ehrenberg'’): „Zu
läugnen ist es nicht, dass die bisherige häufig ausgesprochene Vor-
stellung, als wären alle neuere Organismen samt dem Menschen
die Nachkommen und vervollkommnetenr Verwandlungsstufen von
Trilobiten und Farnkräutern etwas Widerstrebendes hat.“
Dieses alles hatte zur natürlichen Folge, dass man bei der
einfachen Variabilität nicht stehen blieb, welche nur für verwandte
Formen gemeinsame Abstammung annahm, sondern vollständige
Stammbäume für Tiere und Pflanzen entwarf, kurz zu einer Deszen-
denztheorie überging. Auch diese Bestrebungen, die den seinen so
nahe kamen, waren Darwin meist unbekannt geblieben, wie nicht
18) Darüber handeln besonders: M. J. Schleiden, Die Pflanze und ihr
Leben, Leipzig 1850; O. Schmidt, Goethes Verhältnis zu den organischen Natur-
wissenschaften. Berlin 1853, 8. 8.
19) ©. G. Ehrenberg. Über noch zahlreiche jetzt lebende Tierarten der
Kreidebildung. Berlin 1840, S. 83.
102 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
nur seine historische Einleitung, sondern auch die folgenden Worte
zeigen, die er schrieb: “With respect to books on this subject I
do not know of any systematical ones, except Lamarcks.” Ob
man nun der Deszendenztheorie ein Buch, oder ein Kapitel, oder
nur einige Seiten widmete, ist nebensächlich, wenn man nur eine
deutliche Vorstellung des Deszendenzgedankens gab. Das taten
aber die nachfolgenden Autoren ?°), die alle eine Abstammung aller
Wesen aus einigen oder wenigen Formen annahmen.
de Maillet 1748.
Needham 1749.
Baumann (Maupertuis) 1751.
Maupertuis 1768.
Delisle de Sales 1777.
E. Darwın 1789—1796.
Fabricius 1781—1804.
Rodig 1801.
Treviıranus 1802.
Bertrand 1803.
Gautierı 1806.
Hagen 1808.
Voigt 1808—1817.
de Lamarck 1809.
Bonelli 1809—1830.
Fodera
Marmocchi
Doornik 1816.
Tauscher 1818.
Bander d’Alton 18201825.
Meckel 1821.
Link 1821.
Nöggerath 1822.
Reichenbach 1828-1837.
Kaup 1829, 1835.
Nodıer 1832.
Littre 1838.
Illgen 1840.
Perty 1841, 1846.
| nach Gamerano
Moritzi 1842.
Chambers 1844, 1853.
Rossmässler 1844, 1847, 1856.
Gerard 1844, 1845, 1847.
Cotta 1848.
Braun 1851, 1359.
Donders 1851.
Freke 1851.
Spencer 1852.
Unger 1852.
Schleiden 1852.
Quenstedt 1852.
Naudin 1852, 1858.
Schaaffhausen 1853.
Baumgärtner 1853, 1855.
Naegelı 1853, 1859.
Schultz-Schultzenstein 1854.
Baden Powell 1855.
Büchner 1855.
Heer, 1855, 1858.
Laugel 1856.
Kützing 1856.
Jaeger 1857.
Huxley 1859.
Wallace 1859.
Hudson Tuttle 1959.
Weinland 1860—1861.
Carpenter 1862.
Das wären also fast 60 Namen von Deszendenztheoretikern!
Würde ich nun hier auch noch die Namen derjenigen herzählen,
die, wenn sie auch keine fleischliche Deszendenz annahmen, doch
eine gleichzeitige Schöpfung aller Formen verwarfen und für die
20) Es sind natürlich zum Teil dieselben, die oben bereits für die Variabilität
der Art genannt wurden,
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 103
Organismen eine ideell gedachte, sich über weite Zeiträume aus-
dehnende Evolution verteidigten, dann könnte ıch fast alle Namen
der bedeutenderen Zoologen, Botaniker und Geologen hier zusammen-
stellen, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelebt haben.
Fast alle waren Evolutionisten, verwarfen das Sechstage-Werk und
nahmen ein sehr hohes Alter für die Erde und ihre Organismen an.
Vielleicht werden auch unter den Lesern dieser Zeilen noch einige
sein, die, trotzdem schon so oft darauf hingewiesen wurde, meinen,
dass Deszendenztheorie und Evolution dasselbe sei. Das ist aber
durchaus nicht der Fall. Es wurde diese irrige Auffassung aber eifrig
propagiert, denn ındem man Evolution und Deszendenz identifi-
zierte, konnte man sagen: „Es gebe nichts zwischen Deszendenz-
lehre und dem aus der Bibel hergeleiteten Schöpfungsbegriff.“
Dazwischen liegen aber viele vitalistische Evolutionstheorien. In
bezug auf die Verallgemeinerung dieses damals schon alten Evo-
lutionsgedankens ist aber noch besonders hervorzuheben, dass für
diesen Spencer?!) und Lyell?) mehr taten als Darwin.
Deszendenz ist einfach die materiell gedachte Evolution. Dass
die Evolution allgemein anerkannt und auf allen Universitäten ge-
lehrt wurde, bezeugen auch M. Müller und H. Lotze?). Was
Theologen und Laien dazu dachten, geht uns Naturforscher (Natura-
lists) wohl weiter nichts an. Wir haben mit der langen Reihe
Namen sattsam nachgewiesen, dass die Deszendenztheorie nicht
mehr aus den Gedanken der Forscher wich, seit sie durch de Maillet
einmal eingeführt und durch de Lamarck weiter ausgearbeitet
worden war. Das habe ıch übrigens schon in zwei Arbeiten aus-
führlich gezeigt ?*).
Burmeister schrieb denn auch 1856?) von der „Umwand-
21) A. Thomson. Progress of science in the century. London 1906, p. 426.
Biological problems of to day. Edinburgh review. Jan. 1909, p. 194. E. Clodd.
Pioneers of Evolution p. 174—183, London 1897. W. A. Locy. Biology and its
makers, p. 346, New York 1908. R. Mackintosh. From Comte to Kidd, p. 64,
London 1899. Ch. Hodge. What is Darwinisme, p. 11, London, Edinburgh 1874.
O. Zöckler. Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissen-
schaft, II, S. 806. Gütersloh 1877. R. H. Lock. Recent progress in the study
of variation 3e ed. London 1911. p. 23.
22) Judd, l. c. p. 73, 74, 81, 103, 150. Judd’s Urteil ist darum besonders
wertvoll, da er alle englischen Forscher dieser Periode persönlich gekannt hat.
Übrigens bestätigt Darwin Judd’s Auffassung in der ersten Auflage der Origin of
species S. 282.
23) M. Müller. Natürliche Religion. Leipzig 1891, p. 251. H. Lotze.
Mikrokosmus. Leipzig 1858, p. 58.
24) J. B. de Lamarck und der Einfluss seiner Deszendenztheorie von 1809
bis 1859. Zeitschr. f. Morphologie u. Anthropologie, Bd. XVIII, Stuttgart 1914.
B. de Maillet, J. de Lamarck und Ch. Darwin. Biolog. Centralblatt, S. 505,
Bd. XXXI, Leipzig 1912.
25) H, Burmeister. Zoonomische Briefe. Pd. I, 1856, Anm. S. 20.
104 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
lungstheorie der Spezies beim Übergange aus einer Schöpfung in
die andere, welche von vielen namhaften Forschern vertreten wird.“
Bei A. Gaudry lesen wir: „Lorsque M. Darwin dans son livre
sur l’origine des especes a pretendu qu’il y avait des transformations
ıl a repondu aux aspirations d’un grand nombre d’observateurs“ ?°),
Grant Allen?”), der seinen Landsmann Darwın durchaus zu
schätzen wusste, bezeugte “On every side (p. 17) evolutionism, in
its crude form was already in the air. Long before Ch. Darwin
himself published his conclusive ‘origin of species’ every thinking
mind in the world of science elder and younger was deeply engaged
upon the self-same problem °®)’” Darum konnten Darwin’s Ge-
danken so schnell Eingang finden (l. c. S. 19). Weiter setzt Allen
auseinander (l. c. S. 192), dass, wenn Darwın’s Buch nicht er-
schienen wäre, wir doch alles das wissen würden, was wir heute
wissen, dass wir auch alle von Darwin verteidigten Ideen ohne
ıhn kennen gelernt haben würden, aber sie würden dann beschränkt
geblieben sein auf: “a small philosophical and influential band of
evolutionary workers.” Durch Darwin’s Auftreten verbreiteten
sie sich über die ganze Welt! Wir sind der Auffassung, dass letz-
teres wohl nicht durch Darwın selbst geschah, sondern durch ein zu-
fälliges Zusammentreffen mit anderen Strömungen (unten S. 109). Auf
S.23 schrieb Grant Allen “that the theory of ‘natural selection’ was
the only cardınal one in the evolutionary system on which Eras-
mus Darwin did not actually forestall his more famous and
greater namesake”?®). Das klingt ganz anders als Darwin’s eigener
Satz, den wir am Anfang dieser Arbeit brachten, ın dem auch das
Wort “forestall” benutzt wurde.
Asa Gray, Darwin’s Freund, wies ausdrücklich darauf hın,
dass viele wie Darwin, Hooker, de Oandolle, Agassız und
er selbst, jeder selbständig ın der gleichen evolutionistischen Rich-
tung nach einer Erklärung suchten ®%). Dazu rechnete er auch
Dana°!). Lyell sprach die gleiche Überzeugung aus nach seinem
Besuche bei OÖ. Heer??).
26) A. Gaudry. Animaux fossiles de l’attique. Paris 1862.
27) Grant Allen. Charles Darwin, English worthies edited by Andrew
Lang. .London 1885.
28) Hierzu auch E. Krause (Ü. Sterne). Charles Darwin und sein Ver-
hältnis zu Deutschland. Darwinistische Schriften. 2. Folge, Bd. 6, Leipzig 1885,
p: 9120292.
29) 1. c. p.23. Hiermit stimmt E Th. Clodd, Pioneers of evolution. London
1897, p. 104, überein, der Allen’s Buch “excellent little monograph” nennt.
30) Letters of Asa Gray, 1893. To Dana 13. Dec.. 1856, p. 424.
31) Letters of Asa Gray, 1893, 7. Nov. 1857.
32) Ch. Lyell. Life letters and journals, Vol. II, p. 246, London 1881.
Oswald Heer. Lebensbild eines Naturforschers von K. Schröter. Zürich 1885,
p- 349.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? I05
A. Newton°?) schrieb: “There was among naturalists during
the second quarter of the nineteenth century a feeling of dissatis-
faction with respect to current ideas concerning the origin of species,
accompanied in many cases with one of expectation that a solution
might soon be found.” Gleiches besagen Dewars?*) Worte: “As
we have seen the theory was enunciated at the psychological
moment, at the time when zoological science was ripe for ıt. Most
of the leading zoologist were evolutionist at heart and were only
too ready to accept any theory which afforded a plausible explana-
tion of what they believed to have occurred. Hence the rapturous
welcome accorded to the theory of natural selection by the more
progressive biologists.” Hier ıst Dewar nicht ganz genau. Freudig
begrüßt wurde die große Materialsammlung Darwin's, wodurch
die Lehre der Variabilität besser begründet und so die Deszendenz-
theorie gestützt wurde. Die Erklärung aber, welche er zu der Des-
zendenztheorie gab, also “natural selection” wurde als formbestim-
mender Faktor nicht allein von allen bedeutenden Forschern des
Kontinents verworfen®?), sondern auch von den meisten seiner
englischen Freunde mit Ausnahme Hooker’s°®®). Darauf will ich
jetzt nicht näher eingehen. Jauchzend begrüßt wurde aber gerade
die rein materiell gedachte “natural selection” von einer anderen
Gruppe, die wir weiter unten erwähnen werden.
In seinem Buche Darwiniana?”) schrieb Asa Gray (p. 238):
“A notable proportion of the more active minded naturalists had
already come to doubt the received doctrine of the entire fixity of
species and still more than that of their independent and super-
33) Macmillians magazine Febr. 1888, p. 241 nach Judd, |. c.
34) D. Dewar, F. Finn. The making of species. London 1909, p. 3.
35) Ich nenne einstweilen K. E. von Baer, Bronn, Köllicker, Nägeli,
Virchow. Vergl. Krause l. c.
36) Über die Differenzen zwischen Darwin und seinen Freunden Wallace,
Lyell und Asa Gray vergleiche: E. Krause. Ch. Darwin und sein Verhältnis
zu Deutschland. Leipzig 1885, S. 128, 133, 146. Asa Gray. Letters 1893,
18. Febr. 1862, 20. April 1863, 7. Juli 1863. Asa Gray. Natural science and
religion. New York 1880, p. 48, 72. J. Marcou. Life letters and works of
Agassiz, New York 1896, p. 117. Ch. Lyell. Principles of geology, 10 ed.
1868, II, p. 613. Life letters journal. London 1881, II, p. 363, 365, 366,
442. E. Th. Clodd. Pioneers of evolution, 1897, p. 133, 149. R. Wallace.
Contributions to the theory of natural selection, London 1870. Für Huxley
vergleiche: Life and letters of Huxley, 1900, I, S. 173 und Radl, l.c., II, S. 156.
Weiter: Une vietime du Darwinisme. Revue des deux mondes. 15. Dee. 1900.
E. B. Poulton. Essays on evolution. Oxford 1908, p. 201-202. Clodd. 1. ce,
p- 22, 90, 92. Für Herschel vergleiche W. May. Wissenschaftliche Rundschau,
Heft 18, 1911—1912. G.J. Romanes kehrte ganz in den Schooß der Kirche zu-
rück. Life and letters of Romanes, London 1896, am Schluss.
37) Darwiniana. Essays and reviews pertaining to Darwinism,. New York
1876.
06 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
} gs 8
natural origination.” Schleiden behauptete: „Die®*) hier gegebene
historische Übersicht wird wohl jedem klar machen, dass die Dar-
win’schen Lehren nur dem mit der Wissenschaft gänzlich unbe-
kannten als etwas Neues und Unerhörtes erscheinen konnten.“ Bei
A. de Candolle lesen wir: „I y a?) des notions tres importantes
qui se repandent spontanement et qui s’imposent pour ainsı dire
a une certaine epoque sans qu’on puisse les attribuer a tel ou tel
individu. C’est le cas de la transformation des etres organıses dans
la serie des temps, quı etait deja admire implieitement, de quelque
maniere, par la plupart des naturalistes, comme un fait incomprehen-
sıble, lorsque l’idee neuve de la selection offrant un moyen d’expli-
cation vient donner ä la theorie un appui tres important.“ Schon
im Jahre 1855 hatte De Candolle die Frage, ob neue Formen
aus den früheren entstehen oder geschaffen wurden, als die große
Frage der Naturgeschichte des 19. Jahrhunderts bezeichnet *°).
G. Jäger nannte sie „diese Jahrhunderte alte Streitfrage“ *'). Sehr
bezeichnend schrieb auch D. Wetterhahn. „Auch hieraus®?) ıst
ersichtlich, dass Darwin’s Buch keineswegs wie ein Blitz aus
heiterem Himmel in die im Immunitätsglauben ruhende wissen-
schaftliche Welt gekommen ist.“ Der beste Beweis hierfür ist wohl
der buchhändlerische Erfolg, der nicht nur Darwın's Werk, sondern
auch den älteren echt evolutionistischen Werken von Ch. Lyell
(Principles of geology) und von R. Chambers (Vestiges of Creation)
zufiel.
Der erste Band von Lyell erschien 1829 und wurde in 1500
Exemplaren aufgelegt, nach 3 Monaten waren bereits 650 Exem-
plare verkauft. Mit dem zweiten Bande erschien denn auch 1832
eine neue Auflage des ersten Bandes, und mit dem dritten Bande
eine zweite Auflage des zweiten Bandes. 1834 wurde das ganze
dreibändige Werk von neuem verlegt. In 10 Jahren erschienen
so sechs Auflagen und ım ganzen zwölf Auflagen). Die Vestiges
of Creation erlebten von 1844—1853 zehn Auflagen. Es war denn
auch wohl kein Zufall, dass Darwın ın dem Erscheinungsjahr der
Vestiges (1544) seinen ersten kurzen Entwurf vom Jahre 1842
38) Der Darwinismus und die mit ihm zusammenhängenden Lehren. Unsere
Zeit, 1869, p. 264.
39) Histoire des sciences et des savants. Gendve 1882, 2e ed., p. 481. Ähn-
lich in seinem Artikel „Darwin“. Arch. des sciences de la bibliotheque universelle,
T. VII, Mai 1882.
40) A. de Candolle. Geographie botanique raisonnee 1855. Einleitung.
41) Schriften zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien.
Bd. I, 1862, 8. 81-110.
42) D. Wetterhahn, Beiträge zur Geschichte der Entwicklungslehre in
Kosmos, Bd. 16, 1885, S. 410.
43) J. W. Judd. The coming of evolution. Cambridge 1910.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 107
(35 Seiten) zu einem neuen Entwurf von 230 Seiten ausdehnte **).
Wir wissen ja, dass Darwin die Vestiges eifrig studiert hat®?).
Über den großen Einfluss, den dieses Buch auf Darwin ausübte,
handelte besonders Judd*). Allerdings verurteilten die englischen
Autoritäten das Buch Chambers ebenso wie Sedgwick, Whewell,
Buckland, Henslow, de la Beche das Buch Lyell’s verurteilt
hatten’). Es wirkt geradezu komisch, die abfällıgen Kritiken auf
erstgenanntes Buch zu lesen von Leuten, die sich später auf Dar-
win’s Seite stellten und gegen diesen dieselben Argumente hätten
benutzen können, die sie gegen Chambers angeführt hatten ®*).
Zum Schluss noch das Zeugnis eines Mannes, der die Literatur
wie wenige kennt:
Radl schreibt (l. c. S. 113): „Nicht bei allen lautet die Ant-
wort auf die Frage nach der Entwickelung ganz gleich, aber ihre
positiven Antworten sind da nebensächlich, das wichtigste ıst, dass
fast alle großen Biologen aus den 30er und 40er Jahren des 19. Jahr-
hunderts mit Interesse entwickelungsgeschichtliche Fragen ver-
folgten.“
Alle diese Autoren bezeugen also dasselbe, was ich mit meinem
Namenverzeichnis bewiesen habe. Nun lese man oben nochmals
Darwin’s selbstgefälliges Eigenlob und die Worte Mantegazza’s
oder auch die folgende Stilprobe aus Haeckel: „Ein einziges
kolossales Dogma*?) beherrscht die gesamte Wissenschaft nach Art
des drückendsten Absolutismus. Denn nur als ein kolossales Dogma,
welches ebenso durch hohes Alter geheiligt und durch blinden
Autoritätsglauben mächtig, wie ın seinen Prämissen haltlos und ın
seinen Konsequenzen sinnlos ist, müssen wir hier offen die gegen-
wärtige immer noch herrschende Ansicht bezeichnen, dass die
Spezies oder Art konstant und eine für sich selbständig erschaffene
Form der Organisation ist.“ „Nur durch Annahme ‚einer völligen
Verstumpfung der Organe des Anschauens‘ begreift man, wie dieses
in sich hohle und widerspruchsvolle Dogma 130 Jahre hindurch
fast unangefochten bestehen und wie dasselbe nicht allein dıe Masse
der gedankenlosen Naturbeobachter, sondern auch die besten und
denkendsten Köpfe der Wissenschaft beherrschen konnte.“ „Einem
44) Judd. 1.c. p. 121—122. Ch. Krause Darwin und sein Verhältnis
zu Deutschland. Leipzig 1885, S. 69—70.
45) Fr. Darwin. Life and letters of Ch. Darwin I, S. 302, Anm. New
York 1887.
46) 1. c. S.73, 74, 81, 103, 150.
47) Judd. 1 c. p. 70, 72.
48) Siehe Th. Huxley, Scientific memoirs. Supplementary volume p. 21.
Für Herschel vergleiche A. R. Wallace, The wonderful century p. 377—378.
London 1898, 1903.
49) Generelle Morphologie. Berlin 1866, Bd. I, S. 90.
108 Kohlbrugge. War Darwin ein originelles (Genie?
Götzen gleich steht allmächtig und allbeherrschend dieses paradoxe
Dogma da.“
So schrieb man Geschichte! Das hat man dem Volke
und einer Generation von jungen Gelehrten eingelöffelt! Warum?
Nun, weil der Darwinismus, wie C. Vogt?) bezeugte, „zu einer
Religion geworden war, auf die der Darwinist ebenso schwörte wie
ehemals die Gläubigen auf die Bibel und den Koran.“ Darum
musste natürlich auch alles richtig sein, was Darwin in selbstge-
fällıger Weise über sıch selbst und sein Werk geäußert hatte. Darum
musste Darwın zum unantastbaren Heiligen kanonisiert werden. —
Auch das Tatsachenmatersal, auf welches Darwın sich bei seinen
Spekulationen stützte und die wichtigsten sich daran anschließenden
Verallgemeinerungen waren schon vor Darwin gesammelt und be-
kannt, wenn er auch eine ganze Reihe höchst wichtiger Beobach-
tungen hinzufügte. Darauf will ich jetzt nicht eingehen, ich hoffe
später darauf zurückzukommen. Ich will hier einstweilen nur darauf
hinweisen, dass man das Material zu einem Buche wie die “Origin
of species” bereits bei Meckel°!), Bronn°?) und Carpenter”)
vorfinden konnte. Originell in Darwin’s Zusammenstellung war
nur°*) der Gedanke, dass der schon vielfach erörterte Kampf ums
Dasein nicht nur das ungeeignete ausmerze, sondern auch neue
Formen aus der unbegrenzt gedachten Variabilität hervorrufen
könne. In dieser “Natural selection” genannten Idee sah Darwin
aber selbst nicht das Hauptziel seiner Tätigkeit, denn er schrieb°°):
“Hence ıf I have erred ın giving to natural selection great power,
which I am far from admitting, or in having exaggerated its power,
which ıs in itself probable, I have at least, as I hope, done good
service in aidıng to overthrow the dogma of separate creations°®).
50) Des Darwinisten Zweifel. Frankfurter Zeitung, 1875. Radl. l.c., II, S. 170.
1) J. F. Meckel. System der vergleichenden Anatomie. 1821, Bd. I.
2)H. G. Bronn. Morphologische Studien über die Gestaltungsgesetze.
Leipzig 1858. Untersuchungen über die Entwickelungsgesetze der organischen Welt.
Stuttgart 1854. Nach R. Burckhardt (Geschichte der Zoologie, S. 114. Leipzig
1908) gehören sie zu den wichtigsten Vorarbeiten, auf denen Haeckel fußte.
53) W. B. Carpenter. Principles of general and comparative physiology,
1839, 1841, 1854.
54) Das versichert auch E. Häckel. Generelle Morphologie 1866, II, p. 165
und Natürliche Schöpfungsgeschichte, 9. Auflage, S. 107, 108. Weiter A.R. Wal-
lace. Darwinismus. Darstellung der Theorie der natürlichen Zuchtwahl. 1889, im
Vorwort. F. Rolle. Charles Darwin’s Lehre von der Entstehung der Arten.
Frankfurt 1867. C. Naegeli. Entstehung und Begriff der naturwissenschaftlichen
Art. München 1865, S. 16, Anmerk. Grant Allen in Fortnightly Review 1897,
vol. 61, p.254. W.A.Locy. Biology and its makers. New York 1908, p. 346—348.
M. Hoernes. Natur und Urgeschichte des Menschen. Wien 1909, S. 46.
55) The descent of man. London 1871, Vol. I, p. 153.
56) Vergl. Asa Gray an Darwin. July 21, 1863. ‘But as you say now,
you don’t so much insist on natural selection if you can only have derivation of
species.” Dasselbe Fr. Darwin: Charles Darwin. 1892, p. 246.
)
5
>
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 109
Wir haben oben gesehen, dass dieses Dogma der Systematiker
unter den Naturforschern schon längst seinen Einfluss verloren
hatte. Um dieses zu bekämpfen, brauchte kein Darwin mehr zu
kommen. Niemand nahm es ihm übel, dass er nochmals dieses
längst verblichene Dogma angriff und dies weit kräftiger als seine
Vorgänger tat, wodurch die Variabilität der Art über allen Zweifel
erhoben wurde. Was man an ihm verurteilte, war, dass er viel zu
viel mit seiner ja an und für sich nicht abzuleugnenden “natural
selection” und so alles mechanisch erklären wollte. Übrigens ist
es ja richtig, dass er obengenanntes Dogma, das auch heute beı
Theologen und Laien noch wohl bekannt ist, bei vielen von diesen
umgestoßen hat, gleichzeitig mit dem Glauben an die gesetzgebende
Kraft des Buchstabens der Bibel für Erscheinungen der Natur.
Nicht aber durch eigene Kraft gelang ıhm letzteres, sondern durch
den deutschen philosophischen Materialismus. Dieser war von dem
agnostischen Positivismus von Comte’’) und von Feuerbach’s
Kritik der Religion ausgegangen und von Strauss, Büchner,
C. Vogt, Moleschott u. a.°*) . propagiert worden, denen sich
Huxley mit seinem Agnostizismus anschloss. Es ging diese Strö-
mung zum Teil aus dem Abscheu gegen den Idealismus der Natur-
philosophie hervor.
Diese Materialisten °’) fanden in den Lehren Darw in’s geeignetes
Material für ihre Naturbetrachtungen, zumal es nach ihrer Auffassung
diesem Engländer gelungen war, an die Stelle der übernatürlichen
Kraft eines Schöpfers oder der Zweckmäßigkeit das mechanisch
wirkende Selektionsprinzip oder dieblinde Notwendigkeit zu stellen °°).
Darwin’s Arbeit wurde dann aber besonders durch Haeckel aus-
genutzt zum Ausbau seiner monistischen Religion, zu deren Dogma®')
sie gehört‘). Zwar interessiert dieses Dogma, wie überhaupt jedes
57) R. Mackintosh. From Comte to Benjamin Kidd. London 1899.
58) Vergleiche: E. Daequ&. Der Deszendenzgedanke und seine Geschichte.
S. 111, München 1904. Manche von den damaligen Materialisten wollten übrigens
anfangs auch nichts von Darwin wissen. Vergl. Wetterhahn in Kosmos, 1855,
S.405—408 und E. Löwenthal. Herr Schleiden und der darwinistische Arten-
Entstehungs-Humbug. Berlin 1864.
59) L. Weiß. Der Streit über die Berechtigungen der Realschulen beleuchtet
durch die Untersuchung der Frage: Was ist Naturwissenschaft? Ruhrort 1869.
60) J. Moleschott in seinen Vorträgen (©. R. Darwin, Denkrede, Vor-
träge, Gießen 1883, S. 19) zeigte den Anschluss der Materialisten an Darwin.
61) Von einem Dogma spricht auch E. Dacque. Der Deszendenzgedanke
und seine Geschichte. München 1904, S. 118. ©. v. Nägeli. Mechanisch-physio-
logische Theorie der Abstammungslehre. München 1884. Einleitung, S. 6. „Die
Lehre wurde dogmatisiert, systematisiert, schematisiert.“ B. Erdmann. Über den
modernen Monismus. Deutsche Rundschau März 1914. 8.325 „Neues Evangelium“,
S. 327 „religiöse Grundstimmung“, S. 328 „religiös Gesinnten“.
62) Dass Darwin sich stets mehr an diese Partei anschließen musste, zeigte
Krause. Charles Darwin und sein Verhältnis zu Deutschland. Leipzig 1885,
410 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
Dogma, den Naturforscher als solchen nicht direkt, aber es hat die
Naturwissenschaft sehr unter dieser Strömung gelitten, da sie, wie
schon Sachs hervorhob‘°), dadurch zu einer rein deduktiven Wissen-
schaft wurde, also ganz wie ım Mittelalter, wenn auch in anderer
Weise.
Vielleicht wird die neue Zeit eine Losringung aus diesem
von England ausgegangenen Einfluss und eine Rückkehr zur induk-
tiven Methode bringen. Dann wird man auch Darwın’s Beiträge
zur Naturforschung, aber entkleidet von dem ihnen besonders von
seinen Freunden umgehängten halb philosophischen, halb religiösen
Mantel, richtiger einschätzen und verwerten können. Es war in
den vergangenen Jahrzehnten ja fast unmöglich geworden, Dar-
win’s Arbeiten an sich und rein sachlich zu betrachten und es
wurde schon öfter darauf hingewiesen, dass Darwin zu dem Stoß-
seufzer berechtigt gewesen wäre: „Gott beschütze mich vor meinen
Freunden, mit meinen Feinden will ich schon selbst fertig werden“ ®*).
Das Schicksal teilt er mit Goethe. Beide trifft aber auch dieselbe
Schuld. Denn ebensowenig wie Goethe sich kräftig gegen die
Auswüchse seiner Naturphilosophie widersetzte, tat dies Darwin
ın bezug auf seine deutschen oben aufgezählten Freunde und
seinen Trabanten Huxley, deren naturphilosophische Werke er
zitierte und rühmte.
Der französische Naturphilosoph Serres behauptete schon vor
Darwin: „L’universest expliqu& et nous le voyons, c’est
un petit nombre de principes generaux et feconds qui
nous en ont donn& la clef!*
So etwas könnte Haeckel auch geschrieben haben! Man nahm
eben alles vorweg, woran noch Jahrtausende arbeiten müssen. Das
hatte zur Folge, dass man die Tatsachen der Theorie zur Liebe
fälschte. Was der aus deutscher Schule hervorgegangene Uuvier,
ein Joh. Müller, Nägeli, v. Baer, Bronn u. a. geleistet haben,
wird stehen bleiben, und auf diese sollte die deutsche Wissenschaft
zurückgreifen. Von dem aber, was nach 1860 geschah, wird sehr
viel von neuem untersucht werden müssen, weıl man mit Sıeben-
meilenstiefeln gehen wollte und die Theorie mehr liebte als die
Tatsachen. Ich glaube, dass wir die Nachwirkungen dieser bösen
Periode am besten überwinden durch ein „ıgnoramus“ und nun
tüchtig weiter arbeiten, nicht um in amerikanischer Weise in Er-
staunen zu setzen, sondern um wirklich gutes Material zu liefern.
S. 166. Die darwinistischen Schriften Krause’s wie der Kosmos propagierten
diese Richtung.
63) J. Sachs. Geschichte der Botanik. München 1866, p. 184—185.
64) Difficulties of the theory of natural selection. The mouth 1869, S. 142.
Westminster review, Januar 1869.
Abderhalden, Abwehrfermente. 111
Dabei braucht man aber die großen Ziele und die vorhandenen
Theorien gar nicht aus den Augen zu verlieren. An ein hoffnungs-
loses „ıgnorabım us“ sollte niemand denken! Der ernste Forscher
soll heute in bezug auf Theorien hemmen und kritisieren und zu
weit gehende Schlüsse einschränken. Besonders in dieser Zeit der
Reklame! Ab und zu ist es ja auch wieder gut, wenn einer einmal
eine gewagte Hypothese ausspricht, wir können ja nicht ohne Ar-
beitshypothesen auskommen, aber man soll sie nicht dogmatisieren
und vor allem nicht wieder ın die Fehler der Schule verfallen, ın
der wir groß geworden sind, die das „L’univers est explique“ als
Wahlspruch hatte.
Emil Abderhalden: Abwehrfermente.
Das Auftreten blutfremder Substrate und Fermente im tierischen Organismus unter
experimentellen, physiologischen und pathologischen Bedingungen. 4. Aufi. Berlin
1914, Springer. 404 + XV S., 55 Textfiguren und 4 Tafeln.
Die erste Auflage dieses Buches ıst vor 2 Jahren erschienen
und unter ihrem damaligen Titel „Schutzfermente* an diesem Ort
von A. Fodor, einem Mitarbeiter des Verf., besprochen worden.
Die Grundgedanken A.'s, die ıhn zu seinen Untersuchungen führten
und die er durch diese bestätigt fand, sind dort klar wiedergegeben
worden (Biol. Centralbl., 33. Bd., S. 105).
Nach genau 2 Jahren ist die 4. Auflage erschienen, der Um-
fang des Buches ist mehr als verdoppelt, das Verzeichnis der nach
der 1. Auflage erschienenen Arbeiten, die das neu eröffnete Feld
beackern, umfasst allein 335 Nummern und ist nach des Verfassers
Angabe nicht einmal ganz vollständig. Es ist das wohl ein buch-
händlerischer und anregender Erfolg, wie er im Gebiet der reinen
Wissenschaft (die medizinischen Heilmittel beiseite gelassen) noch
nicht da war. Dieser äußere Erfolg beruht gewiss zu sehr großem
Teil darauf, dass die neuen Theorien und Methoden, wenn auch
keine therapeutische, so doch diagnostische Anwendbarkeit ın der
praktischen Medizin in Aussicht stellten.
Fragen wir nun, welche Fortschritte durch diese enısige Tätig-
keit erreicht sind, so finden wir die Theorien des Verfassers un-
verändert; auch die Namensänderung, die damit begründet wird,
dass die Bezeichnung als „Abwehrfermente“ nicht die Behauptung
enthalte, dass die neu, gegen blutfremde Stoffe gerichteten Fer-
mente jedesmal einen wirklichen Schutz darstellten, ist nicht wesent-
lich. Eine Fortbildung seiner Anschauungen nach den vielfachen,
großenteils klinischen Untersuchungen ist aber die Vorstellung, dass
ganz spezifische Fermente gegen, sonst noch gar nicht definierte,
Eiweißstoffe der einzelnen Organe und Zellformen auftreten; nach
den Tierexperimenten, auf die sich die 1. Auflage hauptsächlich
stützte, schienen die „Schutzfermente* gerade nicht so spezifisch
zu sein wie die Antikörper, die uns die Immunitätsforschung bis
dahın kennen gelehrt hatte, und bei denen sich wohl die Art-
419% Abderhalden, Abwehrfermente.
spezifität, aber nur ausnahmsweise Organspezifität nachweisen ließ.
Eine befriedigende Aufklärung für dies verschiedene Ergebnis der
ersten und der neueren Untersuchungen finden wir nicht und so
scheint uns, trotz der ungeheuren darauf verwendeten Mühe, das
ganze Forschungsgebiet noch ganz im Bereich der Hypothesen zu
liegen. A. betont selbst die Widersprüche zwischen den Ergeb-
nissen verschiedener Untersucher und die sehr zahlreichen Fehler-
quellen der Methoden und dass, infolge ungenügender Beherrschung
derselben oder ungenügender Veröffentlichung, „der allergrößte Teil
dieser Forschungen nicht vollwertig“ sei. Er glaubt aber diejenigen
als zuverlässig ansehen zu dürfen, die in Übereinstimmung mit den
Untersuchungen in seinem eigenen Institut, die Zuverlässigkeit der
Methode ergeben, insbesondere zur Diagnose der Schwangerschaft
durch den Nachweis von Ferment im zirkulierenden Blut, das Pla-
zentareiweiß abbaut. Andere von ıhm unabhängige Forscher, und
zwar auch solche, die einen wohlbegründeten-Ruf als gewissen-
hafte physiologische Chemiker besitzen, waren aber nicht imstande,
auf diesem als Prüfstein dienenden Gebiet, überhaupt nur verwert-
bare Ergebnisse zu erzielen. Dem Referenten erscheint daher die
Zuverlässigkeit der A.’schen Methoden und damit die Grundlage
seiner Lehre noch nicht sicher erwiesen. Auch die Ausführung,
dass er zu den gleichen Ergebnissen mit zwei, voneinander unab-
hängigen Methoden (der Dialysier-Ninhydrinprobe und der „optischen
Methode“) gelangt sei, erbringt diesen Beweis nicht. Denn einmal
gibt er selbst zu, dass diese beiden Verfahren gar nicht auf durch-
aus gleiche Fermente sich beziehen. (einmal wird die Überführung
durch Kochen koagulierten Eiweißes in dialysable Abbaustoffe nach-
gewiesen, das andere Mal eine Änderung des Drehungsvermögens
an wässerigen Lösungen alkohollöslicher Peptone, also schon stark
hydrolytisch abgebauter Eiweißstoffe), andererseits sind beide Ver-
fahren gleich heikel und sehr vielen Fehlerquellen ausgesetzt, drittens
ist die „optische Methode“ nur erst selten und fast gar nicht außer-
halb des Instituts des Verfassers angewendet worden. Erscheinen
so die Grundlagen der Lehre durchaus nicht ganz gesichert, so
fällt um so mehr auf, welche neue weittragende Folgerungen, frei-
lich immer in hypothetischer Form, der Verfasser auf ihr aufbaut.
Die zweite Hälfte des Buches ist ausschließlich der Beschrei-
bung des Untersuchungsverfahrens und seiner Fehlerquellen ge-
widmet. Hier sind auch, neben den zweı genannten, noch einige
Verfahren beschrieben, die in besonderen Fällen oder zur weiteren
Kritik der älteren gebraucht werden sollen, die aber, nach des Ver-
fassers eigener Meinung, noch nicht zur völligen Zuverlässigkeit
durchgebildet worden sind. Jedenfalls wırd jeder, der sich mit
diesem ebenso interessanten wie schwierigen Forschungsgebiet be-
fassen will, diese neueste Auflage des Buches zum Führer wählen
müssen. W.
Verlag von Be Thie me in Tas Anlonden 15. — DEE der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
DEI K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
r
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13,
einsenden zu wollen.
Bd. XXXY. 20. März 1915. x 8.
Inhalt: Wasmann, Uber Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. — Nachtsheim, Entstehen
auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? — Polimanti, Physiologische Untersuchungen
über das pulsierende Gefäß von Bombyx mori L. — Fischer, Berichtigungen zu O. Proch-
now’s analytischer Methode bei den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen. —
Schneider, Die rechnenden Pferde — Sedgwick und Wilson, Einführung in die allge-
meine Biologie.
Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung'').
(Zugleich 208. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.)
Von E. Wasmann S. J. (Valkenburg, Holland).
Schon 1910 (Biol. Centralbl. XXX, Nr. 13, S. 457) habe ich
darauf aufmerksam gemacht, dass unter den fünf verschiedenen
Erklärungsversuchen für die bisher bekannten anormal gemischten
Kolonien aus Rassen der rufa-Gruppe (rufa-truncicola, pratensis-
truneiecola, rufa-pratensis) auch die Kreuzungshypothese berück-
sichtigt werden muss, um zu einem allseitigen Verständnis der sehr
mannigfaltigen tatsächlichen Befunde zu gelangen. Beispiele für
die übrigen Erklärungen durch primäre oder sekundäre Allome-
trose in ihren verschiedenen Formen der Allianz- und Adoptions-
kolonien etc. wurden dort bereits angeführt. Bei Besprechung der
Kreuzungshypothese wurde bemerkt, dass wegen der früheren Er-
1) Eine vollständigere Behandlung dieses Themas wird gegeben werden im
II. Bande des im Druck befindlichen Buches „Das Gesellschaftsleben der Ameisen.
Das Zusammenleben von Ameisen verschiedener Arten und von Ameisen und Ter-
miten. Gesammelte Beiträge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen“. 2, Aufl.,
Münster i. W. 1915.
XXXV. 8
114 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
scheinungszeit der geflügelten Geschlechter von rufa und pratensis
gegenüber jenen von trumncicola die Kreuzungsmöglichkeit zwischen
den beiden ersteren Rassen eine weit größere ist als zwischen ihnen
und Zruncicola, und dass hieraus auch die größere Häufigkeit der
rufo-pratensis-Kolonien im Vergleich zu den rufo-truncicola- und
den truncicolo-pratensis-Kolonien ganz zwanglos sich erklären lasse.
Ich fügte ferner damals schon bei: „Da nach den Mendel’schen
Gesetzen der Rassenhybriden in der zweiten Hybridengeneration
eine Spaltung der elterlichen?) Merkmale eintritt, könnten die
aus Kreuzung von rufa und truncicola oder truncicola und pratensis
stammenden Kolonien sogar Arbeiterinnen beider Formen scharf
getrennt enthalten, ohne dass wir deshalb genötigt wären, auf
die Anwesenheit von Königinnen beider Rassen, also auf Allome-
trose, ın jener Kolonie zu schließen.“
1. Ein solches Beispiel bietet die in jener Arbeit von 1910
(S. 459) provisorisch in Klammern erwähnte pratensis-truneicola-
Kolonie bei Luxemburg, über welche die Beobachtungen und die
genauen Untersuchungen der Nestbewohner noch nicht abgeschlossen
waren. Ich glaubte sie damals für eine stark geschwächte pratensis-
Kolonie halten zu sollen, in welcher nachträglich auch eine Königin
der Bastardform truncicolo-pratensis Aufnahme gefunden hatte.
Diese Erklärung musste ich jedoch seither bei näherer Prüfung der
tatsächlichen Verhältnisse, die hier für die Mendel’sche Hypothese
ohne Zuhilfenahme einer Allometrose sprechen, wesentlich ändern,
wie sich aus dem folgenden Berichte ergibt.
Die gemischte Kolonie wurde am 12. April 1910 auf dem Süd-
abhang von Schötter-Marial bei Luxemburg-Stadt von mir und
meinem Kollegen H. Klene S. J. entdeckt und als truncicola-
Kolonie Nr. 19°) in mein stenographisches Tagebuch eingetragen.
Leider war sie Ende Juni (während meiner Abwesenheit in Lipp-
springe) vollständig ausgewandert und wurde nicht wiedergefunden.
Die Kämpfe mit einer benachbarten starken Polyergus-Kolonie
(Nr. 7%), mit rufibarbis und glebaria als Sklaven) hatten sie wahr-
scheinlich vertrieben.
Jene pratensis-truncicola-Kolonie hatte ihr Nest unter einem
großen Stein und war verhältnismäßig schwach; ein Haufenbau
über dem Steine war nicht vorhanden, woraus zu schließen ist,
dass die Kolonie noch relativ jung war. Die Gesamtzahl der Ar-
2) Richtiger muss es heißen der „großelterlichen Merkmale,“ da es ja um die
F?-Generation sich handelt, und die elterlichen Unterschiede in der F’!-Generation
manchmal gar nicht zur phänotypischen Erscheinung kommen.
3) Im III. Teil der ‚Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg“ (Arch.
trimestr. Inst. Grand-Ducal IV., fasc. 3 u. 4, 1909) schließt die Statistik der trun-
ceicola-Kolonien bei Luxemburg-Stadt mit Nr. 16 (S. 32).
4) Ebenfalls im III. Teil der „Ameisen v. L.“ noch nicht enthalten,
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 415
beiterinnen, die ich während meiner Besuche in diesem Neste
sah, betrug höchstens 250. Unter diesen waren etwa '/, reine
truncicola (von 5-8 mm), */, reine pratensis (von 4,5—8 mm); Über-
gänge zwischen beiden Rassen waren bloß spärlich und in schwachem
Grade vorhanden, indem nur einige wenige trumeicola (von 5—6 mm)
auf Kopf und Rücken einen Anflug von grauschwarzer pratensis-
Färbung zeigten’). Entflügelte Weibchen fand ich bei mehreren
aufeinander folgenden Untersuchungen des Nestes im ganzen 12.
Es waren sämtlich pratensis-Königinnen von verschiedener
Größe (8,5 —10 mm), aber mit weniger mattem Rücken und Hinter-
leıb als die Normalform, durch stärkeren Glanz (besonders des
Hinterleibes) und schwächere Pubescenz einen deutlichen r«fa-Ein-
schlag verratend aber nicht so stark glänzend wie rufa! —,
während die Färbung ganz den dunklen pratensis-Charakter hatte,
sowohl am Rumpf wie an den Extremitäten; nur ein Individuum
mit ein wenig helleren, teilweise braunroten Beinen war darunter ®).
Meine anfängliche Annahme, dass auch eine echte, hellgefärbte
truncicola-Königin im Neste sich befinde, musste ich bei wieder-
holter sorgfältiger Untersuchung des Nestes als irrtümlich aufgeben.
Auch eine als solche phänotypisch erkennbare Bastardkönigin trun-
cicolo-pratensis war nicht zu finden.
Wie ist die sonderbare Mischung dieser Kolonie und der schein-
bare Widerspruch zwischen dem phänotypischen Charakter der
Weibchen und der Arbeiterinnen in derselben zu erklären? Meines
Erachtens haben wir hier einen interessanten Fall Mendel’scher
Kreuzung vor uns, der folgendermaßen zu deuten ist:
Die zahlreichen entflügellen Weibchen im Neste gehörten
wahrscheinlich der ersten Tochtergeneration (F!), einer Kreu-
zung zwischen einem trumneicola-g und einem pratensis-9 an und
folgten daher dem „Uniformitätsgesetz“, indem sie sämtlich phäno-
typisch untereinander gleich waren. Zugleich zeigten sie „totale
Dominanz“ der dunklen pratensis-Färbung über die „völlig rezessive*
helle truncicola-Färbung (Dominanz von Schwarz über Rot), ver-
bunden mit einem scheinbar neuen, in Wirklichkeit aber atavistischen
Einschlag”) von rufa-Skulptur. Ein Teil der im April 1910 vor-
5) Individuen mit angedunkeltem Rücken findet man übrigens unter den mitt-
leren und kleineren Arbeiterinnen auch in reinen, ungemischten Kolonien von trun-
cicola.
6) 6 Königinnen und mehrere Dutzend Arbeiterinnen aus dieser Kolonie be-
finden sich in meiner Sammlung. Der Färbungsgegensatz zwischen den hellroten
Arbeiterinnen von truncicola und den fast schwarzen von pratensis ist sehr auf-
fallend.
7) Solche atavistische Rückschläge sind in der ersten Filialgeneration von
Rassenkreuzungen im Pflanzen- wie im Tierreich bekanntlich oft beobachtet, z. B.
das Wiederauftreten der Wildfärbung bei Kreuzung von andersfarbigen Mäuserassen.
Siehe die Werke von Bateson, Baur, Goldschmidt, Haecker u.s.w. Diese
8*
116 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
gefundenen pratensis-Arbeiterinnen — vielleicht die Hälfte derselben
oder ?/,. der gesamten Arbeiterzahl — gehörte wahrscheinlich eben-
falls der F!-Generation an; auch bei ihnen dominierte daher die
dunkle pratensis-Färbung total über die helle truncicola-Färbung,
d.h. es waren keine truneicola unter ihnen. Ein eventueller Skulptur-
einschlag von rufa konnte bei den Arbeiterinnen®) ohnehin nicht
so deutlich sichtbar werden wie bei den Weibchen.
Aus der Paarung von in jenem Neste erzogenen Männchen
der F'-Generation mit Weibchen der nämlichen Generation?) ging
dann 1909 durch Inzucht die zweite Tochtergeneration (F?)
hervor, in welcher nach dem „Spaltungsgesetz“ die Komponenten
des großelterlichen Eigenschaftspaares in den verschiedenen Gruppen
der Enkel getrennt zutage treten. Nach dem Spaltungsgesetz
bei Monohybriden haben wir hier wegen der Dominanz von pra-
tensis über truncicola das phänotypische Verhältnis von 3:1 zu er-
warten, d.h. auf eine truncicola-Arbeiterın kamen drei pratensis-
Arbeiterinnen!®). Für die Richtigkeit dieser Erklärung spricht auch
der Umstand, dass unter den truneicola-Arbeiterinnen trotz ihrer
geringen Zahl sich relativ mehr große Individuen befanden als
unter den pratensis, wo die mittleren und kleinen weit überwogen;
die größten Arbeiterinnen sind aber als der jüngeren Generation
angehörig zu betrachten, da bei Formica die Größe der Arbeiterinnen
von der ersten Generation an zunimmt!!). Die Gesamtzahl der
Arbeiterinnen beider Generationen F! und F? musste daher aus */,
pratensis und !/, truncicola sich zusammensetzen, wie es die Be-
funde von 1910 zeigten. Leider konnte wegen des Verschwindens
der Kolonie dıe Entwickelung der Ende April zahlreich vorhandenen
Eierklumpen nicht verfolgt werden. Unter den frisch entwickelten
„Hybridatavismen“ sind nach Abel die einzigen bisher experimentell bestätigten
Entwickelungsrückschläge. Vgl. die Diskussion über das Thema .‚Atavismus“ in
den Verh. d. Zool. Bot. Gesellsch. Wien vom 26. Febr. und 12. März 1913 (Verh.
1914, Heft 1 u. 2).
8) Einige der betreffenden kleinen bis mittelgroßen (5—6,5 mm langen) pra-
tensis jener Kolonie zeigen allerdings eine schwächere, rufa-ähnlichere Behaarung
als die übrigen, namentlich als die größeren Exemplare aus demselben Neste (in
meiner Sammlung).
9) Wahrscheinlich waren nicht alle die zahlreichen entflügelten Weibchen von
1910 befruchtet, sondern nur eines oder zwei. Sonst hätte die Zahl der Arbeiterinnen
eine größere sein müssen; auch war der Hinterleib der meisten Arbeiterinnen nur
schmal, besonders der kleineren. — Die Fortpflanzung durch Inzucht (Paarung in
oder nahe bei dem Neste) kommt bei rufa und pratensts nicht selten vor.
10) Beide Rassen sind relativ (im Vergleich zu rufa) stark behaart. Bei
truncicola sind die abstehenden Haare gelb, bei pratensis grau.
11) Es kommt hierbei nicht so sehr auf das Alter der Königin an wie auf
jenes der Kolonie. Eine junge Königin erzeugt in einer bereits einigermaßen er-
starkten Kolonie schon in der ersten Generation größere Arbeiterinnen, weil die Er-
nährungsbedingungen der Larven günstigere sind.
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 417
Ameisen hätten sich die Prozentverhältnisse von pratensis und
truncicola genau feststellen lassen.
2. Es ist dies wohl der erste Versuch, die Mendel’schen
Gesetze auch auf die Rassenkreuzung bei Ameisen anzuwenden.
Trotz der großen Schwierigkeiten, die hier der Beobachtung ent-
gegenstehen, dürften doch weitere Forschungen die Richtigkeit der
Mendel’schen Theorie auch auf diesem Gebiete bestätigen. Manche
der bisher für Allianzkolonien gehaltenen, aus Arbeiterinnen ver-
schiedener Rassen derselben Art gemischten Kolonien von Formica,
Dorymyrmex, Pogonomyrmex, Messor u. s. w. werden sich bei näherer
Prüfung günstiger erweisen für eine Erklärung durch die Kreuzungs-
hypothese. Auf einige in der Literatur verzeichnete Fälle möchte
ich hier noch kurz aufmerksam machen.
Forel!?) erwähnt eine volkreiche gemischte Kolonie von fruncicola
mit pratensis, die er am 30. April 1875 beı München fand. Die
Arbeiterinnen umfassten außer einer großen Zahl reiner truncicola
und reiner pratensis auch eine beträchtliche Menge (un bon nombre)
von Übergängen zwischen beiden. Nähere Prozentverhältnisse sind
leider nicht angegeben. Geflügelte Geschlechter waren um jene
Jahreszeit nıcht vorhanden, und das Nest wurde nicht näher auf
die Königinnen untersucht. Ich vermute, dass es sich hier um eine
Kolonie handelte, deren Königin der F!-Generation aus einer Kreu-
zung zwischen pratensis-Z und trunecicola-9 angehörte und durch
Inzucht befruchtet war. Es wird dies durch die verschiedene
Mischung jener Kolonie im Vergleich zu der von mir oben er-
wähnten vom April 1910 nahe gelegt. Je nachdem in der P-Gene-
ration das Männchen fZruneicola und das Weibchen pratensis ist
oder umgekehrt, lässt sich wohl auch hier wie z. B. bei den Kreu-
zungen zwischen Goldhahn und Silberhenne (nach den Versuchen
von Hagedoorn®’)) ein verschiedenes Spaltungsresultat erwarten.
Für die Annahme einer Allometrose spricht die Mischung jener
Forel’schen Kolonie nicht, da es zu unwahrscheinlich ist, dass eine
reine truncicola-Königin mit einer reinen pratensis-Königin und mit
einer Königin der „Var. truncicolo-pratensis“ sich hier zusammen-
gefunden haben sollte. Es sei übrigens bemerkt, dass letztere
„Varietät“ wohl überhaupt nur als eine Hybridform aufgefasst
werden kann ebenso wie die „Var. rufo-truncicola* und die „Var.
cronicoloides For.“ der F. truncicola. Wahrscheinlich gilt dasselbe
auch für die sehr häufige „Var. rufo-pratensis“ von F. pratensis und
auch für manche der als eigene „Varietäten“ oder sogar „hassen“
aufgestellten zwischen F. fusca und rufibarbis stehenden Formen.
12) Etudes myrm&col. en 1875, p. 27 (59) (Bull. Soc. Vaud. Sc. Nat. XIV).
13) Zitiert bei Baur, Einführung in die experimentelle Vererbungslehre,
8. 150.
118 Wasmann. Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
Ein anderes Beispiel einer sehr wahrscheinlich Mendel’schen
Kreuzung bietet eine aus rufa und truneicola gemischte Kolonie,
die ich am 25. April 1889 bei dem Dorfe Panheel (bei Roermond,
Holl. Limburg) fand'#). Die ziemlich volkreiche Kolonie, deren
Haufenbau um einen alten Strunk angelegt war, bestand aus unge-
fähr !/, (25%) truneicola-Arbeiterinnen und ?°/, (759) rufa, mit ganz
allmählichen Übergängen zwischen beiden; letztere bildeten beiläufig
25% der Gesamtbevölkerung. Die größten Individuen waren aus-
schließlich reine tramnezcola; unter den mittleren waren einige ebenfalls
reine Zrumeicola, ferner zahlreiche Übergänge von der truncicola-
Färbung zur rufa-Färbung und endlich reine rufa; die kleinen Ar-
beiterinnen hatten ausschließlich nur r«fa-Färbung (Kopf oben ganz
braun, Vorder- und Mittelrücken teilweise). Aber auch letztere
zeigten (ebenso wie die übrigen rufa dieser Kolonie) in den zahl-
reichen, aber nur sehr kurzen, gelben Börstchen des Hinterleibs
einen Kleinen Einschlag von tr manner Behaarung (nach den Exem-
plaren in meiner Sammlung). Geflügelte Geschlechter waren in
dieser Jahreszeit nicht vorhanden'’). Eine Königin wurde wegen
des festen Strunkes nicht gefunden. Dass hier, wie ich bereits
1591 aussprach, ein Kreuzungsprodukt zwischen truncicola und
rufa vorlag, dürfte ziemlich sicher sein. Die Königin dieser Kolonie
gehörte wahrscheinlich der F!-Generation an, und die Spaltung er-
folgte in der von ıhr abstammenden F?-Generation im Verhältnis
von: 1 truneicola: 1 rufo-truneicola: 2 rufa, also nach dem Spal-
tungsgesetz der Monohybriden. Theoretisch müsste das Verhältnis
eigentlich lauten: 1 truncieola: 2 rufo-truncieola: 1 rufa. Aber bei
partieller Dominanz von rufa über truneicola wird unter den rufo-
truncicola der rufa-Charakter überwiegen, wodurch das obige phäno-
typische Verhältnis herauskommen würde.
Merkwürdig ist, dass diese Kolonie im September des näm-
lichen Jahres nur noch 5% Arbeiterinnen der reinen trumeicola-
Färbung aufwies gegen 25%, im Frühjahr. Die im September durch
Aussieben des Nesthaufens gefundenen Gäste waren die nämlichen
wie bei F! rufa: Dinarda Märkeli Ksw., Thiasophila angulata Er.,
Notothecta flavipes Grav., N. anceps Er., Oxypoda haemorrhoa
Sahlbg., Stenus aterrimus Er. und Formicoxenus nitidulus N.yl.
14) Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen,
1. Aufl, 1891, S. 173 (Die 2. Aufl. ist im I. Bande von ‚Das Gesellschaftsleben
der Ameisen‘ als Teil I mit derselben Paginierung enthalten, Münster i. W. 1915.)
15) In reinen rufa-Kolonien sind sie Ende April öfters schon zur Paarung
fertig. Am 29. April 1890 sah ich bei Exaten bereits mehrere geflügelte Männchen
und Weibchen und ziemlich viele entflügelte Weibchen von rufa auf Wegen umher-
laufen. 1893 fand bereits am 17. und 18. April ein Paarungsflug von rufa statt.
Die geflügelten Weibchen wurden jedoch nur auf Wegen laufend, nicht fliegend,
angetroffen.
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 119
Eine ähnliche Zusammensetzung wie der Herbstbefund obiger
Kolonie zeigte auch eine rufo-truncicola-Kolonie, die ich bei Deren-
bach im Luxemburger Ösling am 23. Mai 1906 fand!‘). Das Nest
war in die Schieferplatten einer Mauer gebaut und über demselben
erhob sich ein Haufen von rufa-Bauart. Unter den ca. 5000 Ar-
beiterinnen waren etwa 5%, von reiner truncicola-Färbung, und
zwar ausschließlich große Individuen; unter den übrigen großen
Arbeiterinnen hatte ein Teil Übergänge zur rufa-Färbung; die
mittleren und kleinen waren ausschließlich rufa, aber auch hier
(wie ım vorigen Falle von 1889) zeigte sich durch die gelben
Börstehen namentlich der letzten Hinterleibssegmente ein leichter
Einschlag von truncicola-Behaarung. Die Königin konnte wegen
der festen Steinplatten der Mauer nicht gefunden werden. Ge-
flügelte Geschlechter waren im Haufen nicht zu sehen. An der
nämlichen Stelle hatte sich im August 1904 eine reine truncicola-
Kolonie befunden, die jetzt durch die rufo-truncicola-Kolonie ersetzt
war. Ich neigte deshalb 1910 (Biol. Centralbl. XXX, S. 458) zur
Annahme, dass in jener truncicola-Kolonie nachträglich eine Königin
von rufa oder von einer Bastardform rufo-truncicola aufgenommen
worden sei. Gegenwärtig scheint mir jedoch, dass die Mischung
jener Kolonie sich ohne Allometrose einfacher erklären lässt, durch
die Kreuzungshypothese allein. Wenn die ursprüngliche Königin
der Kolonie ein Bastardweibchen der F!-Generation aus einer Kreu-
zung zwischen rufa und truncicola war, dann trat wegen des Uni-
formitätsgesetzes (bei Dominanz von truncieola über rufa) ın der
von ihr direkt abstammenden Generation noch keine Spaltung ein,
sondern dieselbe hatte das Aussehen reiner truncicola (1904). Erst
beim Auftreten der F?-Generation (durch Paarung eines Weibchens
der F!-Generation mit einem Männchen derselben Kolonie) erfolgte
die Spaltung in truncicola, rufa und Übergangsformen. Allerdings
müssten wir dann wegen des starken Überwiegens der rufa 1906
für die F?-Generation einen „Dominanzwechsel“ annehmen.
Forel!’) erwähnt eine aus der schwarzen und der gelben
Varietät von Dorymyrmex pyramicus Rog. gemischte Kolonie aus
Faisons in Nord-Karolina, welche mehrere, einige Meter voneinander
entfernte Nester bewohnte, in denen die Arbeiterinnen sämtlich
aus schwarzen pyramicus und gelben pyramicus flavus bestanden,
und zwar ohne Übergänge zwischen beiden Färbungen. In einem
der Nester, das er aufgrub, fanden sich sowohl Männchen und
16) Siehe „Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg“ III, S. 20. Meine
Begleiter P. H. Schmitz und V. Ferrant unterstützten mich bei der Unter-
suchung des Nestes.
17) Exeursion myrmecologique dans L’Amerique du Nord (Ann. Soc. Ent. Belg.
1899), p. 422, und: Ebauche sur les moeurs des Fourmis de l’Amer. du Nord
(Rivista d. Sc, biol. II, n. 3, 1900), p. 5 Sep.
120 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
Weibchen von pyramicus als auch Männchen von pyramicus flavus.
Forel nahm daher hier eine Allianzkolonie an, entstanden
durch eine Verbindung von befruchteten Weibchen beider Varie-
täten. Es kann aber auch ebensogut eine Bastardkolonie ge-
wesen sein, deren Königin der F!-Generation aus einer Kreuzung
beider Varietäten angehörte und durch Inzucht befruchtet war; in der
von ihr abstammenden F?-Generation trat dann die Spaltung der
Färbungscharaktere in die schwarze und gelbe Varietät wieder ein.
Wheeler!‘) fand bei Aguas Calientes in Mexiko im Dezember
1900 einen großen Nestkegel der „Ackerbauameise“ Pogonomyrmex
barbatus Sm., dessen Bewohnerschaft aus der typischen barbatus-
Form mit schwarzem Kopf und Thorax und aus der ganz roten
Var. molifaciens Buck]. zu ungefähr gleichen Teilen gemischt war,
und zwar ohne Übergänge zwischen beiden Formen. Ein tieferes
Aufgraben des Nestes war wegen des harten Bodens nicht mög-
lich. Aber Wheeler glaubte, diese gemischte Kolonie in ähnlicher
Weise wie die obenerwähnte von pyramicus niger und flavus für
eine Allianzkolonie halten zu müssen, die aus der Verbindung
zweier oder mehrerer Königinnen der beiden Varietäten entstand.
Auch ich teilte früher diese Ansicht!°). Heute scheint mir jedoch,
dass der Befund Wheeler’s ebensogut oder noch besser erklärlich
ist, wenn wir annehmen, dass es um die F?-Generation einer
Bastardkolonie sich handelte, deren Königin der F'!-Gene-
ration aus einer Kreuzung zwischen beiden Varietäten angehört
hatte. Die Mischung der Kolonie zu „ungefähr gleichen Teilen“
aus Arbeiterinnen beider Färbungen stimmt allerdings nicht mit
dem einfachen Mendel’schen Spaltungsgesetz bei Monohybriden.
Es fehlt jedoch eine nähere Kontrolle der wirklichen Mischungs-
verhältnisse, und zudem gibt es auch Mendelfälle komplizierterer
Art (mit Faktorenabstoßung ete.), wo das phänotypische Zahlen-
resultat 1:1 ist?°).
Moggridge?!) berichtet, dass er beim Öffnen eines großen
Messor-Nestes bei Cannes in Südfrankreich die Kolonie zu ungefähr
gleichen Teilen zusammengesetzt fand aus Ameisen, “which in colour
and appearance might be said to represent the three forms structor,
barbara and the redheaded variety of the latter. There were also
a few ants with pale yellowish brown heads (Mentone and Cannes)”.
Diese Angabe klingt zwar stark mendelistisch, dürfte aber in ihrer
Deutung große Vorsicht erfordern. Die Arbeiterinnen mit blass
18) The compound and mixed nests of American Ants 1901, Part. II, p. 723
(American Naturalist XXXV, Nr. 417).
19) Neues über die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der
Ameisen. 1901-1902, S.22—23, Sep. (Allgem. Zeitschr. f. Entomol. Bd. VI-VIH).
20) Siehe z. B. Baur, a.a. ©. S. 150.
21) Harvesting ants and trap-door spiders. London 1873, p. 64.
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. om
gelbbraunem Kopf, von denen ausdrücklich bemerkt wird, dass sie
nicht bloß in diesem Neste, sondern auch anderswo sich fanden
(Mentone und Cannes), scheiden offenbar aus als unausgefärbte
Individuen. Wenn die übrigen Arbeiterinnen jener Kolonie wirk-
lich aus den drei Formen: Messor structor, barbarus und der Varietät
des letzteren mit hell blutrotem Kopfe zusammengesetzt war, so
haben wir vielleicht die F?-Generation einer Mendel’schen Kreuzung
zwischen barbarus und structor vor uns; Näheres lässt sich darüber
nicht sagen.
[Ich fand im März und April 1912 bei Gardone und an anderen
Punkten der Umgebung des Gardasees zahlreiche Kolonien von
Messor barbarus structor??) Var. tyrrhenica Em., aber nur sehr
wenige von Messor barbarus barbarus Var. nigra Andre. Eine
der letzteren Kolonien (31./3.) zeigte eine leichte Beimengung von
Strukturelementen des structor. Die Bildung des Epinotums und
der Fühlerbasis sowie die tiefschwarze, glänzende Färbung entsprach
barbarus niger, aber bei den mittleren und großen Arbeiterinnen
war der Kopf trotz des Glanzes viel deutlicher und dichter gestreift
als bei der reinen barbarus-niger-Form derselben Gegend. Wenn
bei jener Kolonie auch vielleicht ein Kreuzungsprodukt zwischen bar-
barus und structor vorlag, so lässt es sich doch nicht in Zusammen-
hang mit den Mendel’schen Gesetzen bringen.]
3. Diese der Ameisenliteratur entnommenen Andeutungen über
Kolonien mit Mendel’scher Mischung werden hoffentlich dazu beı-
tragen, dass die Myrmekologen ihre Aufmerksamkeit nicht bloß auf
die aus verschiedenen Arten, sondern auch auf die aus verschie-
denen Rassen oder Varietäten zusammengesetzten Kolonien
richten und bei Erklärung der letzteren die Kreuzungshypothese
und das Verhältnis der Befunde zu den Mendel’schen Gesetzen
mehr berücksichtigen als bisher. Am günstigsten für diesen Zweck
sind jene Kolonien, die aus Rassen von extrem kontrastierender
Färbung wie Formica truneicola und pratensis gebildet sind, zumal
hier auch die Übergangsformen zwischen beiden Rassen von den rein-
rassigen Individuen sich leichter unterscheiden lassen. Die tatsäch-
lichen Mischungsverhältnisse der Arbeiterschaft des Nestes
müssen auf ihre prozentuale Zusammensetzung möglichst genau ge-
prüft werden, namentlich unter den frisch entwickelten Indi-
viduen. Dasselbe gilt auch für die geflügelten Geschlechter,
wenn solche vorhanden sind. Ferner muss sorgfältig untersucht
werden, welche Königinnen (bezw. welche alte, entflügelte Weib-
chen) vorhanden sind. Aus dem Vergleichen dieser drei Kompo-
22) In Emery’s Fassung als Rasse von barbarus ausgedrückt. Vgl. dessen:
Beiträge zur Monographie der Formieiden des paläarkt. Faunengebietes III. S. 437 ff.
(Deutsch. Ent. Zeitschr. 1908).
122 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
nenten untereinander können sich dann die Anhaltspunkte zur Be-
urteilung eines Mendel-Falls ergeben. Unter den Arbeiterinnen
können sich neben jenen der F?-Generation, wo die Spaltung der
großelterlichen Allelomorphen zutage tritt, auch noch solche der
uniformen F'-Generation finden. Unter den Königinnen können,
wenn mehrere Jahre nacheinander Inzucht im Neste stattgefunden
hat, solche der P-Generation (von welcher die Kreuzung ausging)
neben solchen der F!-Generation und der F?-Generation ete. neben-
einander vorfinden. Wenn man also in einem solchen Neste bei-
spielsweise eine reine pratensis-Königin, eine reine truncicola-Königin
und eine (F!-)Königin von pratensis-Färbung mit einem (atavistischen)
Einschlag von r«fa-Skulptur entdeckt, so darf man daraus noch
nicht ohne weiteres auf Allometrose schließen, da es sich ja um
Weibchen ein und derselben hybriden Generationsreihe
handeln kann. Dadurch wird selbstverständlich auch die Aufklärung
der Spaltungsverhältnisse in der tatsächlich vorliegenden Arbeiter-
schaft einer solchen Kolonie bedeutend erschwert. Weil die Spal-
tung der Charaktere erst in der F?-Generation beginnt, kann die
Beobachtung Mendel’scher Fälle ın freier Natur überhaupt nur
beı Kolonien einsetzen, deren Arbeiterschaft dieses Stadium erreicht
hat. Hierdurch wird abermals die Deutung der Genesis der be-
treffenden Kreuzungsresultate erheblich schwieriger, weil man die
Vorgeschichte der Kolonie nicht kennt.
Nur selten werden die Anhaltspunkte zur Entscheidung der
Frage, ob eine Mendel’sche Spaltung vorliegt oder nicht, so
günstig sein wiein der eingangs von mir beschriebenen Kolonie praten-
sis-Iruncicola von Luxemburg 1910. Da hier unter den zahlreichen tat-
sächlich vorgefundenen entflügelten Weibchen im Neste weder eine
truncieola-Königin, noch eine reine pratensis-Königin, noch eine
Zwischenform zwischen beiden, sondern lauter Weibchen von pratensis-
Färbung mit einem Einschlag von rufa-Skulptur waren, während
die Arbeiterschaft in einem Verhältnis von 4:1 aus scharf geschie-
denen pratensis und truncicola bestand, war es hier ausgeschlossen,
die Mischung der Kolonie durch Allometrose zu erklären, sei es
nun auf dem Wege der Allianz zwischen den ursprünglichen Königinnen
(primäre Allometrose) oder auf dem Wege der nachträglichen Adop-
tion einer trumcieola-Königin in dem pratensis-Neste (sekundäre Allo-
metrose). Es blieb also nur die Mendel’sche Erklärung übrig,
weil durch die phänotypische Verschiedenheit der entflügelten Weib-
chen von den Arbeiterinnen ein deutlicher Gegensatz zwischen einer
hybriden F'-Generation und F?-Generation im Mendel’schen Sinne
ausgedrückt war. Dabei bleiben allerdings die oben gegebenen
Details der Genesis dieses Falles noch hypothetisch?°), da weder
23) Die Königin der P-Generation war nach meiner Voraussetzung ein reines
pratensis-Weibchen, das von einem truncicola-Männchen befruchtet worden war.
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 123
die Vorgeschichte jener Kolonie vor April 1910 noch die weitere
Entwickelung derselben im Sommer aus den vorhandenen Eier-
klumpen beobachtet werden konnte.
Manche Vererbungsforscher werden es befremdlich finden, dass
ich nicht den Vorschlag mache, auf dem viel sichereren experi-
mentellen Wege die Mendel’schen Gesetze der Kreuzung zwischen
Ameisenrassen zu untersuchen. Prof. R. Goldschmidt-München
sprach mir auf der Versammlung deutscher Naturforscher in
Münster i. W. im September 1912 seine Wünsche in dieser Rich-
tung aus. Ich machte ihn auf die Schwierigkeiten aufmerksam,
die der praktischen Verwirklichung dieses Vorschlages entgegen-
stehen. Für Myrmekologen, die mit der Lebensweise und nament-
lich der Fortpflanzungsweise der Ameisen und ihrem diesbezüglichen
Verhalten in künstlichen Beobachtungsnestern vertraut sind, brauche
ich dies kaum zu bemerken. Einen eine ganze Reihe von Punkten
umfassenden Plan zu einer experimentellen Kreuzung zwischen
pratensis und truncicola habe ich zwar längst skizziert. Da sich
hierbei jedoch die praktische Wahrscheinlichkeit des Gelingens der-
selben als quasi Null herausstellte, sehe ich von einer Veröffent-
lichung desselben lieber ab.
4. Anhang. Über das relative Alter unserer rufa-
Rassen, mit Berücksichtigung ıhrer Gäste.
Um die Verschiedenheit der Resultate besser verständlich zu
machen, die bei Kreuzungen zwischen pratensis und truncicola einer-
seits und zwischen rıfa und truneicola andererseits sich ergeben,
sei darauf aufmerksam gemacht, dass rufa die älteste und weitver-
breitetste unserer drei europäischen rufa-Rassen ıst?*), und dass
wir pratensis und truneicola als nach verschiedenen Richtungen von
ihr biologisch divergierende jüngere Zweige aufzufassen haben, wie
das umstehende Schema andeutet.
Rufa ıst dem Leben im arktischen Wald durch ihren hohen
Haufenbau am besten angepasst; pratensis hat sich deın Leben am
offenen Waldrand und auf Wiesen durch ihren tieferen und
flacheren, der Austrocknung besser widerstehenden Haufenbau an-
gepasst; truncicola endlich, die als jüngste der drei Rassen anzu-
sehen ist, hat sich noch mehr vom Waldleben emanzipiert; ihr Nest
Wegen der großen Zahl der pratensis-Arbeiterinnen schrieb ich einen Teil derselben
der F'-Generation zu, welcher auch die tatsächlich vorgefundenen entflügelten
Weibchen angehörten. Die P-Königin fand ich dagegen nicht. Entweder war sie
schon gestorben oder sie ist mir unter den 12 pratensis-farbigen Weibchen ent-
gangen. Nur 6 derselben wurden zur Untersuchung mitgenommen, 6 im Neste
gelassen. Unter diesen kann auch ein Weibchen mit matterem Hinterleib ge-
wesen sein, das ich wegen der Geringfügigkeit des Skulpturunterschiedes übersah.
24) Siehe hierüber auch „‚Über den Ursprung des sozialen Parasitismus‘“ u. s, w.
(Biolog. Centralbl. 1909, Nr. 19—22, 2. Kapitel).
124 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
ist häufig unter Steinen und gleicht auch durch den kleineren, aus
feinerem Material bestehenden Haufen mehr demjenigen von san-
guinea als von rufa und pratensis. In ihrer Koloniegründung ist
sie vom fakultativen zum obligatorischen temporären sozialen Para-
sitismus übergegangen, indem ihre Weibchen regelmäßig durch
fremde Hilfsameisen (fusca) sich adoptieren lassen, während rufa
und pratensis meist Arbeiterinnen der eigenen Art und Rasse, bezw.
der eigenen Kolonie (Zweigkoloniebildung) hierzu benutzen.
rufa.
bi A x
N \
ee N
pratensis. \
N
truncicola.
Aus dem im obigen Schema angedeuteten Verhältnis, in welchem
truncicola zu rufa und pratensis steht, erklärt sich wahrscheinlich
der atavistische Einschlag von rufa-Skulptur ın der F!-Generation
bei einer Kreuzung zwischen truncicola und pratensis sowie die
Dominanz der pratensis-Färbung über die truncieola-Färbung in der
F!- und F?-Generation einer solchen Kolonie (s. o. S. 115ff.).
Von besonderem Interesse für die stammesgeschichtlichen Be-
ziehungen von F. truncicola zu rufa und pratensis sind ihre Gäste.
Diese liefern ein wertvolles biologisches Dokument für ihren phylo-
genetischen Zusammenhang mit jenen Rassen und für ihr relatives
Alter. Dieses Thema erfordert eigentlich auf Grund meines reichen
Sammlungsmaterials namentlich bezüglich der bisher am besten er-
forschten myrmekophilen Koleopteren eine eigene umfangreiche
Arbeit und kann hier nur kurz skizziert werden.
Rufa hat weitaus die meisten Gastarten, pratensis etwas weniger,
Iruncicola am allerwenigsten, und zwar haben die beiden letz-
teren nur solche gesetzmäßige Gäste, die entweder auch
bei rufa vorkommen oder von rufa-Gästen direkt abzu-
leiten sind”). So fehlen z. B. unter den gesetzmäßigen pratensis-
Gästen zwei der größeren myrmekophilen Staphyliniden, Dinarda
25) Die durch ihre dunklere Färbung von Thiasophila angulata Er. ab-
weichende Thias. pexca Motsch. kommt nicht bloß bei pratensis vor, sondern
auch bei rufa neben der ersteren (Valkenburg).
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 195
Märkeli und Q@uedius brevis, obwohl sie ın den rufa-Nestern der-
selben Gegend häufig sind. Truncicola scheint ihre Gäste überhaupt
nur aus rufa- oder pratensis-Nestern der betreffenden Gegend zu
erhalten, die zu ihr übergehen, und sie hat je nach dem Alter ihrer
Niederlassung daselbst teils nur auffallend wenige Gäste (z. B. bei
Luxemburg), teils eine größere Anzahl (z. B. bei Lippspringe i. W.).
Bei rufa und pratensis dagegen ist die „Gastgarnitur“ ihrer Nester
in den verschiedensten Gegenden ihres Verbreitungsbezirkes eine
viel konstantere und gleichmäßigere.
Eine ausgesprochene Differenzierung zwischen den Gästen
von rufa, pratensis und truneicola findet sich nur bei den größten
ihrer Symphilen, nämlich bei den Staphyliniden der Gattung Ate-
meles?°). At. pubicollis Bris. hat als Larvenwirt F. rufa und ist
über das ganze Verbreitungsgebiet der Wirtsameise, wenngleich
sporadischer als die übrigen vufa-Gäste, verbreitet. Die Entstehung
dieser Anpassung ist daher als eine relativ alte anzusehen im Ver-
gleich zu den folgenden. At. pratensoides Wasm., der den pubi-
collis bei F. pratensis vertritt, ist zwar morphologisch als „eigene
Art“ von pubicollis abgegrenzt, kommt aber nur äußerst selten vor
trotz der großen Häufigkeit des Wirtes; er ist bisher überhaupt
nur in einem pratensis-Neste bei Luxemburg 1903 gefunden worden.
Er ist wahrscheinlich durch eine relativ rezente, lokal begrenzte
Anpassung von pubicollis an F. pratensis hervorgegangen. At. pubi-
collis subsp. truncicoloides Wasm., der den pubicollis bei truncicola
vertritt, ist nur als Rasse von ihm abgegrenzt und im Vergleich
zum Verbreitungsgebiet der Wirtsameise äußerst selten (Lipp-
springe 1. W. und Niederranna in Niederösterreich). Seine An-
passung an truncicola ıst auf einen relativ rezenten, lokal be-
grenzten Übergang von pubicollis zur Lebensweise bei truncicola
zurückzuführen ?”).
Unter den myrmekophilen Acarinen hat Ztruneicola von pra-
tensis an manchen Orten den Loelaps (Hypoaspis) laevis Mich. er-
halten, der bei pratensis allgemein häufig ist, bei rufa dagegen fehlt
und daselbst durch den panmyrmekophilen Zoelaps (Hypoaspis)
myrmecophilus Berl. ersetzt ist.
Besonders auffallend ist, dass sämtliche gesetzmäßigen trunci-
cola-Gäste aus rufa-(oder pratensis-)Nestern der betreffenden Gegend
stammen, kein einziger dagegen aus sanguinea-Nestern, wenngleich
letztere ebendort zahlreich sind. Dies ist um so auffallender, weil
26) Vgl. Die Anpassungscharaktere der Atemeles (Extr. d. I. Congr. Intern,
d’Entomologie Bruxelles, 1910, p. 265—272).
27) Vgl. auch: Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen und Ter-
mitengästen (Festschr. Rosenthal, 1906, S.43—58 und Biolog. Centralbl. XXVI,
Nr. 17—18).
126 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
der Nestbau von truncicola weit mehr jenem von sanguinea gleicht
als jenem von rufa oder pratensis! Da die myrmekophilen In-
sekten auf ihrer Wanderung von einem Neste zum andern durch
den Geruchssinn geleitet werden, ist jene Erscheinung wohl nur
daraus zu erklären, dass die umherstreifenden rufa-Gäste vom
truncicola-Geruch angezogen werden wegen der zwischen beiden
Wirtsrassen bestehenden nahen Verwandtschaft, während für die
sanguinea-Gäste der truncicola-Geruch indifferent bleibt.
Unter den sanguwinea-Gästen ıst nur Lomechusa strumosa an
einigen Orten von ihrer normalen Wirtsameise auch gelegentlich
zu F.rufa bezw. zu F\ pratensis übergegangen. Für ihr Vorkommen
bei F. truncicola liegen überhaupt keine zuverlässigen Funde vor,
obwohl der Nestbau dieser Ameise demjenigen ihres normalen
Wirtes am ähnlichsten ist. Die an F! sanguinea angepasste Dinarda
dentata Grav., die als die älteste unserer zweifarbigen Dinarda-
Rassen zu betrachten ist, wird bei rufa durch D. Märkeli ver-
treten®®); D. dentata ist nur in einzelnen Überläufern sehr selten
bei rufa gefunden worden trotz ihrer großen Häufigkeit bei san-
guinea. Hetaerius ferrugineus ist ein gemeinschaftlicher Gast sämt-
licher einheimischer Formica-Arten, mit besonderer Vorliebe für
F. fusca, und kommt bei sangwinea weit häufiger vor als bei rufa
und pratensis; bei truncicola habe ich ıhn überhaupt noch nie ge-
funden. Übrigens scheidet er wegen seiner Neigung zur Panmyrme-
kophilie ohnehin aus unserer obigen Betrachtung aus.
Diese Andeutungen dürften zur Genüge zeigen, dass uns die
Myrmekophilenkunde auch über die phylogenetischen Beziehungen
zwischen manchen Ameisenarten und Rassen wertvolle Aufschlüsse
zu geben vermag.
Zum Schluss noch eine berichtigende Bemerkung. Es ist mir
niemals eingefallen, unsere heutige Formica sanguinea von unserer
heutigen F. truneicola oder von irgendeiner heutigen Art oder
Rasse der rufa-Gruppe abzuleiten. Solche Anachronismen möge
man mir deshalb auch nicht zuschreiben. Was ich in meiner Ar-
beit von 1909 (Über den Ursprung des sozialen Parasitismus etc.)
zu zeigen suchte und wohl auch gezeigt habe, ist, dass wir in der
biologischen Phylogenese von F. sanguinea ein rufa-ähnliches
(bezw. ein truncicola-ähnliches) Stadium anzunehmen haben.
28) Die bei F. truneicola von mir gefundenen Dinarda sind kaum als eigene
Varietät von Märkeli zu trennen, indem die Oberseite des Hinterleibes (entsprechend
der stärkeren Behaarung von truneicola im Vergleich zu rufa) ein wenig dichter
und länger behaart ist als bei Märkeli und meist auch die ersten Hinterleibsringe
etwas heller (rötlich) gefärbt sind. Aber die Unterschiede sind sehr gering und
nicht einmal konstant, so dass sie schwerlich eine systematische Abtrennung der
bei truncicola lebenden Form von der bei rufa lebenden rechtfertigen.
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 197
Nachsehrift.
In vorliegender Arbeit wurde angenommen, daß die hier er-
wähnten gemischten Kolonien von truncicola mit pratensis und von
truncicola mit rufa dem Spaltungsgesetz der Mendel’schen Mono-
hybriden folgen. Es wurde dabei hauptsächlich auf die leicht
sichtbaren Färbungscharaktere Bezug genommen, auf die Skulptur-
und Behaarungsverhältnisse nur nebenbei, zumal die Details der
letzteren nur unter der Lupe wahrnehmbar sınd und daher keine
Prozentverhältnisse für dieselben bei der Beobachtung der Kolonien
in freier Natur sich aufstellen lassen. Eine mikroskopische Nachprüfung
der Skulptur und Behaarung der Arbeiterinnen ın den beiden Kolonien
truncicola-rufa (Derenbach 1906) und truncicola-pratensis (Luxem-
burg 1910) machte es mir jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Be-
haarung und Skulptur unabhängig von der Färbung mendeln, ja
vielleicht sogar wieder unabhängig voneinander. Die Mischungs-
verhältnisse dieser Kolonien wären infolgedessen nach den Spal-
tungsgesetzen der Di- bezw. der Trihybriden zu beurteilen. Siehe
meine spätere Arbeit: Luxemburger Ameisenkolonien mit
Mendel’scher Mischung (Monatsberichte der Gesellsch. Luxem-
burger Naturfreunde 1915).
Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen?
Eine Kritik der Anschauungen OÖ. Dickel’s über die Ge-
schlechtsbestimmung bei den Hymenopteren, insbeson-
dere bei der Honigbiene.
Von Hans Nachtsheim, Freiburg i. Br.
Wieder einmal wird der Versuch gemacht, die Dzierzon’sche
Theorie zu stürzen. In den beiden letzten Nummern des vorigen
Jahrganges dieser Zeitschrift veröffentlicht Otto Dickel einen
längeren Aufsatz, betitelt „Zur Geschlechtsbestimmungsfrage bei
den Hymenopteren, insbesondere bei der Honigbiene“. Er meint,
dass seine Darlegungen „der Auffassung einer syngamen Geschlechts-
bestimmung bei der Biene, bei der sie ja als am gesichertsten gilt,
den Boden vollständig entziehen.“ Wenn ich auch nicht glaube,
dass ein wirklicher Kenner der Biologie der Hymenopteren und
speziell der Honigbiene sich infolge der Dickel’schen Ausführungen
veranlasst sehen wird, seine Ansichten über die Dzierzon’sche
Lehre einer Revision zu unterziehen, so wird, da Dickel kein
schlechter Anwalt seiner Sache ist, vielleicht doch manch einer,
der mit den Verhältnissen weniger vertraut ist, sagen: „Die Fort-
pflanzungsverhältnisse bei der Honigbiene — wie bei den Hyme-
nopteren überhaupt — scheinen doch trotz der zahlreichen Unter-
suchungen und trotz der jahrzehntelangen Diskussionen noch
428 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
keineswegs geklärt zu sein.“ Schon aus diesem Grunde dürfen die
Dickel’schen Behauptungen nicht unbeantwortet bleiben. Gibt es
wirklich, wie Dickel behauptet, Tatsachen, die beweisen, „dass
das Entstehen von Drohnen aus befruchteten Eiern keine seltene
Ausnahme, sondern zu gewissen Jahreszeiten und unter gewissen
physiologischen Zuständen die Regel bildet?“ Wir wollen nicht
dem Grundsatze huldigen: die Tatsachen stimmen nicht zu der
Theorie — um so schlimmer für die Tatsachen! „Wir müssen
uns an das halten, was wissenschaftlich sicher festgestellt ist, mag
es der Theorie auch noch so unbequem sein“, schreibt Dickel.
Sehr richtig, schade nur, dass Dickel nicht recht weiß, was es
eigentlich heisst, etwas „wissenschaftlich sicher“ feststellen.
Dickel hat — dieses Resultat der folgenden Ausführungen sei
hier schon ım voraus mitgeteilt — auch nicht den geringsten wissen-
schaftlichen Beweis für die Richtigkeit seiner „Sekrettheorie“ er-
bracht, die Dzierzon’sche Lehre besteht auch weiter ebenso zu
Recht wie zuvor. „Dickel begeht immer wieder den gleichen
Denkfehler: die bloße Möglichkeit einer Deutung der Beobach-
tungen anderer Autoren im Sinne seiner Lehre einem unmittelbaren
Beweise selbst gleichzusetzen.“ Dieses von Bresslau (1908 b)!)
stammende Urteil über Ferdinand Dickel hat, wie wir sehen
werden, für Dickel jun. die gleiche Gültigkeit.
Die Dickel’sche „Sekrettheorie“.
Ehe wir dazu übergehen, die „Beweise“ Dickel’s einer kri-
tischen Betrachtung zu unterziehen, sei seine „Sekrettheorie“* kurz
skizziert. Die „verachtete epigame Geschlechtsbestimmungsweise“
will Diekel durch seine Darlegungen wieder „ın den Vordergrund
des Interesses rücken helfen“?). Es ist nach Dickel zwar richtig,
1) S. das Literaturverzeichnis am Schluss.
2) Dickel scheint sowohl die Theorie der syngamen wie auch die der pro-
gamen Geschlechtsbestimmung allgemein abtun zu wollen. „Die Lehre von der
progamen Geschlechtsbestimmungsweise“, schreibt er, „hat durch die Untersuchungen
Shearer’s (1911) einen starken Stoß erlitten... Bewahrheiten sich Shearer’s
Angaben, dann ist das jetzt schon sehr rissige Fundament jener Auffassung voll-
kommen zerstört.“ Hätten sich die Angaben Shearer’s über die Eibildung und
Befruchtung bei Dinophilus bestätigen lassen, so wäre das ein eigenartiger Fall
syngamer, nicht aber epigamer Geschlechtsbestimmung gewesen. Shearer hat
aber, wie ich bereits kurz dargelegt habe (1914 a), seine Befunde größtenteils falsch
gedeutet; in meiner im Laufe des Jahres erscheinenden Arbeit über die Geschlechts-
bestimmung bei Dinophilus — da ich bei Kriegsausbruch meine Experimente vor-
zeitig abbrechen musste, verzögert sich leider der Abschluss der Arbeit sehr —
werde ich den ausführlichen Beweis dafür erbringen. Bei Dinophilus ist das Ge-
schlecht bereits im unbefruchteten Ei unabänderlich festgelegt. Sicherlich aber
haben wir hier ebenso einen erst sekundär erworbenen Modus der Geschlechts-
bestimmung vor uns wie bei Bonellia, bei der nach den Untersuchungen Baltzer’s
(1914) die Larve geschlechtlich noch indifferent ist.
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 129
„dass aus unbefruchteten Eiern nur Männchen entstehen, richtig
ist auch, dass die zu gewissen Jahreszeiten in Drohnenzellen abge-
setzten Eier der normalen, begatteten Königin unbefruchtet sind.
Falsch aber ist die Behauptung, dass sich Drohnen ausschließlich
aus unbefruchteten Eiern entwickeln. Vielmehr ist es Regel, dass
zu gewissen Jahreszeiten und unter gewissen physiologischen Stock-
zuständen auch die Drohnen ihre Entstehung aus befruchteten Eiern
nehmen.“ Nicht die Befruchtung bestimmt das Geschlecht, sondern
die Geschlechtsbestimmung ist Sache der Arbeiterinnen. Jedes be-
fruchtete Ei ist sexuell noch indifferent, ja selbst die Arbeiter-
larven sind nach Dickel noch „intermediäre Formen“, aus denen
die Arbeiterinnen jede der drei Formen des Bienenstaates erziehen
können. Es ist die Qualität der Nahrung, die „den ausschlag-
gebenden Faktor bildet, deren Verschiedenheit durch Zufuhr ver-
schiedenartiger Sekrete bedingt ist“. Vergleichen wir die Sekret-
theorie OÖ. Dickel’s mit den phantasievollen Vorstellungen F. Dickel’s
über die Fortpflanzungsverhältnisse im Bienenstaat, so kommen wir
zwar zu dem Resultat, dass an der Theorie O. Dickel’s wenig
Neues ıst — es soll der „gute Kern“ der Theorie F. Dickel’s
sein — aber seine heutigen Anschauungen bedeuten doch immerhin
insofern einen Fortschritt, als er das Entstehen von Drohnen aus
unbefruchteten Eiern ın der ungestörten normalen Bienenkolonie
wenigstens für „gewisse Jahreszeiten“ zugibt.
Die „Möglichkeit“ der Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern.
In seinen einleitenden Bemerkungen schreibt Dickel, dass
„schon früher aus den Reihen überzeugter Anhänger dieser Lehre
Stimmen laut geworden sind, die die Möglichkeit einer gelegent-
lichen Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern zugeben“.
Diese Stimmen mehrten sich. Es haben in der Tat selbst die
eifrigsten Verfechter der Dzierzon’schen Lehre (s. z. B. v. Buttel-
Reepen, 1911) immer darauf hingewiesen, dass wohl gelegent-
lich auch einmal ein befruchtetes Ei eine Drohne liefern kann.
Auch die Autoren, welche das Geschlechtsbestimmungsproblem bei
den Hymenopteren auf Grund zytologischer Untersuchungen erörtert
haben (z. B. Schleip, 1912; Armbruster, 1913) heben allgemein
hervor, dass eine gelegentliche Entstehung von Hymenopteren-
männchen aus befruchteten Eiern sich theoretisch sehr wohl erklären
lässt, ebenso wie eine gelegentliche Entstehung von Weibchen aus
unbefruchteten Eiern bei den sozialen Hymenopteren. Ich habe
ausgeführt (1913), dass es ein Charakteristikum der Hymenopteren-
männchen ist, dass sie nur ein Uhromosomensortiment besitzen,
während die Weibchen der Hymenopteren zwei aufweisen, also die
diploide Chromosomenzahl. Nun ist es aber sehr wohl denkbar
— schon Schleip (1912) hat hierauf hingewiesen —, dass aus
XXXV. 9
130 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
irgendwelchen Gründen einmal die vom Spermakern stammenden
Chromosomen ihre normale Funktion nicht auszuüben vermögen.
Der sich entwickelnde Embryo besäße dann zwar beide Chromo-
somensortimente, aber nur ein „aktives“ Sortiment, das befruchtete
Ei würde ein Männchen liefern. Doch es wäre nicht einmal nötig
anzunehmen, dass alle Chromosomen des einen Sortimentes funk-
tionsunfähig sind, es müsste ein Defekt des Chromosoms bezw. der
Chromosomen, die Träger der Erbfaktoren für das Geschlecht sind,
. genügen, um die Entstehung eines Weibchens aus dem befruchteten
Ei unmöglich zu machen. Die Entstehung eines Weibchens aus
einem unbefruchteten Bienenei ließe sich mit der Annahme erklären,
dass ın dem betreffenden Eı die Reduktionsteilung unterblieben
ist. Das Weibchen entstände ähnlich, wie die aus unbefruchteten
Eiern sich entwickelnden Weibchen der Blatt- und Gallwespen.
Ich brauche wohl kaum noch besonders zu betonen, dass also nach
unserer Auffassung die Entstehung einer Drohne aus einem befruch-
teten bezw. einer Arbeiterin oder Königin aus einem unbefruchteten
Bienenei ein pathologischer Vorgang ist. Der eine wie der andere
Fall dürfte außerordentlich selten sein. Eine Beobachtung, die für
eine Entstehung einer weiblichen Biene aus einem unbefruchteten
Ei spräche, ist auch bisher noch nicht gemacht worden°®). Für die
gelegentliche Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern lassen
sich ‚einige Beobachtungen anführen, aber beweisend sind diese Be-
obachtungen durchaus nicht, denn sie lassen — wir werden im
folgenden hierauf noch zurückkommen — auch sehr verschiedene
andere Deutungen zu.
Drohnen in Arbeiterinnenzellen.
Der erste „Beweis“ Dickel’s, dass Drohnen „recht häufig“
auch aus befruchteten Eiern entstehen, ist die unter verschiedenen
Verhältnissen zu beobachtende Tatsache, dass auch aus Arbeiterinnen-
zellen Drohnen hervorgehen können. Ich will zunächst schildern,
welche Erklärung der Anhänger der Dzierzon’schen Lehre dieser
Tatsache gibt und dann damit die Dickel’sche Ansicht vergleichen.
Schon des öfteren ist beobachtet worden, dass junge, eben be-
gattete Königinnen anfangs die Arbeiterinnenzellen mit Drohnen-
eiern besetzen, um allmählich zu einer völlig normalen Eiablage
überzugehen. Ein vorübergehender Defekt an der Muskulatur des
Samenblasenganges kann die Ursache sein, dass die Spermapumpe
zunächst nicht funktioniert. Es ist auch möglich, dass sich hier
der Instinkt, die in Arbeiterinnenzellen abzusetzenden Eier zu be-
3) Es ist für die Art der Beweisführung Dickel’s charakteristisch, dass ihm
das Fehlen einer solchen Beobachtung genügt, um kategorisch zu erklären: „Es ist
ganz unmöglich (von mir gesperrt. N.), dass sich ein unbefruchtetes Bienenei
zu einer Arbeitsbiene oder Königin entwickelt.“
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 131
fruchten, gewissermaßen verspätet einstellt. So ziemlich in jedem
Bienenstocke aber kann man ab und zu einzelne Arbeiterinnenzellen
finden, die mit Drohnenlarven besetzt sind, oder auch umgekehrt
Drohnenzellen, die Arbeiterinnen enthalten. In diesen Fällen liegt
wohl kein Defekt an der Spermapumpe vor, sondern wir haben
hier eine der mannigfachen „Instinktsirrungen“ vor uns, wie wir
sie ım Bienenstaate nicht selten beobachten können. Instinkts-
irrungen dieser Art können bei verschiedenen Königinnen sehr ver-
schieden häufig vorkommen. Während die einen sich nur selten
„irren“, belegen andere ständig einzelne oder gar zahlreiche Zellen mit
der falschen Eisorte. v. Buttel-Reepen (1904a) erwähnt mehrere
solche Fälle. Ein Bienenzüchter berichtet nach v. Buttel-Reepen
sogar, dass eine junge Königin „ihrer Mutter in dieser Unart nach-
artete*. Natürlich kann es gelegentlich auch vorkommen, dass bei
der Ablage eines Eies in eine Arbeiterinnenzelle die Spermapumpe
in Funktion tritt, dass aber die Spermatozoen die Mikropyle des
Eies nicht erreichen oder gar nicht bis ın den Eileiter gelangen,
so dass das Eı „gegen den Willen“ der Königin unbefruchtet ab-
gelegt wird. Zumal bei älteren Königinnen, deren Samenvorrat zur
Neige geht, wird dieser Fall eintreten, und zwar allmählich immer
häufiger, die Drohnen überwiegen schließlich die Arbeiterinnen,
und zuletzt ist die Königin nur noch zur Erzeugung von Drohnen
fähig. v. Buttel-Reepen, der in seiner soeben erschienenen Bio-
logie (1915) einige der obigen Erscheinungen bespricht, bemerkt
dazu: „Vorstehende Tatsachen sind insbesondere sehr beachtens-
wert für solche, die ohne eingehende Kenntnis der Biologie der
Honigbiene über Geschlechtsbestimmungsfragen, Parthenogenesis
u.s. w. arbeiten wollen, da durch die Nichtbeachtung solcher Vor-
kommnisse zahlreiche Irrtümer entstehen können.“
Dickel kennt freilich diese Tatsachen sehr genau, ja er benutzt
gerade diese Tatsachen zum Teil als „Beweis“ für seine Theorie.
Was zunächst einmal die Beobachtung anbetrifft, dass frisch be-
gattete Königinnen bisweilen anfangs nur Drohnen erzeugen, ob-
wohl sie ıhre Eier in Arbeiterinnenzellen absetzen, so bezeichnet
Dickel die Erklärung, dass hier der Geschlechtsapparat einen vor-
übergehenden Defekt aufweist, als „weder anatomisch noch biologisch
haltbar“. Die Eier dieser Königinnen sind nach Dickel befruchtet,
aber in diesem Falle sind es nicht die Arbeiterinnen, die aus den
befruchteten Eiern Drohnen entstehen lassen, sondern die Ursache
liegt in den Eiern selbst. Dickel behauptet, dass „mit einer ge-
wissen Regelmäßigkeit der geschilderte abnorme Fall eintritt, wenn
die Königin durch ungünstige Witterungsverhältnisse am Begattungs-
flug längere Zeit verhindert worden war“. Die ersten Eier, welche
die betreffende Königin ablegt, sollen infolgedessen überreif ge-
worden sein, und „Eier im Zustande der Ovarialüberreife zeigen
9%
152 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
bei den Bienen die Tendenz, sich zu Männchen zu entwickeln“. Die
Wege, die Dickel zur Entstehung von Drohnen führen lässt, sind
also recht mannigfach! Alle unbefruchteten Eier ergeben Drohnen,
ebenso alle befruchteten überreifen Eier, und aus jedem anderen
Bienenei vermögen die Arbeiterinnen vermittels ihrer Sekrete eine
Drohne zu erziehen. Wir werden weiter unten die Haltlosigkeit
der Dickel’schen Theorie der „Überreife“ in einem besonderen
Abschnitte dartun, hier sei nur hervorgehoben, dass die Angabe
Dickel’s, der geschilderte abnorme Fall trete unter den obigen
Verhältnissen „mit einer gewissen Regelmäßigkeit“ auf,
nichts weiter als eine kühne Behauptung ist, für die er auch nicht
die Spur eines Beweises zu erbringen vermöchte.
Dass die gelegentliche Entstehung einer Drohne in einer Ar-
beiterinnenzelle auf eine Instinktsirrung der Königin zurückzu-
führen ist, diese Erklärung glaubt Dickel ebenfalls ohne weiteres
ablehnen zu können. Es sei eine „recht sonderbare Interpretation“,
wenn Petrunkewitsch (1901) und ich (1913) sagten, die Bienen-
königin „irre“ sich bisweilen. Da ich nicht direkt von einer In-
stinktsirrung gesprochen, sondern mich damit begnügt habe, das
Wort „irren“ ın Anführungszeichen zu setzen, hat Dickel den Sınn
meiner Worte offenbar gar nicht verstanden. Er ist natürlich davon
überzeugt, dass diese Drohnen in Arbeiterinnenzellen aus befruch-
teten Eiern sich entwickelt haben und „beweist“ seine Ansicht
durch Mitteilung einer Reihe von Beobachtungen, die verschiedene
Bienenzüchter gemacht haben. Auch die übrigen „Beweise“ Dickel’s
für seine Theorie gründen sich fast ausschließlich auf Beobachtungen
von Imkern. Man kann speziell ın dem vorliegenden Falle gegen
ein solches Verfahren nicht scharf genug protestieren! Niemand
wird dıe großen Verdienste verkennen, die sich Männer wie Dzier-
zon, v. Berlepsch um die Erweiterung unserer Kenntnisse des
Bienenlebens erworben haben. Aber wie bereits zu Dzierzon’s
Zeiten von kritiklosen Dilettanten -—- meist Gegnern Dzierzon’s —
„die unrichtigsten, abenteuerlichsten und abgeschmacktesten Be-
hauptungen über die Verteilung der Geschlechtsfunktionen, über
Begattung, Befruchtung, Eierlegen der Bienen u. s. w. in vollem
Ernste als ausgemachte Wahrheiten hingestellt wurden“ (v. Sıe-
bold, 1856), so sind auch heute manche Imker einem wahren
„Spekulationswahnsinn“ verfallen, um einen Ausdruck Zander’s
(1911) zu gebrauchen. Das Verfahren Dicke!’s ist um so mehr
zu beanstanden, als die von ihm angeführten Beobachtungen die
gleichen sind, die sein Vater ın seinen zahllosen Artikeln als „Be-
weise“ für seine Theorie gebracht hat. Seit dem Jahre 1900 ist aber
immer und immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, dass
diese „Beweise“ keine Beweise sind, dass in den Experimenten die
oft sehr zahlreichen Fehlerquellen gar nicht oder nicht genügend
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 133
berücksichtigt worden sind. Und jetzt, nachdem der Kampf 15 Jahre
gedauert hat, wagt es O. Dickel, anstatt auch nur ein einziges
eigenes Experiment mit genauem Protokoll vorzulegen, zu be-
haupten, dass „Fehlerquellen in diesen Versuchen unmöglich nach-
gewiesen werden können“! Es dürfte ein fruchtloses Bemühen
sein, Dickel sen. und jun. davon zu überzeugen, dass die von
ihnen angeführten Experimente und Beobachtungen keinen wissen-
schaftlichen Wert haben, um aber die Art und Weise ©. Dickel’s,
etwas zu „beweisen“, noch weiter zu charakterisieren, möge auf
einige von diesen Experimenten noch näher eingegangen werden.
Der Lehrer der Bienenzucht Meyer, Gadernheim, berichtet
Dickel, „besaß ein starkes Volk mit prächtiger Königin. Aus
rationellen Gründen unterdrückte er, gegen seine sonstige Gewohn-
heit, jede Drohnenzellenanlage. Bis Mitte April gelang ıhm das,
Alle Waben zeigten lückenlosen Arbeiterbau mit entsprechender
Brut. ‚Bei genauer Besichtigung zeigten sich in verschiedenen
Ecken doch wieder Drohnenzellen, die schleunigst entfernt wurden.‘
Schon nach einiger Zeit trat mitten in der Arbeiterbrut vereinzelte
Drohnenbrut auf, die in den folgenden Tagen in so beunruhigen-
dem Maße zunahm, dass er beschloss, die Königin zu töten. Mit-
leid mit dem prächtigen Tier ließ ihn aber von seinem Vorhaben
absehen. Er hing vielmehr dem Volke zwei Drohnenwaben ein ‚in
der Erwägung, dass einem richtigen Volk im Sommer auch Drohnen-
brut gehört.‘ Als er nach einiger Zeit das Volk wieder revidierte,
waren beide Drohnenwaben mit regelrechter Drohnenbrut besetzt,
während alle Arbeiterwaben wieder das ursprüngliche Bild, nämlich
tadellos geschlossene Arbeiterbrut zeigten.“
Wer mit der Biologie der Bienen vertraut ist, wird das Ver-
halten der Königin nicht merkwürdig finden. Es ist ein schon des
öfteren wiederholtes Experiment, ein Volk im Herbste auf lauter
Drohnenbau zu setzen. Die Königin legt dann nach einigem Zögern
in die Drohnenzellen befruchtete Eier ab, es entstehen in den
Drohnenzellen Arbeiterinnen. Der Trieb, Drohnen zu erzeugen, ist
um diese Jahreszeit normalerweise nicht mehr vorhanden, es „ver-
sagen“, um mit R. Hertwig (1904) zu sprechen, „in einer solchen
Zwangslage die normalen Reflexe oder Instinkte“. Der Versuch
des Bienenzüchters Meyer stellt das entgegengesetzte Experiment
dar. In einem starken Volke wird mit beginnendem Frühling, wenn
die Tracht- und Witterungsverhältnisse günstig sind, der Trieb,
Drohnen zu erzeugen, immer mächtiger. Nicht nur bauen die Ar-
beiterinnen, wo es nur eben möglich ist, Drohnenzellen, falls keine
Drohnenwaben vorhanden sind, sondern die Königin sucht auch im
ganzen Stocke nach solchen, um ihren Trieb, „Drohneneier“ abzu-
legen, zu befriedigen (s. Nachtsheim, 1914b). Entfernt man die
Drohnenzellen immer wieder, so bringt man auch hier die Königin
134 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen’?
in eine Zwangslage, sie setzt „Drohneneier“ in die Arbeiterinnen-
zellen ab.
Und Dickel’s Erklärung? Da die Bienen „in Arbeiterzellen
zur Entwickelung kamen, also (von mir gesperrt. N.) sicher be-
fruchtet waren“, ıst das Entstehen von Drohnen der Fähigkeit der
Arbeitsbienen, „aus Arbeiterlarven Drohnen zu erziehen“, zu ver-
danken. Noch einige ähnliche Fälle, wo „ausdrücklich (von mir
gesperrt. N.) betont wird, dass die entstandenen Drohnen nur be-
fruchteten Eiern entstammen konnten“, führt Dickel an und schließt
dann diesen Abschnitt mit folgender Behauptung: „Haben wir so-
mit eine Reihe von Tatsachen kennen gelernt, die beweisen, dass
Drohnen nicht unbedingt aus unbefruchteten Eiern entstehen müssen,
vielmehr recht häufig auch aus befruchteten Eiern hervorgehen, so
dürfen wir wohl ohne Gefahr eines Fehlschlusses die eingangs er-
wähnte biologische Erscheinung dahin deuten, dass sich die Königin
bei ıhrer Eiablage nicht ‚geirrt‘ hat, dass vielmehr auch in diesen
Fällen, die bald seltener, bald recht häufig vorkommen, aus be-
fruchteten Eiern Drohnen hervorgegangen sind... Nicht bei der
Königin, sondern bei den Arbeitsbienen ist der ‚Irrtum‘ zu suchen.“
„Mit solchen Bemerkungen wie diese letzten gibt man aber nıchts
Wissenschaftliches, wie Dr. Dickel jetzt auch wohl empfinden
wird. Die Wissenschaft fordert einwandfreie Tatsachen und
es wäre besser, nur auf solchem Boden zu arbeiten. Hoffentlich
geschieht solches in Zukunft!“ Diesen Vorwurf, den v. Buttel-
Reepen OÖ. Dickel bereits vor 11 Jahren (1904b) machen musste,
hat dieser leider ganz unbeachtet gelassen, sonst wäre mir diese
Kritik erspart geblieben.
Können die Arbeiterinnen aus Arbeiterinnenlarven Drohnen erziehen ?
Eine zweite Gruppe von Beobachtungen soll beweisen, dass
die Arbeiterinnen aus Arbeiterinnenlarven Drohnen zu erziehen ver-
mögen. Abgesehen von einem stammen auch diese Experimente
alle von Imkern, das eine aber rührt von Bresslau (1908b) her,
der eine Zeitlang für Diekel sen. eingetreten ist, schließlich aber
auch seine Ansichten bekämpft hat. Lassen wir Bresslau zunächst
selbst sprechen: „Am 18. März 1905 wurde aus einem kleinen normalen
Volke D, das nur auf einer von 6 Arbeiterwaben ein etwa hand-
tellergroßes Brutnest besaß, die Königin und etwa die Hälfte der
Bienen entnommen und in einen Versuchskasten E auf dem Neben-
stande umlogiert. Nach 10 Tagen wurden in dem jetzt weisellosen
Volk D, dem die Brutwabe belassen worden war, inmitten der
z. T. nach Arbeiterart gedeckelten, z. T. noch ungedeckelten Brut
neben 5 Weiselzellen 6 hochgedeckelte, also Drohnenlarven ent-
haltende Zellen beobachtet. Später kamen noch mehrere hinzu,
am 9. April habe ich notiert: ın Stock D zahlreiche junge Drohnen.
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 135
Da bis dahin seit dem Beginne des Experiments nur 28 Tage, also
der Zeitraum, der ungefähr der normalen Entwickelungsdauer von
Drohnen entspricht, verflossen waren, so können diese Drohnen nur
aus der am 18. März in den Arbeiterzellen des anscheinend nor-
malen Völkchens vorhanden gewesenen Brut, nicht aber, wie man
sonst vielleicht annehmen könnte, aus den Eiern drohnenbrütig ge-
wordener Arbeiterinnen hervorgegangen sein. Die Königin, von der
diese Eier abgelegt worden waren, hatte inzwischen im Kasten E
regelrechte Arbeiterbrut abgesetzt und erwies sich auch späterhin
als durchaus normal.“ Dieses Resultat scheint in der Tat zunächst
sehr zugunsten Dickel’s zu sprechen. Aber hören wir, was Bress-
lau weiter sagt: „Trotz wiederholter mehrjähriger Bemühungen ist
es mir aber nicht gelungen, den Versuch noch einmal mit ähn-
lichem Ergebnis zu wiederholen. Ich bin daher nicht in der Lage,
nach dem nur einmaligen positiven Ausfall dieses Versuches
Dickel’s Deutung dieser Experimente ohne weiteres akzeptieren
zu können. Denn bei der Singularität des Ergebnisses sind auch
noch eine Anzahl anderer Erklärungsmöglichkeiten denkbar und
jedenfalls nicht auszuschließen.“ Bresslau äußert sich nicht näher
über diese Erklärungsmöglichkeiten, dass solche gegeben sind, er-
scheint auch mir sicher. Eine Erklärung wäre z. B. diese: Die
Königin verhielt sich nicht ganz normal bei der Eiablage, sie legte
außer befruchteten Eiern auch unbefruchtete in Arbeiterinnenzellen.
In dem weisellosen Volke (D) wurden die aus diesen Eiern ent-
stehenden Drohnenlarven gepflegt, in dem Völkchen mit Königin (E)
hingegen war der Trieb, Drohnen aufzuziehen, jedenfalls nicht vor-
handen, die jungen Drohnenlarven wurden von den Arbeiterinnen
immer wieder entfernt und konnten so von Bresslau nicht beob-
achtet werden. Dass Drohnen und Drohnenlarven zu gewissen
Zeiten im Bienenstock nicht geduldet werden, ist ja eine allbe-
kannte Tatsache. Eine Beobachtung, die ich vor einigen Jahren
gemacht habe (1914b), scheint mir dafür zu sprechen, dass die Ar-
beiterinnen die verschiedenen Eier nicht zu unterscheiden ver-
mögen, wohl aber selbst die kleinsten Drohnenlarven von den
Arbeiterinnenlarven; erst diese wurden entfernt. Es gibt, wie ge-
sagt, noch einige andere Möglichkeiten, das Resultat des Bress-
lau’schen Experiments zu erklären. Es möge dieser Hinweis ge-
nügen. Soviel geht jedenfalls schon aus dem Gesagten hervor, dass
bei Experimenten mit Bienen sehr zahlreiche Faktoren zu berück-
sichtigen sind, und dass nur Experimente mit ganz genauem Protokoll
Wert für uns haben. Nur in solchen Fällen lässt sich entscheiden,
ob wirklich die Fehlerquellen nach Möglichkeit ausgeschieden, ob
also die aus dem Experiment gezogenen Schlüsse berechtigt sind.
Dickel führt einige Beispiele dafür an, dass in weisellos ge-
wordenen Völkern bisweilen in nachträglich zu Drohnenzellen um-
136 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen?
gebauten Arbeiterinnenzellen Drohnen entstehen, verschweigt aber
ganz die sicher auch ihm bekannte Tatsache, dass häufig in weisellos
gewordenen Völkern, die nur bestiftete Arbeiterinnenzellen besitzen,
die Arbeiterinnen vergeblich den Versuch machen, aus den „Ar-
beiterinneneiern“ Drohnen zu erziehen. Im ersten Falle waren
einige unbefruchtete Eier in die Arbeiterinnenzellen abgesetzt
worden, im zweiten Falle nicht, und deshalb bemühten sich die
Arbeiterinnen hier vergeblich, Arbeiterbrut ın Drohnenbrut zu ver-
wandeln. So sagt der Anhänger der Dzierzon’schen Lehre.
Dickel sagt, die Eier waren in Arbeiterzellen abgesetzt worden,
also sicher befruchet, das Geschlecht haben die Arbeiter durch ihre
Sekrete bestimmt. Weshalb ist es aber dann den Arbeitern nur
gerade in den von Dickel zitierten Fällen möglich gewesen, aus
Arbeitereiern oder -larven Drohnen zu erziehen, weshalb fehlt ihnen
sonst diese Möglichkeit? Auf diese Frage vermag uns Dickel
keine Antwort zu geben. v. Buttel-Reepen (1901), der einige
in einem weisellosen Volke in nachträglich zu Drohnenzellen umge-
bauten Arbeiterinnenzellen zur Entwickelung gekommene Bienen
untersuchte, stellte fest, dass es typische Arbeiterinnen waren. Das
wahrscheinlich veränderte Futter — bezw. das andere Sekret, wie
Dickel will — hatte keinen Einfluss auf das Geschlecht ausgeübt.
Schon mehrmals sind Königinnen beobachtet worden, die un-
fähig waren, Drohneneier abzulegen. Aus allen ın die Drohnen-
zellen abgesetzten Eiern gingen Arbeiterinnen hervor, obwohl der
Trieb, Drohnen zu erzeugen und aufzuziehen, bei Königin und Ar-
beiterinnen vorhanden war. Grobben (1895) z. B. beschreibt einen
solchen Fall. Er spricht die Vermutung aus, dass eine „Nerven-
schwäche“ die Ursache der Erscheinung war. Die Königin hatte
die Spermapumpe „nicht in ihrer Gewalt und konnte bei der Ei-
ablage einen Zufluss von Sperma nicht hemmen.“ Auch diese Fälle,
die er ebenfalls mit seiner „Sekrettheorie“ nicht zu erklären ver-
mag, erwähnt Dickel nicht.
Doch ist die Frage, ob die Arbeiterinnenlarven „intermediäre
Formen“ sind und eine Beeinflussung der Larven für das Geschlecht
von Bedeutung ist, überhaupt noch diskutabel? Ich glaube mit
Zander (1914, 1915) und v. Buttel-Reepen (1915) diese Frage
verneinen zu müssen. Schon Petrunkewitsch (1903) hat darauf
hingewiesen, dass sich das Geschlecht eines Bienenembryos vor dem
Ausschlüpfen bereits deutlich als männlich oder weiblich zu er-
kennen gibt. Bei dem weiblichen Embryo (aus der Arbeiterinnen-
zelle) ıst die Zahl der Geschlechtszellen wesentlich geringer als bei
dem gleich alten männlichen (aus der Drohnenzelle). Da diese
Arbeit Petrunkewitsch’s sich in manchen Punkten als unzuver-
lässig erwiesen hat, ist es um so erfreulicher, dass in jüngster Zeit
Zander (1914, 1915) die nachembryonale Entwicklung der Ge-
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 137
schlechtsorgane bei Königin, Drohne und Arbeiterin eingehend
studiert hat und zu ähnlichen Resultaten wie Petrunkewitsch
gekommen ist. „Die von frühester Jugend an scharf geprägten
Geschlechtsmerkmale der Königin und Drohne“, sagt Zander in
seiner demnächst erscheinenden Arbeit (1915)*), „gestatten ein
sicheres Urteil über den sexuellen Charakter der Arbeiterin. Wie
schon Koshevnikov betonte und Herr Meier (der Mitarbeiter
Zander’s. N.) jetzt über jeden Zweifel erhoben hat, besitzt die
Arbeitsbiene am Beginne ihres Larvenlebens bereits dıe vollkommene
Organisation einer Königin. Bei keinem Teile ihres primitiven Ge-
schlechtsapparates kann darüber auch nur der leiseste Zweifel be-
stehen. Die Ausbildung der Imaginalscheiben, der Verlauf der
Genitalstränge und der Bau der Genitaldrüsen sind von frühester
Jugend an typisch weiblich“. Auch bei den solitären Bienen ist
das Geschlecht bereits sehr frühzeitig zu erkennen (s. Armbruster,
1913). Die vorläufige Mitteilung Zander’s (1914) dürfte Dickel
bei der Niederschrift seines Artikels noch nicht bekannt gewesen
sein, die Feststellungen Petrunkewitsch’s und vor allem Arm-
bruster’s kannte er jedenfalls. Trotzdem erwähnt er sie mit
keinem Worte und behauptet, durch seine Darlegungen den Be-
weis erbracht zu haben, „dass die Arbeiterlarven ıntermediäre Formen
darstellen“!
Die Übertragungsexperimente.
„Eine sehr entscheidende Rolle bei der Beurteilung unserer
Frage“, so beginnt Dickel seinen nächsten „Beweis“, „spielen
die Übertragungsversuche. Hier ist allerdings große Vorsicht ge-
boten, denn nirgends fließen die Fehlerquellen so reichlich wie bei
diesen Versuchen. Ich werde mich daher auf zwei, jeder Kritik
standhaltende Beispiele beschränken. Nach einigen allgemeinen
Bemerkungen folgen die beiden Experimente, ebenfalls von Imkern
ausgeführt. 1904 schrieb ©. Dickel noch von den gleichen Ex-
perimenten, die er persönlich zusammen mit seinem Vater
gemacht hatte: „Wenngleich es mir natürlich nicht möglich ist, mit
aller Bestimmtheit zu behaupten, dass jede Fehlerquelle vermieden,
jeder Irrtum völlig ausgeschlossen ist — das wird man überhaupt
nur bei einem Bruchteile aller physiologischen Experimente tun
können — so kann ich doch die Versicherung abgeben, dass Dickel
stets mit größter Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit vorgegangen ist.“
Heute heisst es von den beiden aus dem Jahre 1898 stammenden
Experimenten der Gesinnungsgenossen seines Vaters: „Fehlerquellen
können in diesen Versuchen unmöglich nachgewiesen werden.“ Um
so viel unkritischer ist OÖ. Dickel inzwischen geworden!
4) Herr Prof. Zander hatte die Freundlichkeit, mir diese Stelle aus seinem
Manuskript zur Verfügung zu stellen.
138 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
Betrachten wir kurz die von Dickel zitierten Experimente
und sehen wir, ob hier wirklich „Fehlerquellen unmöglich nach-
gewiesen werden können“! In beiden Experimenten wurden ım
Juli (am 13. bezw. 21. Juli) in Drohnenzellen abgesetzte Eier in
Weisel- bezw. Arbeiterinnenzellen übertragen und die Waben mit
diesen Eiern weisellosen Völkern beigegeben. In beiden Fällen
zogen die Arbeiterinnen aus den angeblichen „Drohneneiern*
Königinnen. Ich bin ganz mit Dickel einverstanden, wenn er
sagt, dass zur Erklärung dieser Experimente „die Angaben über
die Zeit der Eiablage uns eine Handhabe bieten“. „In beiden
Fällen“, sagt er weiter, „wurden die Bier im Monate Juli ın
Drohnenzellen abgesetzt, zu einer Zeit also, zu der normaler-
weise Drohnen nicht mehr entstehen (von mir gesperrt. N.),
oder um mit dem Imker zu sprechen, der Drohnentrieb erloschen
ist. Da um diese Zeit, wie der Versuch Heck’s beweist, die Eier
in der Regel befruchtet sind, auch wenn sie in Drohnen-
zellen abgelegt werden (von mir gesperrt. N.), so wird es sehr
wahrscheinlich gemacht, dass die begattete Königin während der
Schwarmzeit in Drohnenzellen ausschließlich unbefruchtete Eier, mit
dem Abflauen des Triebes nach Erzeugung von Geschlechtstieren
mehr und mehr befruchtete, unter Umständen ausschließlich be-
fruchtete Eier absetzt.“ Diesen Folgerungen Dickel’s stimme ich,
wie gesagt, vollkommen zu. Aber was berechtigt Dickel anzu-
nehmen, dass die von Heck aus Drohnenzellen in Weiselzellen
übertragenen Eier in ihren ursprünglichen Zellen Drohnen ergeben
hätten? Dickel sagt selbst, dass in dem betreffenden Volke der
„Drohnentrieb“ erloschen war. In einem Volke aber, ın dem der
Drohnentrieb erloschen ist, bestiftet die Königin normalerweise die
Drohnenzellen überhaupt nicht. Sie bestiftet sie nur dann, wenn
ihr andere Zellen nicht zur Verfügung stehen, oder wenn man eine
Drohnenwabe mitten in das Brutnest hängt, da leere Waben dort
nicht geduldet werden. Diese Eier sind allerdings in der Regel
befruchtet, aber es entstehen dann aus diesen befruchteten Eiern
— vergl. das oben besprochene Experiment — auch keine Drohnen
sondern Arbeiterinnen. Ich habe bereits an anderer Stelle (1914b)
darauf hingewiesen, dass es sehr wohl möglich ist, selbst im August
noch wirkliche „Drohneneier“, d. h. unbefruchtete Eier, in Drohnen-
zellen zu erhalten, nämlich dann, wenn man das Erlöschen des
Drohnentriebes durch geeignete Mittel verhindert bezw. hinaus-
schiebt. Ich habe in den Monaten April, Mai, Juni, Juli und August
des Jahres 1911 viele Hunderte von Eiern aus Drohnenzellen fixiert.
Ich habe kein befruchtetes Eı darunter gefunden.
Die Kreuzungsexperimente.
Was die Kreuzungsexperimente mit verschiedenen Bienenrassen
anbetrifft, die von Dickel ebenfalls als „Beweis“ für seine Theorie
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 139
angeführt werden, so verweise ich auf meine früheren Ausführungen
(1913). Hier möchte ich nur die Angaben Dickel’s über Cuenot’s
Schlussfolgerungen aus seinen Experimenten richtigstellen und zu-
gleich zeigen, in welch unverantwortlicher Weise Dickel die An-
sichten anderer Autoren entstellt. Cu¬ (1909) untersuchte die
Nachkommen einer schwarzen Bienenkönigin, die von einer gelben
Drohne begattet worden war. Die weiblichen Nachkommen hatten
alle Hybridencharakter, die ungefähr 300 untersuchten Drohnen
aber waren fast alle schwarz wie die Mutter. Nur zwei wiesen
ein breites gelbes Band auf dem ersten Hinterleibsring auf. Wie
ist das Auftreten dieser beiden Drohnen zu erklären? Cuenot
selbst äußert verschiedene Vermutungen. „Ces deux mäles a bandes
peuvent &tre des hybrides, des varıants ou des &migrants de ruches
lointaines; hypothese la plus vraısemblable serait celle des vari-
ants.“ Ich habe dem hinzugefügt, dass die Angaben Cuenot’s auch
nicht ausschließen, dass die beiden Drohnen von einer eierlegenden
Arbeiterin, also einem Hybriden, stammten. Wie sich unsere An-
gaben im Munde Dickel’s umgestalten, zeigt folgender Satz:
„Cuenot konnte sich ıhr Auftreten nicht erklären, wogegen Nachts-
heim die Behauptung aufstellt: „dass die beiden Drohnen von einer
eierlegenden Arbeiterin, also von einem Hybriden abstammten.*
Während es an dieser Stelle (S. 742) heisst, Cu&@not habe sich
das Auftreten der beiden Drohnen nicht erklären können, schreibt
Dickel auf S. 720, Cuenot sei „auf Grund von Vererbungserschei-
nungen bei Kreuzungen der französischen und italienischen Rasse“
zu der Anschauung „gezwungen“, dass gelegentlich auch aus be-
fruchteten Eiern Drohnen entstehen. Cuenot schließt seine Ab-
handlung mit den Worten: „Somme toute, le resultat que j’ai
obtenu, bien que passıble de critiques, parle contre l’opinion de
Dickel et de Kuckuck, et confirme la theorie de Dzierzon.“
Die von mir ausgesprochene Vermutung kritisiert Diekel mit
folgenden Worten: „Also nur um diesen Fall ins Dzierzon’sche
Schema zu zwängen, greift er zu einer Erklärung, die mit dem
scheinbar (von mir gesperrt. N.) nie durchbrochenen Gesetze
unvereinbar ist, dass in Gegenwart einer normalen Königin Arbeits-
bienen niemals zur Eiablage schreiten.“ Im Gegensatze hierzu liest
man auf S. 774, dass bei der deutschen Rasse „der Streit um die
sogen. Drohnenmütterchen nie zu Ende gekommen ist“; die dies-
bezüglichen Angaben der Autoren seien „sicherlich nicht völlig aus
der Luft gegriffen“. Meine Vermutung — um mehr handelt es
sich ja nicht — ist also doch wohl auch nach Dickel nicht ganz
und gar unberechtigt.
Gibt es „überreife“ Bieneneier ’?
Ich habe bereits Dickel’s Theorie der „Überreife“ erwähnt.
Königinnen, die einige Zeit am Begattungsausfluge verhindert wurden,
140 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
sollen zunächst nur Drohnen erzeugen, da ihre Eier „überreif“ ge-
worden sind, und „Eier im Zustande der Ovarialüberreife zeigen
bei den Bienen die Tendenz, sich zu Männchen zu entwickeln, die
bei langer Einwirkung der sie bedingenden Faktoren sich bis zur
ausschließlichen Produktion von Drohnen steigern kann.“ Beob-
achtungen Huber’s (1814) bilden für Dickel den Anlass zu dieser
Behauptung. Eine Königin, die längere Zeit am Begattungsausfluge
gehindert worden war, schließlich aber doch noch den Hochzeitsflug
ausführte, erzeugte ausschließlich Drohnen, obwohl sie nach Huber
„mit den unzweideutigen Zeichen der Befruchtung“ zurückgekehrt
war. Dickel genügt diese Angabe Huber’s als Beweis dafür, dass
die von dieser Königin abgesetzten Eier befruchtet waren, und für
ihn „bleibt nur die Annahme, dass in der Verzögerung des Be-
gattungsfluges, mit anderen Worten in der Überreife der Ovarialeier
die Ursache zu suchen ist“ (S. 744). Vergleichen wir hiermit, was
Dickel auf S. 790f. sagt: „Auch Autoren, die durchaus auf dem
Boden der Dzierzon’schen Lehre stehen, haben darauf hingewiesen,
dass Jdie Eier erst unter dem Einflusse der Begattung voll ausreifen.
Es besteht die, allerdings wenig beachtete Tatsache, dass unbe-
gattete Königinnen viel weniger fruchtbar sind wie begattete, dass
sie nach Absetzen einer verhältnismäßig geringen Zahl von Eiern
ihre Tätigkeit beschließen ... Unter dem Einfluss der stattgehabten
Kopula geht mit dem Legetier eine so starke Veränderung vor sich,
dass es nach 24-—36 Stunden kaum wieder zu erkennen ist.“ Diese
Angaben Dickel’s sind vollkommen richtig. Ich habe junge, noch
nicht begattete Königinnen untersucht. Ihre Eierstöcke sind winzig
im Vergleich zu denen einer jungen Königin auch nur kurze Zeit
nach der Begattung. Während hier die Ovarien den größten Teil
des ganzen Hinterleibes ausfüllen und die Eiröhren reife Eier in
großer Zahl enthalten, lehren Schnitte durch das Ovar einer unbe-
gatteten Königin, dass bei dieser selbst die ältesten Eier noch nicht
in die Wachstumsperiode eingetreten sind. Wohl sind die Nähr-
kammern und die Eikammern im unteren Teile der Eiröhren be-
reits deutlich abgegrenzt, aber die Eizellen übertreffen dıe Nähr-
zellen erst wenig an Größe, und auf diesem Stadium, das schon
von der Puppe erreicht wird, bleiben die Ovarien zunächst stehen.
Erst die Begattung ist für die Eier der Anreiz zur Weiterentwicke-
lung. Unterbleibt die Begattung, so erfolgt erst nach längerer Zeit
die Weiterentwickelung der Eier, aber auch dann reift nur, wie
ja auch Dickel hervorhebt, eine verhältnismäßig geringe Zahl von
Eiern’). Wenn Dickel also die Feststellung R. Hertwig’s, dass bei
5) Nicht nur bei der Honigbiene hat die Begattung einen solch außerordent-
lichen Einfluss auf die Entwickelung des weiblichen Keimstockes. Unbegattete
Schmetterlingsweibchen verhalten sich ganz ähnlich wie die unbegattete Bienen-
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 141
Fröschen Überreife der Eier männchenbestimmend wirkt, verallge-
meinern will, so vergisst er ganz, dass bei der Honigbiene die Vor-
bedingungen für ein Überreifwerden der Bier gar nicht gegeben sind.
Und selbst wenn man zugeben wollte, es könnte das längere Verweilen
der jungen Eizellen auf dem genannten Stadium bei der Honigbiene
den gleichen Effekt haben wie das längere Verweilen der Eier ım
Uterus bei den Fröschen, so wäre gar nicht einzusehen, weshalb
in dem von Huber mitgeteilten Falle sich die späteren Eier, die
bei der begatteten Königin ständig aus Ovogonien erzeugt werden,
genau so verhielten wie die ersten.
Die Zwitterbienen.
Auch die Zwitterbienen sollen überreifen Eiern entstammen,
Eiern, „die eine je nach dem Grade der Überreife stärkere oder
schwächere Tendenz zur Bildung des männlichen Geschlechts be-
saßen.“ Ich glaube, auf eine weitere Diskussion der Dickel’schen
Theorie der Überreife verzichten zu können.
Wir haben hiermit alle „Beweise“ Dickel’s für das „recht
häufige“ Entstehen von Drohnen aus befruchteten Eiern einer
Kritik unterzogen. Das nächste Kapitel des Dickel’schen Auf-
satzes betitelt sich: „Was ist die Ursache der geschlechtlichen
Differenzierung der indifferenten Formen?“ Wir können uns nach
den bisherigen Ausführungen ein Eingehen auf dieses Kapitel ver-
sagen. Neben einer Reihe von Unrichtigkeiten enthält es — das
sei hier nicht unerwähnt gelassen — einen interessanten Versuch
OÖ. Dickel’s. Er zeigt, „dass der Futterbrei, der ın Königin-,
Drohnen- und Arbeiterzellen abgesetzt wird, spezifisch verschieden
voneinander ist.“ Diese Feststellung ist nicht neu, aber der Weg,
auf dem Dickel zu seinem Resultat kommt, ist noch nicht be-
gangen worden.
Dickel behandelt dann weiter die Frage: „Gilt die Dzier-
zon’sche Theorie für andere Hymenopteren?“ Er beantwortet
natürlich die Frage im negativen Sinne. Ich kann mir ein Eingehen
auf dieses Kapitel um so eher ersparen, als Kollege Armbruster
demnächst Dickel eine Antwort auf seine Behauptungen geben
und zugleich neue Beweise für die Richtigkeit der Dzierzon’schen
Lehre erbringen wird.
Auf Grund des Gesagten komme ich zu folgenden Resultaten:
Die Ausführungen Otto Dickel’s sind nicht geeignet,
die Richtigkeit der Dzierzon’schen Lehre auch nur irgend-
königin (s. z. B. die Experimente Klatt’s, 1913). Auch bei Dinophilus ist das
Verhalten des begatteten Weibchens sehr verschieden von dem des unbegattet ge-
bliebenen (s. Nachtsheim, 1914a).
149 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
wie in Zweifel zu ziehen. Es wird auch von den An-
hängern der Dzierzon’schen Lehre die Möglichkeit einer
gelegentlichen Entstehung von Drohnen aus befruch-
teten Eiern zugegeben, aber es liegt bisher kein wissen-
schaftlicher Beweis für eine solche Entstehung einer
Drohne vor, geschweige denn dafür, dass zu gewissen
Jahreszeiten Drohnen recht häufig aus befruchteten Eiern
sich entwickeln. Dickel’s Behauptung, dass die Arbeiter-
larven intermediäre Formen darstellen, ist nicht ein-
mal mehr diskutabel. Auch die übrigen Behauptungen
sind nicht mehr als zum Teil sehr kühne Spekulationen,
denen jegliche exakte Grundlage fehlt.
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Physiologische Untersuchungen über das pulsierende
Gefäfs von Bombyx mori L.
Von Osvaldo Polimanti.
(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Perugia.)
I. Der Einfluss der Temperatur auf den Rhythmus des
pulsierenden Gefäßes.
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur auf die Zahl
der Pulsationen des pulsierenden Gefäßes der Insekten stammen
vonNewport!), der bei Anthophora retusa beobachtete, dass, wenn
das Tier 1—2 Stunden lang den Sonnenstrahlen ausgesetzt wurde,
die Zahl dieser Pulsationen von 100 auf 140 stieg. Yersin?) sah,
dass die Pulsationen des dorsalen Gefäßes einiger Insekten (Motten,
Grillen) einen fast das Doppelte betragenden Unterschied zeigten,
wenn die Außentemperatur warm war, im Vergleich mit der bei
kalter Temperatur beobachteten Zahl.
Dogiel°) studierte zuerst systematisch den Einfluss der Tem-
peratur (0—38° C.) auf das Herz der Larve von Corethra plumi-
1) Newport. Artikel „Insecta“ in Cyclopaedia of anatomy and physiology
by Tood. Vol. VIII, p. 981, London 1839.
2) Yersin, A. Zitiert von M. Girard. Traite &l&mentaire d’entomologie.
T. I, p. 21, Paris 1873.
3) Dogiel. Anatomie und Physiologie des Herzens von Corethra plumicornis.
Memoires Acad&mie de St. Pötersbourg VII, 1877 (p. 16, Extrait).
144 Polimanti, Physiologische Untersuchungen etc.
cornis und beobachtete, dass eine Erniedrigung der Temperatur
seinen Pulsationsrhythmus verlangsamt, während eine Erhöhung
derselben ihn beschleunigt. Aus diesen Versuchen schließt er, dass
das Herz dieser Larve sich der Temperatur gegenüber wie das Herz
der Vertebraten verhält.
In einer Reihe von Untersuchungen, die ich*) über das Herz
eines Schaltieres (Maja verrucosa M. Edw.) ausgeführt habe, stu-
dierte ich auch den Einfluss der Temperatur auf den Pulsations-
rhythmus des Tieres und wollte sehen, ob das Gesetz von Arrhe-
nius und van’t Hoff anwendbar wäre, nach welchem die
chemischen Reaktionen infolge jeder Temperaturzunahme von 10°
um das Doppelte oder Dreifache zunehmen: al — 0410:
In dieser Arbeit berechnete ich eben auf Grund dieses Gesetzes
die Resultate, die Plateau?) erhalten hatte, als er die Pulsschwan-
kungen des dorsalen Gefäßes eines Käfers (Oryctes nasicornis) stu-
dierte, und ich fand genau: Q10 = 1,46. Dieses selbe Gesetz
wandte ich auf den Atmungsrhythmus bei Fischen®) und auf den
Rhythmus des embryonalen Herzens von Fischen’) an und fand,
dass es auch hier innerhalb gewisser Grenzen gilt. In diesen meinen
Abhandlungen findet sich die vollständige Literatur über die An-
wendung dieses Gesetzes von Arrhenius und van’t Hoff auf die
Lebenserscheinungen, weshalb ich an dieser Stelle nicht wiederhole,
was die verschiedenen Biologen über diese Frage veröffentlicht haben.
Ich hielt es für interessant, systematische Untersuchungen an-
zustellen über den Einfluss, den die Temperatur auf den Rhythmus
des pulsierenden Gefäßes der Larve eines Insektes (Bombyx mori L.)
ausübt, eines Gefäßes, mit dessen anatomischem Bau sich in jüngster
Zeit E. Verson°) mit großem Erfolg beschäftigt hat; gleichzeitig
wollte ich untersuchen, inwieweit auch in diesem Falle das oben
erwähnte Gesetz von Arrhenius und van’t Hoff anwendbar sei.
Wie wir schon gesehen haben, liegen von derartigen Untersuchungen
nur die von Plateau über Oryctes nasicornis vor, deren Resultate
4) OÖ. Polimanti. Beiträge zur Physiologie von Maja verrucosa M. Edw.
— I. Herz. Archiv f. Anatomie und Physiologie (physiologische Abteilung), 1913,
p. 117—204, Fig. 71 im Text.
5) F. Plateau. Recherches physiologiques sur le cur des crustaces deca-
podes. Archives de Biologie, 1880, T. I, p. 595—695, Pl. 2 (XXVI—XXVI).
6) OÖ. Polimanti. Einfluss niedriger Temperaturen auf Pigmentierung und
Atmung von Apogon rex mullorum C. Bp. Centralblatt f. Physiologie, Bd. XXV,
1912, p. 1209—1213.
7) O. Polimanti. Influence des agents physiques, concentration, temperature
sur l’activitG du ceur embryonnaire des poissons. Journal de physiologie et de
pathologie gen£rale, 1911, p. 797—808.
8) E. Verson. Sul vaso pulsante della sericaria. Atti del R. Istituto Veneto
di Scienze, Lettere ed Arti T. LVII, parte II, anno 1907—1908. Estratto p. 33, 2 tav.
Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 145
eben von mir nach der Formel dieses Gesetzes berechnet wurden.
Diese meine Versuche machte ich an Larven von Bombyx mori,
die sich im letzten Lebensalter befanden (Länge 7—7,5 em). Die
Larven wurden derart ın Maulbeerblätter enthaltende Gefäße ge-
bracht, dass sie immer Nahrung fanden; diese Gefäße waren doppel-
wandig, so dass ich mittels eines Stromes von warmem Wasser
sehr leicht bewirken konnte, dass die Temperatur des inneren Ge-
fäßes varıierte. Die Larven wurden Temperaturen von 15 —20—
25--30—35—40°C. ausgesetzt; es wurden 20 Reihen von Versuchen
ausgeführt und in jeder Reihe wurden 25 Larven beobachtet, die
nacheinander Temperaturen von 15—40°Ü. ausgesetzt wurden. Die
Temperatur wurde immer um je 5° ©. erhöht und die Larven ver-
blieben mindestens 30 Minuten lang in einer jeden von diesen ge-
steigerten Temperaturen, nämlich so lange, bis die Zahl der bei allen
Larven beobachteten Pulsschläge gleichmäßig geworden war.
Die erhaltenen Resultate bringe ich ın Gestalt einer Tabelle:
Zahl der Pul- Wert von
sationen des pul- ne Kt+10 Bemerkungen
sierenden Gefäßes gw=— IX,
15 34 Indem Maße, wie die Tem-
Temperatur
(in Celsiusgraden)
20 40 1.588 peratur von 15 auf 35° C.
25 54 I steigt, fressen die Larven
£ 1,625 E * t
30 65 1388 mit größerer Gier.
35 75 1,200 Bei 40° C. fressen die
40 90 Larven nicht mehr und sind
Mittelwert 1,450 sehr unruhig.
Mithin ist dieser Wert von Q10 = 1,45, für das dorsale Gefäß
der Larve von Bombyx mori bei Temperaturen zwischen 15 und
40°C. fast gleich dem von Plateau gefundenen und von mir für
das dorsale Gefäß eines anderen Insektes, des Käfers Oryetes nasicornis,
für Temperaturen zwischen 24 und 34° C. berechneten (Q 10 = 1,46).
Wir können also schließen, dass innerhalb gewisser Grenzen
das Gesetz von Arrhenius und van’t Hoff auch für den Puls-
rhythmus des dorsalen Gefäßes der Insekten, sowohl im Larven-
zustand als bei dem erwachsenen Tiere, ın Geltung steht. Zu be-
merken ist auch der Umstand, dass, wenn die Temperatur (von
25—40°C.) gesteigert wird, der Wert von Q10 stufenweise allmäh-
lıch abnimmt, während er zwischen 15 und 30°C. allmählich leicht
zunimmt.
Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode
bei den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen.
Von Dr. med. E. Fischer in Zürich.
In Nummer 5 (20. Mai 1914) dieser Zeitschrift ist von OÖ. Proch-
now eine kurze Abhandlung: „Die analytische Methode bei
der Gewinnung der Temperatur-Aberrationen der
XXXV. 10
446 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc.
Schmetterlinge“ gebracht worden. Obgleich darin mit beson-
derer Hervorhebung eine, wenn auch späte, Bestätigung meiner
bereits vor nahezu 20 Jahren aufgestellten und durch die experi-
mentellen Erfolge seit 1898 als richtig erwiesenen Theorie gebracht
wird, so musste ich doch beim Durchlesen eine Anzahl Rand-
bemerkungen und Fragezeichen anbringen, deren Bedeutung ich
hier als Ergänzungen und Berichtigungen des Prochnow’schen
Aufsatzes darlegen möchte.
Der Verfasser führt zunächst p. 302/03 an, dass alle Experi-
mentatoren dieses Gebietes sich bisher der von den ersten auf
diesem Felde tätigen Forschern veröffentlichten Methoden bedient
hätten; dieses Verfahren sei, soweit es insbesondere die Bestim-
mung des kritischen Stadiums betreffe, nicht ausreichend genau und
damit stehe das in der Regel nicht günstige Ergebnis der Versuche
in Beziehung, indem sich meist neben einigen aberrativ veränderten
Stücken eine Menge von Übergangsformen und gar nicht veränderten
Faltern ergaben.
In diesen Umständen sieht der Verfasser die Notwendigkeit
einer verbesserten, analytischen Methode begründet, wie eine solche
in seinem Sinne zur Bestimmung des kritischen oder sensiblen
Stadiums der Schmetterlingspuppen bisher noch nicht angewendet
worden ist.
Im Anschlusse hieran möchte ich auf eine mir BObW ende er-
scheinende Unterscheidung aufmerksam machen.
Seit der Wiederaufnahme der Dorfmeister- Weismann’schen
Temperaturexperimente war man naturgemäß bestrebt, diese Me-
thode nach Erfordernis und Möglichkeit zu verbessern. Da aber
nur mit mäßig von der normalen Temperatur abweichenden Kälte-
und Wärmegraden experimentiert wurde, indem bei den sogen.
Kälteexperimenten ca. + 1 bis 4 8° C., bei den Wärmeexperi-
menten +35 bis + 38° C. in Anwendung kamen, schien jene un-
gefähre Bestimmung des kritischen Stadiums, nach welchen die
Puppen ziemlich frisch, d. h. im Alter von mehreren Stunden zur
Exposition gelangten, annähernd auszureichen. Da von den ge-
nannten Temperaturen eine Schädigung nicht gerade zu befürchten
war, wurden die Puppen zumeist auch ziemlich frisch und somit
noch früh genug, d. h. vor Ablauf des kritischen Stadiums ver-
wendet.
Anders verhielt es sich dagegen, als 1895 von mir jene neu-
artigen Experimente eingeführt wurden, bei denen Temperaturen
unter dem Nullpunkte (—4 bis —20° C.) mit intermittierenden
Expositionen zur Einwirkung gebracht wurden, wobei alsdann ganz
extrem veränderte Formen, sogen. Aberrationen auftraten, die,
entsprechend der von mir 1894 aufgestellten Hemmungstheorie in
gleicher Weise auch durch sehr hohe Wärmegrade (+ 40 bis + 45° C.)
Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s ‚ analytischer Methode ete. 147
erzeugt werden konnten. Bei diesen Frost- und Hitzeexperi-
menten, auf die sich ©. Prochnow in seinen Ausführungen be-
zieht, ergaben die Puppen im allgemeinen zunächst nicht besonders
hohe Prozente an Aberrationen, z. T. starben die Puppen auch ab.
Vielleicht lag der Grund davon schon im experimentellen Ver-
fahren selber, z. B. in der Art der Expositionen, da hier, im Gegen-
satze zu den Kälte- und Wärmeexperimenten, nicht mit 3—4 Wochen
lange dauernder und konstanter Einwirkung verfahren wurde, sondern
nur einige Tage hindurch täglich etwa einmal je eine bis einige
Stunden die Puppen unter dem Nullpunkte gehalten wurden. Immer-
hin erhielt ich damals 8—-25%, trotz Verwendung einer geringen
Puppenzahl.
In der Verfolgung dieser Versuche beobachtete ich auch weiter-
hin ein starkes Schwanken der Prozente und es galt daher, die
Ursache dieses Schwankens ausfindig zu machen. Der Natur dieser
Experimente entsprechend musste zunächst tastend nach dem rich-
tigen Maße der verschiedenen, dabei einwirkenden Umstände wie
Temperaturgrad, Dauer und Zahl der Expositionen und der Zwischen-
pausen gesucht werden. Es hatte sich mir hieraus bald ergeben,
dass das Schwanken der Prozente in einer Verschiedenheit im
Alter der verwendeten Puppen gelegen sein müsse und dass somit
hier eine viel genauere und engere Umgrenzung des sensiblen Sta-
diums nötig sei, um einerseits die Puppen nicht durch zu frühe Ver-
wendung zu schädigen, andererseits nicht durch zu späte Exposition
das kritische Stadium zu verpassen. Eine Anzahl Kontrollversuche
ergab bald die Richtigkeit dieser Annahme und zeigte, dass bei
exaktem Experimentieren 60— 80%, und sogar 100 %, Aber-
rationen bei verschiedenen Puppenserien und verschie-
denen Arten erreicht werden konnten. Inzwischen war
Standfuß, der von 1896 an solche Frost- und Hitzeexperimente
ausführte, zu einem ganz anderen, gegenteiligen Resultate ge-
langt, indem er trotz Verwendung einer sehr großen Puppenzahl
stets nur etwa 2%, aberrativer Falter erreichte. Dieses Ergebnis
verleitete ihn zu dem Fehlschlusse, dass die Entstehung der Aber-
rationen auf einer rein individuellen Veranlagung (individuellen
Variabilität) beruhe, die eben nur etwa 2%, der Puppen eigentüm-
lich sei und durch die extremen Temperaturgrade alsdann ausgelöst
werden könne. Aus diesem Grunde verblieb Standfuß auch
weiterhin beim Massenexperiment, in der Meinung, dass nur mit
der Zahl der Puppen die absolute Zahl der Aberrationen zunehmen
könne; es ist dieser Irrtum ganz besonders auch in seinem 1897
vorgenommenen Vererbungsversuche mit urticae- Aberrationen so-
wohl in der verwendeten Puppenzahl als in dem prozentualen Er-
gebnis zum Ausdruck gekommen. — In den Standfuß’schen Ver-
suchen war offenbar gerade die Verwendung großer Puppenmengen,
10*
148 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc.
die der Experimentator für einen besonderen Vorteil und Vorzug
hielt, die Ursache der geringen Prozente, weil dabei eine aus-
reichend genaue Bestimmung des sensiblen Stadiums nicht möglich
war. Auch hatte offenbar die Befürchtung, dass die Puppen die
tiefen Kälte- und hohen Hitzegrade im frischen Zustande nicht er-
tragen würden, dazu geführt, sie erst in etwas vorgerücktem Alter
zu verwenden; damit war aber das sensible Stadium, das bei
Sommertemperatur ohnehin rasch vorübergeht, bereits abgelaufen
und die Puppen konnten trotz extremer Temperatureinwirkung
keine Aberrationen mehr ergeben.
Gemäß meinen Beobachtungen hatte ich große Puppenserien
sogar im Anfang nie angewandt und war nach den oben mitge-
teilten Feststellungen sehr bald zu ganz kleinen Serien übergegangen,
weil nur so ein richtiges, exaktes Verfahren, insbesondere eine ge-
naue Bestimmung der kritischen Phase und eine gleichmäßige Be-
einflussung sämtlicher Puppen durch die Temperatur möglich war.
Über die Untersuchungen, die ich über diese Frage 1898 anstellte
und über ıhre sehr günstigen Ergebnisse habe ich ım XIII. Jahr-
gange der Societas entomologica Nr. 22 und 23 (1899) berichtet
(„Experimentelle kritische Untersuchungen über das prozentuale
Auftreten der durch tiefe Kälte erzeugten Vanessen-Aberrationen‘“)
und ließ 1901 ın Nr. 7 und 8 der gleichen Zeitschrift eine zweite
Publikation folgen, die sich außer mit der Frage nach den höchst-
möglichen Prozenten auch mit dem Mindestmaße der Expositions-
dauer und der Hitzegrade befasste. Als sicher feststehend hatte
sich damals das Resultat ergeben:
1. dass es tatsächlich möglich ist, sämtliche Puppen zur An-
nahme des aberrativen Kleides zu zwingen, also 100%, zu er-
reichen;
2. dass es eine nur einigen wenigen Individuen zukommende
aberrative Schwankungsfähigkeit nicht gibt, sondern dass diese
Anlage jeder Puppe eigen ist.
3. dass somit geringe Prozente nicht auf individueller Disposition
der Puppen, sondern in einem experimentellen Fehler
beruhen müssen und
4. dass sämtliche Puppen bei genau gleicher experimenteller
Behandlung auch durchweg in gleicher Weise sich verändern,
also Aberrationen ergeben, die sich in der gleichen Ent-
wickelungsrichtung bewegen.
Ein Vergleich dieser vor 15 Jahren sicher gestellten Tatsachen
mit den neulich von ©. Prochnow bekannt gegebenen lässt eine
bemerkenswerte Übereinstimmung erkennen.
Was nun die zur Bestimmung des kritischen Stadiums
von mir seinerzeit gewählte Methode betrifft, so hatte ich sie nach
zwei, sich gegenseitig ergänzenden Richtungen hin vorgenommen,
Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 149
nach einem bestimmten Grade der Abnahme des Haut-
glanzes und, nach dem Härtegrad der Chitinhaut der Puppe.
Ich hatte auf diesem Wege feststellen können, dass die Puppe dann
eine genügende Widerstandsfähigkeit gegen die extreme Temperatur
und zugleich eine noch ausreichende Sensibilität für dieselbe be-
sitzt, wenn der feuchte Hautglanz auf den Flügelscheiden eben ver-
schwunden, auf der dazwischen gelegenen Rüsselscheide aber noch
vorhanden ist.
Da diese Abnahme des Glanzes natürlich mit einer zunehmen-
den Erhärtung der Chitinhaut einhergeht, so zog ich auch den
Härtegrad der Hinterleibsringe, also den Grad der Nachgiebigkeit
gegen einen leichten, mit stumpfer, schräg gestellter Nadel ausge-
übten Druck zur Beurteilung heran.
Die positiven Erfolge der nach dieser Bestimmung vorge-
nommenen Frostexperimente ergeben sodann, dass diese zwei Zu-
stände, d.h. ein bestimmter Grad der Härte und des Glanzverlustes
mit dem Höhepunkt des sensiblen Stadiums und der ausreichenden
Resistenz gegen Frostgrade zeitlich zusammenfallen. In jenen
beiden Zuständen der Chitinhaut war somit ein Indikator für das
sensible Stadium gefunden.
Es muss nun allerdings gesagt werden, dass die hier erwähnte
Art der Bestimmung ein großes Maß persönlicher Erfahrung und
Übung voraussetzt und dass bei gewissen Arten, wie z. B. denen
der Gattung Argynnis, die Beurteilung des feuchten Hautglanzes
schwieriger ist, weil diese überhaupt nie eine matte Oberfläche er-
halten, sondern mit dem Erhärten einen lackähnlichen Glanz an-
nehmen, während andererseits der Härtegrad der Ohitinhaut bei
verschiedenen Arten der Gattung Apatura, Limenitis u. a. ein ver-
schiedener ist.
Demgegenüber besitzt nun die Prochnow’sche Methode den
Vorteil, dass sie diese subjektive Erfahrung, die bei meiner Methode
eine nicht geringe Rolle spielen wird, durch ein rein physikalisches
Messverfahren ersetzt.
Aber dieser Vorzug wird z. T. dadurch wieder vermindert,
dass nicht nur für jeden Temperaturgrad innerhalb der Tagestempe-
ratur von etwa 4 17° bis + 25° C., sondern auch für jede Puppen-
art eine besondere, sehr umständliche Bestimmung der Entwicke-
lungsgeschwindigkeit nötig ist, wie sie Prochnow p. 306 in einer
Tabelle für vier Vanessen bereits aufgestellt hat und dass ferner,
nachdem diese Maße ermittelt sind, der Experimentator genötigt
ist, beständig auf den Zeitpunkt, in dem sich jede Raupe verpuppt,
auf die jeweilen herrschende Temperatur, in der sich die Puppe
vor Beginn des Experimentes befindet un auf den Termin, der
seit der erfolgten Verpuppung verstrichen ist, Obacht zu geben,
wenn er das Richtige treffen will, während die Bestimmung des
150 Fischer, Berichtigungen zu OÖ. Prochnow’s analytischer Methode ete.
kritischen Stadiums nach meiner Methode von diesen drei Faktoren
in weitem Maße unabhängig und darum insofern einfacher ist; auch
gestattet sie, sofern es Zeit und Umstände erfordern, und z.B. die
erste Exposition verschoben oder Puppen von verschiedenem Alter
miteinander exponiert werden sollen, durch Verbringen der Puppen
ın kühlere oder höhere Temperatur den Eintritt und Ablauf des
kritischen Stadiums zu verzögern bezw. zu beschleunigen, während
ein solcher Temperaturwechsel bei der analytischen Methode Proch-
now’s eine umständliche rechnerische Kontrolle erfordern würde.
Aus den beiden vorausgegangenen Abschnitten ergibt sich so-
mit, dass das von mir angewandte Verfahren mit seinem Endeffekt
von 80—100% Aberrationen wohl ebenso leistungsfähig ist wie das
vonO.Prochnow angegebene und dass die dabei befolgte Methode
zur möglichst sicheren Umgrenzung des sensiblen Stadiums auch
als eine wissenschaftliche bezeichnet werden darf.
Wenn übrigens von solch hohen Prozenten die Rede ist, so
bezieht sich eine solche Angabe zunächst immer auf die Arten der
Gattung Vanessa, die von allen bekannten wohl am leichtesten zur
Aberrationsbildung neigen und mit denen darum von jeher und
vorherrschend experimentiert zu werden pflegt, und auch die Proch-
now’schen Angaben beziehen sich, wie aus dem Text seiner Ab-
handlung zu entnehmen ist, nur auf die Vanessen. Entsprechend
verhalten sich nach meinen Beobachtungen auch die nächstver-
wandten Gattungen Polygonia und Pyrameis u.a. Aber hohe und
höchste Prozente bei allen diesen Gattungen würden meines Er-
achtens noch nicht zu der Annahme berechtigen, dass die analytische
Methode auch bei den Arten fernerstehender Gattungen gleich
gute Resultate ergeben müsse. Abgesehen davon, dass es Arten
geben kann, bei denen eine sensible Phase wahrscheinlich überhaupt
nicht vorkommt, bringen auch wirklich „reaktionsfähige“ Arten dem
Temperaturexperiment andere Eigenschaften entgegen als die Va-
nessen. Der Unterschied scheint durch ihr Vorleben ım Ei- und
Raupenstadium bedingt zu sein; denn da die Vanessen ım Ei- und
Raupenstadium gesellschaftlich, d. h. nesterweise leben, sich also
unter annähernd gleichen äußeren Einflüssen und zwar zumeist in
der warmen Jahreszeit entwickeln, bringen auch ihre Puppen durch-
weg gleiche Beanlagungen mit, wenn sie dem Experiment unter-
worfen werden und verändern sich, falls für wirklich (nicht bloß
scheinbar) gleiche Beeinflussung aller Puppen in jeder Hinsicht ge-
sorgt wird, auch ın gleicher Weise, d. h. es treten sehr hohe Pro-
zente ganz gleichsinnig und sogar gleich stark veränderter Aber-
ratıonen auf. So habe ich wiederholt Serien von 50—100 Puppen
von Vanessa urticae probeweise ım Frost exponiert und aus sämt-
lichen Puppen stark veränderte Aberrationen von einer fast er-
müdenden Gleichförmigkeit erhalten.
Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 151
Abweichend davon verhalten sich schon die Argynnis-Arten
und zwar offenbar zufolge einer anderen Lebensweise; sie über-
wintern nicht wie die Vanessen im Falterstadium, sondern als
ganz junge oder halb erwachsene Raupen, leben ganz zerstreut
und sind individuell verschiedenen klimatischen Einflüssen ausge-
setzt. Standfuß hat auf Grund negativer Resultate angenommen,
dass die Argynnis-Arten und überhaupt alle als Raupen über-
winternden Arten nur durch Hitze, aber niemals durch Frost-
grade Aberrationen ergeben. Diese Annahme ist indessen als
unrichtig erwiesen, denn auch die Argynnis-Arten ergeben z. B.
beim Frostexperiment ebenso gut und ebenso hochgradig veränderte
Aberrationen wie die Vanessen, ohne dass etwa stärkere Frostgrade
nötig wären, aber man muss entsprechend ihrer anderen Konsti-
tution die Frosteinwirkung etwas anders gestalten.
Einen ganz auffallenden Gegensatz zu allen diesen genannten
Arten bilden nun aber jene, die (wenigstens in einer Generation)
im Puppenstadium überwintern und sehr wahrscheinlich wird für
diese die Prochnow’sche Methode nicht ohne weiteres eine An-
wendung finden können, denn nach bisher gemachten Erfahrungen
tritt bei diesen das sensible Stadium nur bei den Puppen der
Sommergeneration im Anfange, bei den Puppen der Wintergene-
ration dagegen erst am Ende der Puppenentwickelung auf und
nach der nach erfolgtem Experiment festgestellten, sehr verschie-
denen Dauer bis zum Ausschlüpfen des Falters und anderweitigem
Verhalten muss man schließen, dass entweder die sensible Phase
je nach Individuum in verschiedenen Altersstadien eintritt, oder
aber, dass es im Leben dieser Puppen mehr als eine solche gibt.
Als eine weitere Vereinfachung seiner Methode führt O. Proch-
now an, dass er nur eine einzige Exposition benötige, um
selbst die vom Typus am meisten entfernten Aberrationen zu er-
zielen. Wenn man sich den Gang der Flügelentwickelung ver-
gegenwärtigt, so kann schon theoretisch abgeleitet werden, dass
eine einzige Exposition genügt und nicht nur bei Frost-, sondern
namentlich bei Hitzeexperimenten sind schon vor Jahren von
C. Frings, mir und anderen sehr kurze einmalige Expositionen
angewendet und dabei stark veränderte Aberrationen erreicht worden.
Ich ziehe es aber doch immer vor, 2—3 (selten 4) Expositionen
vorzunehmen, weil so eine gleichmäßigere und wohl auch kräftigere
Farbengebung möglich ist. Die Hinter- und Vorderflügel entwickeln
sıch nämlich, wie zuerst Bemmelen nachgewiesen und Standfuß
zur Erklärung der oft nicht gleichzeitigen Veränderung derselben
herangezogen hat, nicht zur gleichen Zeit; die Hinterflügel färben
sich früher als die Vorderflügel und Kontrollversuche mit extremen
Temperaturen haben ergeben, dass auch das kritische Stadium der
Hinterflügel früher eintritt; aber noch bevor es abgelaufen ist, be-
159 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc.
ginnt auch dasjenige der Vorderflügel; sie fallen also in einem
gewissen Zeitpunkte teilweise zusammen, und wird die Puppe in
diesem Zeitpunkte exponiert, so können Hinter- und Vorderflügel
gleichzeitig und ausreichend durch diese einmalige Einwirkung ver-
ändert werden. Aber es will mir scheinen, dass in diesem Falle
die beiden sensiblen Zustände einander nicht ganz gleichwertig seien
und wahrscheinlich liegt darın der Grund, weshalb bei den Proch-
now’schen Versuchen eine „nicht unbedeutende Variabilität von
störendem Einfluss“ war und nicht in allen Versuchen ein voll-
prozentiges Resultat erreicht wurde; denn wenn man die sensibeln
Stadien der Hinter- und Vorderflügel in ıhrem An- und Abschwellen
als zwei wellenförmige Kurven dargestellt denkt, so würde der ab-
steigende Schenkel der ersteren Kurve (also für die Hinterflügel)
etwa in halber Höhe von dem eben ansteigenden der zweiten (also
für die Vorderflügel) geschnitten werden. Absteigender und auf-
steigender Schenkel der beiden Kurven werden aber, auf die phy-
siologischen Prozesse der entsprechenden Flügelpaare bezogen, nicht
gleichwertig sein; die Hinterflügel werden also von der extremen
Temperatur in einer etwas anderen Verfassung getroffen als die
Vorderflügel. Anders verhält es sich aber, wenn zwei Expositionen
vorgenommen werden, von denen die erste im Höhepunkt des krı-
tischen Stadiums der Hinterflügel (im Gipfel der ersten Kurve), die
zweite in dem der Vorderflügel erfolgt, die beide einander eher
gleichwertig sınd als in dem vorhin angeführten Falle. Eine dritte
und eventuell vierte Exposition kann dann dazu dienen, den bereits
erreichten Effekt zu festigen oder zu verstärken. —
Als Ergebnis seiner Prüfungen hat Prochnow beobachtet,
dass jede Puppe der untersuchten Arten eine Aberration ergeben
kann und dass alle Aberrationen einer Art, die aus dem gleichen
Experiment hervorgehen, in der gleichen Richtung vom Typus
abweichen, und er schließt daraus:
1. dass jede Puppe die Anlage zur Aberration in sich trage;
2. dass daher die Aberrativität eine normale (nicht pathologische)
Eigenschaft jeder Puppe sei und
3. dass die Aberrationen als Rückschläge (Atavismen) aufge-
fasst werden müssen.
Jede dieser Beobachtungen ' und Schlussfolgerungen ist eine
volle und fast wörtliche Bestätigung jener Lehrsätze, die ich in
früheren Publikationen und auch im Spuler’schen Werke („Die
Schmetterlinge Europas“) aufgestellt habe. Nur die Art, wie
Prochnow seine Auffassung der Aberrationen als Rückschläge
begründet, kann ich nicht für richtig halten.
Dass die Aberrationen nicht bloß individuelle Farbenspiele
oder gar krankhafte Gebilde sind, ist experimentell und durch ge-
wisse Normalformen unserer Fauna erwiesen. Ob sie aber Formen
Schneider, Die rechnenden Pferde. 453
einer fernen Vergangenheit oder aber der Zukunft sind, ist nicht
leicht zu bestimmen; vieles spricht immerhin dafür, dass sie pro-
gressive oder Zukunftsformen sein können. Aber vielleicht sind
unsere Ansichten über Rückschlag und Zukunftsformen überhaupt
nicht ganz richtig und bedürfen einer Neugestaltung. Prochnow
macht wohl selber eine entsprechende Andeutung, wenn er p. 303
von einem „wenigstens partiell atavistischen Charakter“ spricht.
Aus dem Umstande aber, dass alle Puppen in der gleichen Rich-
tung aberrieren, folgt, wie mir scheint, durchaus noch nicht, dass
die Aberrationen Rückschläge sein müssten. Mit gleicher Be-
rechtigung könnte man sie auf jene Tatsache hin als reine Re-
aktionsprodukte im Sinne von Neubildungen auffassen, denn da
z. B. unter normalen Verhältnissen sämtliche Puppen einer Vanessen-
art Falter ergeben, die einander zum Verwechseln gleichen, so
müssen solche Puppen auch gleiche Eigenschaften (ohne individuelle
Neigung zu Abirrungen) in sich tragen; folglich werden solche
Puppen auf gleiche experimentelle Behandlung, z. B. mit Frost von
— 12° C., auch in gleicher Weise reagieren, also in gleicher Rich-
tung vom Normaltypus abweichen, so dass man diesen Vorgang
bildlich etwa durch den mathematischen Lehrsatz ausdrücken könnte:
Gleiches zu Gleichem addiert, gibt Gleiches. Daran wird nichts
Wesentliches geändert, wenn man die Wirkung der Frost- und
Hitzegrade als eine die Entwickelung hemmende auffasst.
Prochnow stellt zwar p. 307 ın Aussicht, dass der Nachweis
des Rückschlages durch früheren oder späteren Beginn der Tempe-
ratureinwirkung möglich sein könnte, weil auf diese Weise ein
älteres bezw. jüngeres phyletisches Zeichnungsstadium bei der onto-
genetischen Wiederholung festgehalten werden könnte. Es ist
jedoch wahrscheinlicher, dass hierbei nicht bloß die frühere oder
spätere Exposition, sondern die Stärke und Dauer der Frost-
oder Hitzegrade den Ausschlag geben und darum der von Proch-
now vermutete Entscheid auf diesem Wege nicht möglich ist.
Die rechnenden Pferde.
Erwiderung auf ©. Schröder’s Kritik.
Von K. C. Schneider, Wien.
Erst vor kurzem erhielt ich — ich wohne, da seit 2 Jahren
beurlaubt, nicht in Wien — Kenntnis von einem Artikel ©. Schrö-
der’s, Berlin, im Biolog. Gentralblatt (Nr. 9 des XXXIV. Bandes),
der dıe rechnenden Pferde behandelt und sich vor allem gegen
meine in Nr. 3 des XXXIII. Bandes entwickelte Auffassung über
die Leistungen der Elberfelder Pferde wendet. Anderweitige Ar-
beiten hielten mich ab, den Angriff sogleich zu beantworten; auch
kann ich ihm keinen besonderen Wert beilegen und antworte auch
154 Schneider, Die rechnenden Pferde.
jetzt nur, weil Schröder mir Ansichten unterschiebt, die ich nicht
geäußert habe. Der Angriff ıst typisch für die vulgäre Art und
Weise, wıe man Angaben von Gegnern behandelt. Schröder
kann meinen Artikel nur ganz flüchtig gelesen haben, jedenfalls
hat er ihn nicht verstanden; die Polemik wäre andernfalls ganz
überflüssig gewesen.
Meine Ansicht lautete dahin, dass die Rechenleistungen der
Krall’schen Pferde nicht dafür beweisend sind, dass sich die
Menschen aus den Tieren entwickelt haben. Denn die mathematische
Veranlagung ist eine apriorische und wird nicht durch Erfahrung
erworben; auch haben die Pferde nicht das geringste Bestreben,
sie durch Übung zu vervollkommnen. Nun wendet Schröder mir
zunächst ein, dass die Pferde ja nicht nur rechnen, sondern auch
reden sollen. Als wenn ich das nicht selbst gewusst und auf p. 178
erwähnt hätte! Aber dass Tiere reden können, das habe ich be-
reits früher anerkannt und in dieser Hinsicht konnten mich die
Pferde nichts Neues lehren. Die mathematische Veranlagung aber
bei Tieren hatte ıch bestritten, weil Mathematik mir, auf Grund
der Lektüre logistischer Schriften, echt logischer Natur zu sein
schien, was ich jetzt nicht mehr annehme. Ich bestreite nicht ım
geringsten, dass man die Mathematik weitgehend logisch vertiefen
kann — sind doch die Metageometrien derart entstanden —, aber
es kann meiner Meinung nach nicht dein geringsten Zweifel unter-
liegen, dass es auch einen Formen- und Zahlensinn gibt, die im-
stande sınd, schwierige Aufgaben einfach durch Anschauung zu
lösen. Nur so verstehen wir die Fälle abnormen mathematischen
Talents bei Kindern und Idioten und — eben auch bei den Pferden!
Denn dass die wirklich rechnen, das ist durch Schröder’s Be-
hauptungen nicht ım geringsten widerlegt.
Dies zur Einleitung. Wer mich widerlegen will, der muss vor
allem zeigen, dass die Mathematik empirischer, nicht apriorischer
Natur ist. Schröder macht es sich bequem. Er unterschiebt mir
als Gewährsmann Schopenhauer und da kommt er leicht zurecht.
Ich habe mich aber in dieser Hinsicht gar nicht auf Schopen-
hauer berufen, denn dieser verstand von Mathematik vielleicht
sogar noch weniger als ich. Ich berief mich (p. 172) auf Cou-
turat, Russel und Royce, also auf echte Mathematiker, und hätte
auch Hilbert, Voss, Dedekind, Cantor und viele andere
zitieren können, wenn ich das für nötig gehalten hätte. Es dürfte
schwer sein, diese Denker zu widerlegen, jedenfalls genügt mir
ihre Autorität gegenüber Schröder, dessen Einwände herzlich
schwach sind. So sagt er p. 598: „Schon die Tatsache, welche
bekannt genug ist, dass verhältnismäßig nur wenige Menschen in
das Verständnis dieser Wissenschaften (nämlich der höheren Ana-
lysıs und deren Anwendung auf die Geometrie) einzudringen ver-
Schneider, Die rechnenden Pferde. 155
mögen, hätte verhindern sollen, in der Mathematik ein apriorisches
Vermögen zu sehen.“ Ich folgere aus dieser Tatsache gerade das
Gegenteil von Schröder. Mathematik setzt eben ein angeborenes
Spezialtalent voraus, eines, von dem der Mathematiker Pasch ın
Gießen sagen konnte, es müsste der menschlichen Natur ım Grund
zuwider laufen (zitiert aus Pringsheim’s Artikel: Wert und. Un-
wert der Mathematik, in Zukunft Bd. 12, Nr. 34, p. 308). Im Reden
bringen wir es alle durch Übung weit, im Rechnen versagen offen-
kundig sehr viele rasch; wie kann man da folgern, es wäre Mathe-
matik aus dem Empirischen abzuleiten? — Übrigens kenne ich
Mach’s und anderer Autoren Gründe für eine empiristische Theorie
der Mathematik, finde durch sie aber die Argumente der oben
zitierten Denker nicht entwertet.
Schopenhauer habe ich nicht ın Hinsicht auf die Apriorität
der Mathematik zitiert, sondern in Hinsicht auf eine besondere an-
schauliche Evidenz ın dieser. Er redet von einer ratio essendi in
der Geometrie und Arıthmetik, die er mit Nachdruck von der ratio
cognoscendi im Logischen unterscheidet und aus der räumlichen
und zeitlichen Form des Bewusstseins — mit Kant — ableitet.
Die ratio essendi wird in der Geometrie selbst von Couturat an-
erkannt und in der Arıthmetik vertritt sie z. B. Voss, der da
sagt: Es handelt sich ın der Mathematik um die extensiven
Größen im Sinne von Kant, und der die Ariıthmetik direkt als
„Wissenschaft von der Zahl“ von der Logik unterscheidet (siehe:
Über das Wesen der Mathematik, 2. Aufl., 1913). Bei Natorp
(Die logischen Grundlagen der Naturwissenschaften) und bei Poin-
car& (Wissenschaft und Methode) findet sich entsprechendes.
Überall wird anerkannt, dass die Logik zwar für die Entwickelung
der Mathematik höchste Bedeutung hat, dass dieser aber auch
eigene Bestandteile zukommen, die sie von der Logik zu unter-
scheiden gestatten. Eben diese Besonderheiten sind es, an die wir
anknüpfen müssen, um das Pferdethema zu bewältigen. Das ist
aber ein Punkt, der mit der Aprioritätsfrage gar nichts zu tun hat.
Schröder muss meinen Artikel sehr flüchtig gelesen haben, dass
er mir betreffs Schopenhauer so Inn annes nachsagen konnte.
Über die Komplexität der Mathematik ea. ich hier ein
kurzes Wort einflechten. Wir haben an ihr vier Komponenten zu
unterscheiden. Die erste und sozusagen natürliche Komponente
ist die Anschaulichkeit der Mathematik. Insofern es sich in ihr
um extensive Größen, also um Formen (in der Geometrie) und um
Zahlen (in der Arithmetik) handelt, herrscht Anschaulichkeit in ihr,
über deren Grenzen sich nicht ohne weiteres bestimmtes aussagen
lässt. Wenn Schopenhauer meint, dass unsere unmittelbare An-
schauung der Zahlen nicht weiter als etwa bis Zehn reicht, so
scheint mir das ebenso unzulänglich, wie wenn Georg Müller,
156 Schneider, Die rechnenden Pferde.
Göttingen, in der Umschau (1912) meint, dass die hervorragenden
rechnerischen Leistungen eines Mathematikers aus dem bloßen
sinnlichen visuellen Gedächtnis nicht zu erklären sind. Anschauung
der Zahlen ist etwas ganz anderes als visuelles Gedächtnis und in
ihrem Gegebensein vermutlich größten Differenzen unterworfen.
Man untersuche die abnormen Fälle — aber nicht bei methodisch
vorgehenden Mathematikern — genauer und wird jedenfalls ganz
unerwartete Aufschlüsse über einen „Zahlensinn“ erhalten. — Die
zweite Komponente an der Mathematik ist die Logik. Diese hat
es ım Grunde gar nicht mit Zahlen und Formen zu tun, sondern
mit den Operationen des Bewusstseins dabei, für die sie grund-
legende Gesetze als Normen, die auf jeden Fall zu befolgen sind,
aufstellt. Sie ıst neben dem anschaulichen Teil der gesetzgeberische
in der Mathematik. -— Die dritte Komponente bedeutet die wissen-
schaftliche Erforschung des Gegenstandes, die einerseits als Me-
thodenlehre zu charakterisieren ist, anderseits die Gründe, aus denen
heraus Mathematik entstanden ist, untersucht. — Die vierte Kom-
ponente endlich wäre die Anwendung der Zahlen auf die Erfahrung,
worüber weiteres nicht ausgesagt zu werden braucht.
Selbstverständlich macht es zurzeit große Schwierigkeiten, die
einzelnen Komponenten scharf zu unterscheiden, was aber an ihrer
Existenz zu zweifeln nicht gestattet. Es ist ein wahres Glück, dass
wir die Elberfelder Pferde haben, die zur genaueren Untersuchung
des Gebietes drängen. Krall hat in dieser Hinsicht große indirekte
Verdienste, die sich allmählich mehr und mehr werden bemerkbar
machen.
Nun weiter zum Thema. Schröder benutzt die Erfahrungen
an Kindern, um Krall zu widerlegen. Das ist eine ganz unzuläng-
liche Beweisführung. Jede neue Erfahrung kann unser Wissen in
irgendeiner Hinsicht sprengen; weil Menschen fast durchweg nur
langsam ım Rechnen vordringen, kann doch bei Pferden ein be-
sonderer Zahlensinn gegeben sein, der sie spielend vorwärts führt.
Und Kinder sollen „denkend“ rechnen lernen! Das heisst gerade:
wenn sie einen angeborenen Zahlensinn haben, so dürfen sie ıhn
doch nicht anwenden, weil sie beim Rechnen zugleich Denken lernen
sollen. Man hindert sie an dem, was eigentlich das Natürlichste
ist, und schließt dann auf geringe Veranlagung! Ich habe gar nichts
gegen die heutige Lehrmethode einzuwenden, denn Denken ist mir
auch wichtiger als Rechnen. Ferner habe ıch gar nichts dagegen
gesagt, dass das Rechnen, so wie es in den Schulen betrieben wird,
ein vorzügliches Mittel der menschlichen Geistesbildung sei, wie
Schröder auf p. 601 anzudeuten sucht. Ich habe weiterhin nicht
im geringsten behauptet, dass das Rechnen die Mathematik er-
schöpfen soll, wie es auf p. 598 heisst. So schlecht ich ın Mathe-
matik unterrichtet bin, so weiß ich doch auch etwas von höherer
re
Schneider, Die rechnenden Pferde. 157
Analysis und habe den höchsten Respekt vor ihr. Aber wer be-
weist, dass Differentiationen und Integrationen nur mit Hilfe der
Logik möglich sind? Und sind etwa die Menschen so rasch zur
höheren Analysis gekommen? Von der Funktionenlehre, vom
Koordinatenbegriff, vom Infinitesimal und Integral hatten die Alten
noch keine Ahnung und waren doch zweifellos tüchtige Mathe-
matiker. Ich weiß eigentlich nicht, was mir Schröder mit seinen
diesbezüglichen Ausführungen am Zeuge flicken will. Was ihm
gerade einfällt und für seinen Begriff passt, daraus macht er eine
Waffe gegen mich, magihre Anwendung an sich auch ganz sinnlos sein.
Vor allem freut ihn, was ich über das eventuelle Zählen der
Bienen bei ıhren Arbeiten, über das Rechnen des Hundes beim
Sprunge sage, und er benutzt es, mich durch einen Witz abzu-
führen. Ich fühle mich dadurch nicht geschlagen, denn meiner
Überzeugung nach spielen sich in der Psyche eines Insekts und
eines Säugers mehr Prozesse ab als wir jetzt ahnen. Ohne dass
sie deshalb dächten! Schröder meint (p. 603): Die Aufnahme von
Einheiten im Rhythmus und das Zählen sind grundverschiedene
Dinge. Woher weiß er das? Ich möchte doch wissen, wie er einen
Rhythmus beim Mangel einer formativen (numerativen) Komponente
des Bewusstseins überhaupt feststellen könnte. Das Messen und
Zählen spielt beim kleinen Kind schon eine Rolle, wenn es erfasst,
dass die Umgebung ıhm nicht direkt am Auge klebt, sondern
distanziert ist; wenn es überhaupt eine Vielheit unterscheidet.
Logisch bleibt das ganz unbewusst und darum behaupten dann die
Schulmeister, dass Kindern das Rechnen so schwer falle, wenn sie
es denkend meistern sollen; aber ın der Anschaulichkeit kann vieles
bereits bewältigt sein, bevor der Verstand sich ihm zuwendet, es
entwertet und neue Grundlagen schafft. Warum stellte denn ein
Helmholtz die Lehre von den unbewussten Schlüssen zur Er-
klärung der Raumanschauung auf? Weil er zugeben musste, dass
unbewusst — ich wiederhole nochmals: denkend unbewusst! —
Hervorragendes geleistet wird bei Abschätzung einer Entfernung.
Darum ist die mathematische Befähigung eines Hundes nicht ohne
weiteres abzulehnen, von den Bienen ganz zu geschweigen. Es ist
billig, Witze darüber zu reißen; besser wäre ein wenig Vertiefung
in die Probleme.
Wie wenig überhaupt die Logik bei der Behandlung des Pferde-
problems strapaziert wird, das zeigt folgende Bemerkung Schrö-
der’s. Er betont, dass neuerdings viel Stimmen über den offen-
kundigen Rückgang der Pferde in Hinsicht auf ihre sogen. Leistungen
berichten, und findet darin einen Gegenbeweis gegen deren Können.
„Während der Unterricht ... den Menschen zu fortschreitender
Vertiefung und höherer Leistung auf geistigem Gebiete, immer mehr
innerem Zwange folgend, treibt, ist das Verhalten der Pferde nie
158 Schneider, Die rechnenden Pferde.
über die Mohrrübendressur hinausgegangen“ (p. 609—610). Aber
wie kann denn der Rückgang der Pferde etwas beweisen, wenn
man ihnen eigene Fähigkeiten bestreitet und behauptet, dass ihre
Leistungen nur das Können Krall’s spiegeln? Dann würde höch-
stens folgern, dass der Lehrer an Fähigkeit zurückgegangen ist, was
eben an den Tieren zum Ausdruck käme. Nicht sie versagen,
sondern der, der sich mit ıhnen abgibt. Mir ist gerade dieser
Rückgang Beweis, dass die Tiere selbständig gearbeitet haben.
Dass weder unbewusste noch bewusste Hilfen sie nötigten, noch
das Gedächtnis, das Schröder auch sehr betont, für ıhr Können
in Betracht kommt. Warum sollten denn Krall und andere Ex-
perimentatoren nicht mehr so gut rechnen wie früher? Warum
sollte das Gedächtnis beı jungen Tieren so rasch nachlassen? Der
eigentliche Grund liegt auf der Hand: das Können der Pferde war
ihnen, wenn auch möglich, doch nicht naturgemäß, und deshalb
wurde es allmählich wieder von den natürlichen Trieben übertönt,
nachdem es eine Zeitlang künstlich aufrecht erhalten worden war.
Mir ist der ganze Angriff Schröder’s gegen mich eigentlich
unbegreiflich. Er kann mir nicht den geringsten Widerspruch
nachweisen und steht ım wesentlichen ganz auf meinem Grund und
Boden, nämlich auf der Anschauung, dass die Befunde an den
Pferden für die Entwickelungslehre nichts beweisen. P. 608 sagt
er: Einem solchen Ansteigen (d. h. einer progressiven Evolution)
würden die Leistungen der Pferde, wenn sie auf ihrem eigenen
Denkvermögen beruhten, ganz bestimmt widersprechen.“ Da möchte
ich schier fragen: Wozu der Lärm? Um so mehr als ich im Grunde
ja nur darlege, wie man sich die Leistungen der Pferde zu er-
klären vermag, vorausgesetzt, dass sie wirklich gegeben sind! Wohl
wahr, ich nehme an, dass sıe wirklich gegeben sınd, da ich sie mir
eben zu erklären vermag. Aber selbst festgestellt habe ich doch
gar nichts und dass Krall nicht sich hätte ırren können, kann ich
auch nicht behaupten. Selbst wenn er sich geirrt hat, kann das
meine Theorie nicht berühren. Die Möglichkeit, dass höhere Tiere
rechnen können, würde ıch auch dann noch vertreten, denn an den
Grundlagen meiner Theorie kann ich nicht zweifeln, weil sie logisch
entwickelt sind. Ich habe es schon in meinem Artikel betont und
betone es nochmals, dass ohne grundlegende Hypothesen Wissen-
schaft überhaupt nicht möglich ist und halte eine Hypothese für
viel wichtiger als eine Tatsache; denn Tatsachen kann man immer
finden, Hypothesen liegen aber nicht auf der Straße herum. Und
hat etwa Schröder nicht eine grundlegende Hypothese, von der
er bei seinen Erörterungen ausgeht? Auch nach ihm, wie nach
mir, sollen die Pferde nıcht denken können — wenigstens spricht
das deutlich aus jeder Zeile seines Artikels, wenn er auch am
Schlusse sagt: seine Weltanschauung würde an „denkenden“ Tieren
Schneider, Die rechnenden Pferde. 159
keinen Schiffbruch leiden. So ist es denn nur die Beurteilung der
Mathematik, die uns eigentlich trennt. Aber auch da sind die Diffe-
renzen überbrückbar, ja sie sind vielleicht gar nicht vorhanden,
sondern beruhen nur auf Missverständnissen. Wenn Schröder
sich ein wenig mehr Mühe gibt, mich nicht misszuverstehen, so
werden wir uns ganz gut zusammenfinden.
Zum Schlusse möchte ich einen Wunsch aussprechen. Man
möge sich doch nicht solche Blößen geben als es die Art und Weise,
wie man über Krall’s Vorgehen redet, bedeutet. Ist es nicht
geradezu empörend, wie dieser doch auf jeden Fall verdienstvolle
Mann, dessen Glaubwürdigkeit alle, die ıhn kennen, betonen, von
seinen Gegnern behandelt wird? Sind seine Methoden nicht ein-
wandfrei, so prüfe man die eigenen, ob sie besser sind. Wie
Schröder vorgeht, das habe ıch oben charakterisiert; ich finde
nicht, dass seine logische Behandlung der Themen einwandfrei sei.
Er wirft unter anderem Krall vor, dass er mit seinen Untersuchungen
eine vorhandene Anschauung beweisen wollte und findet darin den
gänzlichen Mangel an wissenschaftlich prüfendem Zweifel beı ihm
(p. 595—596). Ja, ıst das nicht geradezu ein Nonsens, den er da
ausspricht? Sind nicht die wahrhaft großen bewundernswerten
Entdeckungen, z. B. eines Hertz, Paul Ehrlich, Arrhenius u.a.
allein durch vorweggegebene Hypothesen, die in Experimenten veri-
fiziert wurden, möglich geworden? Wie ich schon sagte: Hypo-
thesen sind wichtiger als Tatsachen, denn sie führen unbedingt zu
Tatsachen, während der umgekehrte Weg nur ein zufälliger ist.
Wieviel Kritik bei solchen Verifikationen aufgewendet wird, das
kann der Fernstehende oft nur sehr schwer ermessen.
Wie stand es bei Abfassung des berüchtigten Protestes gegen
Krall, den so viel Zoologen unterschrieben? Gingen die etwa
nicht von einer vorgefassten Meinung aus? Ich anerkenne zwar,
dass jeder Standpunkt ein Recht auf Selbstverteidigung hat, denn
in gewisser Hinsicht ist er sicher unangreifbar; aber es wirkt depri-
mierend, wenn nun ein Gegner gleichsam vogelfrei erklärt und über
ihn ein Gift ausgespritzt wird, das nur den also Vorgehenden
schändet. Der Protest war wahrhaftig kein Ruhmesblatt in der
Geschichte der modernen Zoologie.
Außerst kritiklos mutet es mich auch an, wenn man Krall immer
wieder den Vorwurf macht, dass er wissenschaftliche Kommissionen
zur Untersuchung seiner Pferde ablehne. Die heutigen physio-
logischen Untersuchungsmethoden des Seelischen können dessen
Feinheiten absolut nicht gerecht werden; es bedarf eines Kontakts
von Seele zu Seele, wenn so schwerwiegende Probleme geprüft
werden sollen. Gerade neuerdings arbeitet die Psychologie des
Denkens neue Methoden aus, über die Külpe zusammenfassend in
einem Artikel der internat. Monatsschr. f. Wissenschaft, Kunst und
160 Sedgwick und Wilson, Einführung in die allgemeine Biologie.
Technik: Über die moderne Psychologie des Denkens (1912), be-
richtet. Da lesen wir, wie wenig die alten Methoden sich bewährt
und wie viel überraschend Neues die moderne Behandlung bereits
zutage gefördert hat. Man hat das Denken als etwas Selbständiges
sozusagen überhaupt erst entdeckt. D. h. meiner Ansicht nach
handelt es sich nıcht um das Denken, sondern um eine besondere
gnostische Anschauungsweise, auf die ich in meinen tierpsycho-
logischen Praktikum ausführlich eingegangen bin. Jedenfalls um
ein psychisches Geschehen handelt es sich, das bis jetzt noch nicht
genauer gewürdigt wurde, gerade aber auch in Hinsicht auf höhere
Tiere ın Betracht kommen dürfte. Von ıhm ausgehend sollte man
sich der mathematischen Veranlagung zuwenden, da wäre vielleicht
eine neue Einbruchspforte zu gewinnen. Auch an Freud’s psycho-
analytische Methode und an Ach’s Methoden der Bestimmung
indeterminierter Handlungen möchte ich erinnern. All diese neuen
Methoden zeigen, wie heutzutage in der Psychologie alles in Fluss
ist, und da will man es Krall verübeln, dass er gegen die An-
wendung unzulänglicher alter Methoden, noch dazu durch Kom-
missionen, bei seinen Pferden sich ablehnend verhält. Recht hat
er, tausendmal recht! Und er hat den Trost, dass auch besonnene
Naturforscher ihm zustimmen. Jedenfalls wird er die Zukunft auf
seiner Seite haben.
Spitz a. Donau, 15. Dez. 1914.
W.T. Sedgwick und E. B. Wilson. Einführung in die
allgemeine Biologie.
Autorisierte Übersetzung von R. Thesing. 8. X und 302 S. Leipzig und Berlin
1913. B. G. Teubner.
Die Bücher über allgemeine Biologie sind in den letzten Jahren
sehr zahlreich geworden. Ein jedes derselben zeigt gewisse Be-
sonderheiten, durch die es sich vor ähnlichen auszeichnet. Aber
immer häufiger finden wir einen Gang der Darstellung, der meines
Wissens auf Huxley und Parker zurückzuführen ıst: Nach einer
grundlegenden Einleitung wird der eigentliche Lehrgang an einem
bestimmten Lebewesen eingehend erläutert, von welchem spe-
ziellen Teil aus das Gesamtbild Leben und Charakter erhält. Im
vorliegenden Werkchen ist es der Regenwurm für die Tiere, das
Farnkraut für die Pflanzen, welche als Paradigmata dienen. Ihnen
folgen dann Kapitel über die einzelligen Organısmen, Amoeben,
Infusorien, Protococeus, Hefen, die Organismen eines Heuaufgusses.
Zum Schluss werden Anleitungen für Arbeiten ım Laboratorium
und für Demonstrationen gegeben.
Die Übersetzung ist gewandt und liest sich gut. Sie wird
durch eine große Zahl guter Abbildungen bestens unterstützt. P.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Oentralblatt
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem &esamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13,
einsenden zu wollen.
Bd. XXXV. 20. April 1915. N 4.
Inhalt: De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme in Samen durch Druck.
— Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten von Sederov und
Kammerer. — Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. —
Brun, Das ÖOrientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund experimenteller For-
schungen bei den Ameisen. — Wasmann, Das Gesellschaftsleben der Ameisen. Das Zu-
sammenleben von Ameisen verschiedener Arten und von Ameisen und Termiten. Ge-
sammelte Beiträge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen.
Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme
in Samen durch Druck.
Von Hugo de Vries.
Wie die Samen der meisten anderen Pflanzen, keimen auch
diejenigen der verschiedenen Arten der Gattung Oenothera beim
Befeuchten mit Wasser nur teilweise sofort. Manche Körner bleiben
in der feuchten Erde Wochen oder Monate, nicht wenige sogar
jahrelang in Ruhe, bevor sie austreiben. Diese verspäteten Körner
werden als makrobiotische bezeichnet; man kann sie auch einfach
Trotzer nennen. Der Gehalt der einzelnen Ernten an ihnen schwankt
je nach Umständen; oft hat man Proben, welche innerhalb weniger
Tage nahezu vollständig keimen, oft aber auch erhält man auf
Tausende von Samen nur ganz einzelne Keimpflanzen.
Bei den mutierenden Arten liegt die Möglichkeit offenbar vor,
dass diese trotzenden Samen mehr Aussicht auf neue Typen bieten
als die schnell keimenden. Deshalb schien es mir wichtig, eine
Methode auszuarbeiten, welche es ermöglichen würde, sämtliche
oder doch nahezu sämtliche keimfähige Körner innerhalb der ge-
wöhnlichen Zeitfrist auch wirklich zum Keimen zu bringen. Nur
xXXXV. 11
162 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc.
in dieser Weise erhält man eine Aussicht, das Mutationsvermögen
einer gegebenen Art erschöpfend kennen zu lernen und neue Arten
in dieser Beziehung vollständig beurteilen zu können. Neben O. La-
marckiana und O. biennis zeigen bis jetzt etwa ein halbes Dutzend
von Arten aus derselben Gruppe Mutationserscheinungen, und die
Annahme scheint durchaus berechtigt, dass eine weit größere Zahl
sich in derselben Weise verhalten wird.
Die trotzenden Samen bleiben nach der Aussaat im Innern
trocken; das Wasser des Bodens dringt nicht in sie hinein: Sobald
solches aber der Fall ıst, fängt die Keimung an, vorausgesetzt, dass
der Keim noch lebensfähig ıst. Dieses dauert bei den von mir auf-
bewahrten Samen in der Regel mehrere Jahre; nach 5 Jahren darf
man noch auf eine ausreichende Keimung rechnen, dann aber nımmt
der Prozentsatz ziemlich schnell ab. Von der Ernte von 1907
keimen jetzt noch manche Proben ın ausreichender Weise, manche
andere aber sind bereits völlig abgestorben. Samen von 1905
keimen noch in einzelnen Fällen; ältere Samen lohnt es sich über-
haupt nicht mehr auszusäen. Beal erwähnt einen Versuch, in
welchem er Samen von einer amerikanischen Form von O. biennis
in angefeuchtetem Sande in einer Flasche in einer Tiefe von etwa
einem Meter im Boden eingegraben hat. Nach einem Aufenthalt
von 25 Jahren fand er noch keimfähige Samen').
Pammel und Miss King haben neuerlich das Verhalten dieser
trotzenden Samen bei Pflanzen aus verschiedenen Familien studiert,
und die wichtigsten Ergebnisse aus der früheren Literatur zusammen-
gestellt?). Seit 1901 untersuchen sie die Keimfähigkeit von Un-
kräutern aus dem Staate Iowa unter den verschiedensten Bedin-
gungen. Stratifizieren oder Aufbewahren in feuchtem Sande zeigte
sich im allgemeinen als günstig; namentlich wenn die Samen im
Winter dem Froste ausgesetzt wurden; manche Arten keimen ohne
eine solche Vorbereitung, d. h. bei trockenem Aufbewahren, nicht
oder fast gar nicht, aber nachher sehr kräftig. Die Zunahme der
Keimkraft, bezw. dıe erforderliche Dauer des Stratifizierens war bei
verschiedenen Arten sehr großen Schwankungen unterworfen, je
nach der Härte der äußeren Samenhaut.
In den Samen der Oenotheren bildet die äußere Samenhaut
aber nicht die Hartschicht. Das äußere Integument der Samen-
knospen besteht aus mehreren Zellenschichten, nimmt aber um die
Mikropyle herum an Dicke zu. Diese Zellen erhärten nicht, sondern
bilden ein lockeres, pseudoparenchymatisches Gewebe, welches beim
Reifen austrocknet und zusammenschrumpft. Bei Benetzung be-
1) Proc. Soc. Prom. Agric. Sci. T. 26, S. 89, 1905.
2) L. H. Pammel and Charlotte M. King, Delayed Germination,
Proceedings Iowa Academy of Science Vol. XV, Contributions Botanical Department
Iowa State College of Agriculture and Mechanie Arts, Nr. 45, S. 20.
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 163
feuchtet es sich sofort und in allen Körnern, ohne damit aber not-
wendigerweise ein Aufquellen des Keimes zu veranlassen. Denn
die Hartschicht wird hier von dem inneren Integumente gebildet,
welches nur aus zweı Zellschichten besteht, mit Ausnahme der
nächsten Umgebung der Mikropyle, welche etwas dicker wird. Beim
Reifen der Samen färbt sich dieses Integument etwas dunkler gelb
bis braun, namentlich in seiner innersten Schicht und bereits in
unreifen Samen bietet diese dem Eindringen von Fixierungsfiüssig-
keiten bedeutenden Widerstand’).
Die Dauer der Zeit, während welcher aufbewahrte Samen noch
am Leben bleiben können, ıst bekanntlich für verschiedene Arten
eine sehr verschiedene*). Namentlich unter den Leguminosen, dann
aber unter den Malvaceen und den Labiaten kommen langlebige
Arten vor. Ferner unter den Cruciferen und den Gräsern, u. S. w.
Ganz besonders scheint die Erscheinung unter den Unkräutern der
Kulturfelder verbreitet zu sein. Vielleicht hängt dieses damit zu-
sammen, dass das Trotzen die betreffenden Arten befähigt, die Jahre
zu überleben, in denen sie nicht zur Entwickelung oder doch nicht
zum Hervorbringen reifer Samen gelangen können. Am besten ist
die ganze Erscheinung wohl für die sogen. kleineren Kleearten (gelb-
blühende Arten von Trifolium, Arten von Medicago, Melilotus u. s.w.)
bekannt. Diese keimen oft im ersten Jahre nach der Aussaat gar
nicht und sind aus diesem Grunde vielfach als Kulturpflanzen un-
brauchbar. In der Praxis werden sie, namentlich in Schweden,
vor der Aussaat in größeren Maschinen angefeilt, und diese Behand-
lung bringt ihre Keimfähigkeit oft auf nahezu 100%, d. h. lässt
nahezu alle Körner sofort nach der Aussaat keimen.
Dass die Keime trotzender Samen in feuchter Erde trocken
bleiben, ergibt sich auch aus der bekannten Tatsache, dass manche
unter ihnen in diesem Zustande die Hitze des kochenden Wassers
ertragen können. In meinen Kulturen wird die Erde für die Saat-
schüsseln bei etwa 95° C. sterilisiert. Dadurch werden auch die
Unkrautsamen in der Regel getötet, aber Samen von Kleearten
überleben dieses Sterilisieren nicht gerade selten und keimen dann
zwischen den Oenotheren.
Außer durch Anfeilen kann die Hartschicht trotzender Samen
durch geeignete Behandlung mit verschiedenen chemischen Verbin-
dungen für Wasser permeabel gemacht werden, und namentlich
Schwefelsäure wird dazu vielfach benutzt. Ich habe entsprechende
Versuche mit den Samen der Oenotheren gemacht, aber die lockere
3) J. M. Geerts, Beiträge zur Kenntnis der Cytologie und der partiellen
Sterilität von Oenothera Lamurckiana, Amsterdam 1909, S. 31—33.
4) Vergl. namentlich A. J. Ewart, Proc. Roy. Soc. of Victoria T. 21, Prt. I,
S.1, 1898. Ewart beobachtete die Keimung von Samen von Malvaceen, Legumi-
nosen und anderen, welche 55—77 Jahre lang aufbewahrt worden waren.
LE
164 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc.
äußere Samenhaut erschwert das nachträgliche Auswaschen der
Säure, und bietet dieser somit die Zeit, um in den Keim einzu-
dringen und diesen zu töten.
Außer dieser und anderer gebräuchlicher Methoden habe ich
verschiedene Mittel versucht, um die Keimkraft der Samen von
Oenothera zu erhöhen, wie bedeutende Wechslungen in der Tempe-
ratur des umgebenden Wassers, Einwirkung von Temperaturen in
der Nähe der Lebensgrenze (40—50° C©. und höher), u. s. w., aber
ohne damit merkliche Erfolge zu erzielen.
Dann habe ich mich entschlossen, das Wasser unmittelbar ın
die Samen hineinzupressen, in der Hoffnung, damit den Keim zu
erreichen und diesen zum Aufquellen zu bringen. Ich ging dabeı
von der geläufigen Ansicht aus, dass die quellenden Samen das
Wasser durch feine Risse ın ihrer Hartschicht, für gewöhnlich also
in ihrer äußeren Samenhaut aufnehmen. Diese Risse befinden sich
teils in der Gegend der Mikropyle, teils zerstreut über den ganzen
Umfang des Kornes. In den Samen der Oenotheren sind sie ım
inneren Integumente anzunehmen, wie aus der oben gegebenen
Beschreibung hervorgeht. Diese Risse sollen durch die kutikulari-
sierten äußeren Schichten der Hartschicht bis in die angrenzen-
den weicheren Zellhäute oder Zellhautschichten führen. Sind sie
mit Wasser gefüllt, so ermöglichen sie dessen Eintritt in den Keim,
und durch das Aufquellen des Keimes werden dann bald einige
unter ihnen derart erweitert, dass die Aufnahme von Wasser all-
mählıch erleichtert und beschleunigt wird.
In den trockenen Samen, muss man aber annehmen, sind diese
äußerst feinen Rısschen mit Luft erfüllt. Wird nun die Hart-
schicht befeuchtet, so kann das Wasser in diese Risse nur dadurch
eindringen, dass es die Luft in ihnen auflöst. Man nımmt nun an,
dass dieses nur in den weitesten Risschen ausreichend schnell statt-
finden kann, um die Keimung innerhalb einiger Tage anfangen zu
lassen, dass aber ın den trotzenden Samen auch die größten Risse
so eng sind, dass das Wasser nur ganz allmählich vordringen kann,
und Wochen, Monate oder Jahre braucht, um die tieferen nicht
kutikularisierten Wände der Risse zu erreichen. Sobald diese aber
erreicht sind, kann auch dann das Aufquellen des Keimes anfangen.
Ich habe die Gültigkeit dieser Erklärung nicht durch eine mikro-
skopische Untersuchung geprüft, sondern einfach aus ihr das Prinzip
meiner Methode abgeleitet. Und da ich meinen Zweck erreicht
habe, glaube ich, dass dieser Erfolg wenigstens als ein Beweis für
die Brauchbarkeit der Vorstellung betrachtet werden darf.
Presst man Wasser künstlich ın die Risse der Hartschicht
hinein, so wird man die Luft in ihnen komprimieren und damit ein
Eindringen bis an die zarteren Teile der Risswände befördern.
Außerdem aber beschleunigt man das Auflösen der Luft in dem
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 465
Wasser und hierdurch muss, nach kürzerer oder längerer Frist,
eine völlige Ausfüllung der Risse mit Flüssigkeit erreicht werden.
Ob dieses letztere erforderlich ist, dürfte schwer zu entscheiden
sein, ist aber für die Praxis der Anwendung meiner Methode offen-
bar gleichgültig.
Es handelt sich im wesentlichen darum, wie stark der Druck
sein muss und wie lange er einwirken muss. Und da die ruhenden
Samen im Boden nach sehr verschiedenen Zeiten zu trotzen auf-
hören, darf man annehmen, dass die weitesten Risse — denn nur
auf diese kommt esan — ın den einzelnen Samen von sehr verschie-
dener Weite sind. Daraus ergibt sich dann die Erwartung, dass
auch unter künstlichem Druck die Samen nicht gleichzeitig, sondern
nach und nach im Innern befeuchtet werden und dass auch bei
langer Versuchsdauer und sehr hohem Drucke wohl noch einige der
härtesten Exemplare unberührt bleiben können. Nach meinen bis-
herigen Erfahrungen ist es leicht, 95%, und mehr der keimfähigen
Samen rasch zum Austreiben zu bringen und bisweilen erhält man
auch eine erschöpfende Auslösung der Keimkraft. Zumeist bleiben
aber wohl 1—2%, und bisweilen mehr Samen unbefeuchtet. In den
gewöhnlichen Versuchen wird man ohne merklichen Schaden auf deren
Mitwirkung verzichten können.
Jetzt komme ich zu der Beschreibung meines Apparates. Dieser
besteht aus einem gewöhnlichen Autoklaven und einer Luftpumpe,
wie solche für das Füllen von Automobilreifen benutzt werden.
Der Autoklav ist ein Dampfsterilisator, der bis zu 10 Atm. Druck
ertragen kann, für gewöhnlich aber nur bis zu 8 Atm. benutzt
wird. Das Füllen erfordert nur etwa 5 Minuten. Der lichte
Durchmesser des Behälters ist 20 cm, und es können in ihm über
100 Röhrchen mit Samenproben Platz finden.
Bevor die Samen in den Apparat gelangen, müssen sie soweit
wie möglich mit Wasser gesättigt werden und muss wenigstens die
lockere äußere Samenschale der Oenothera-Samen ganz aufgeweicht
sein, damit das Wasser überall die Hartschicht berühre. Dazu
werden die Samen in Glasröhrchen mit Wasser geschüttelt und
während einer Nacht bei 30° C. oder während etwa 24 Stunden
bei der Zimmertemperatur aufbewahrt. Im Autoklaven habe ich
sie bis jetzt zumeist 2—3 Tage lang unter einem Druck von
6—8 Atm. gelassen; sie keimen während dieser Zeit bei niedriger
Temperatur nicht oder lassen höchstens an ganz einzelnen Körnern
die weiße Wurzelspitze sichtbar werden. Die Keimkraft der ganzen
Probe erleidet durch die Behandlung gar keinen Nachteil.
Sollen die Samen in Keimschüsseln ausgesät werden, um später
für die Kultur im Garten zu dienen, so müssen sie locker auf die
Erde gestreut werden. Dazu ist es erforderlich, sie vorher ober-
flächlich abzutrocknen, was durch sanftes Pressen zwischen zwei
{66 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc.
Tüchern leicht erreicht wird. In dieser Weise habe ich die ganze
Aussaat für alle meine diesjährigen Kulturen behandelt.
Beabsichtigt man nur, die Anzahl der keimenden Körner in
einer gegebenen Probe zu bestimmen, so empfiehlt es sich, die
Samen nicht auf Erde auszustreuen. Auch das Auslegen auf feuchtes
Fließpapier ist zumeist ungenügend, um sämtliche Körner keimen
zu lassen. Am besten ist es, sie in einer kapillaren Wasserschicht
an einer Glaswand hangen zu lassen. Man kann dazu umgekehrte
Uhrgläser oder Schälchen benutzen; am bequemsten ist es aber, sie
ın einer geschlossenen Glasröhre mit sehr wenig Wasser an der
einen Längsseite der Wand zu verteilen und dann die Röhre hori-
zontal hinzulegen und so zu drehen, dass dıe Körner an der oberen
Seite haften. Hier fließt das überflüssige Wasser ab und die Samen
finden gerade so viel Luft und so viel Feuchtigkeit als zu ihrem
Wachstum erforderlich ist. Behufs des Auszählens der Keime
werden sie dann mittels einer spiralig gedrehten Nadel aus der
Röhre herausgeschoben und auf einer nassen Glasplatte ausgebreitet.
Das Ankeimen geschieht in denselben Röhrchen wie das Ein-
pressen des Wassers im Autoklaven, nur werden die Röhren nach
dem Abgießen und nötigenfalls nach dem Erneuern des Wassers
mit einem Korke geschlossen. Ich benutze Röhrchen von 10 cm
Länge und 1,5 cm Weite. Gewöhnlich sind nach 2 Tagen schon
zahlreiche Würzelchen sichtbar geworden, wenn die Röhrchen im
Keimschrank bei etwa 30° C. aufbewahrt werden. Nach 2—4 Tagen
nimmt die Keimung rasch ab, und bewahrt man die Proben während
längerer Zeit auf, indem man von Zeit zu Zeit die Luft in den
Röhrchen erneuert, so dauert es bisweilen mehrere Wochen, bis
die letzten Samen zu keimen anfangen.
Den Einfluss des Hineinpressens von Wasser kann man in ver-
schiedener Weise prüfen. Entweder indem man von einer Probe
die eine Hälfte der Operation unterwirft, die andere aber nicht,
oder so, dass man in der ganzen Probe zuerst die raschkeimenden
Samen wachsen lässt. Sobald man dann sieht, dass dieser Prozess
aufhört oder doch sich ganz erheblich verzögert, presst man das
Wasser in die noch ruhenden Samen im Autoklaven ein und bringt
darauf die Röhrchen in den Keimschrank zurück. Fast stets erfolgt
dann eine rasche Keimung, welche dann nur damit erlischt, dass
die lebensfähigen Keime alle oder bis auf einige wenige Prozente,
ihre Würzelchen sichtbar werden lassen. Nach Ablauf von weiteren
2—4 Tagen öffnet man die noch übrig gebliebenen Körner mit
einer harten Stahlnadel mit umgebogener Spitze, um die Zahl der
etwa noch ruhenden Keime und jene der im Samen gestorbenen
Exemplare zu ermitteln.
Ich führe jetzt eine Reihe von Beispielen an, um die Einzel-
heiten des Prozesses näher beschreiben zu können, und beschränke
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 467
mich dabei aus leicht ersichtlichen Gründen auf die bereits mehr-
fach erwähnten Samen der Oenotheren. Für jede einzelne Probe
dienten fast stets 200 aus einer einzelnen Frucht herausgenommene
und abgezählte Samen. Es entspricht diese Zahl nahezu dem ge-
wöhnlichen Gehalte einer Frucht an Samen.
Oenothera biennis und andere Arten. Die Samen von Oeno-
thera biennis L., der ın den holländischen Dünen und sonst in
Europa weitverbreiteten Art, keimen in der Regel rasch und leicht,
indem bei 30° C. unter guten Bedingungen in den ersten 5 Tagen
etwa 80—90 %, und mehr Würzelchen hervorgetrieben werden. In
solchen Fällen lohnt es sich kaum, Wasser in sie hinein zu pumpen.
Hat man aber die Samen auf spät verpflanzten, ungenügend ge-
düngten oder aus sonstigen Gründen schwach gebliebenen Exem-
plaren gesammelt, so ist die Keimkraft oft eine viel geringere. Ich
wähle als Beispiel ein Exemplar von O. biennis sulfurea, welches
im Sommer 1914 in meinem Garten wuchs und seine Blüten in
Pergaminbeuteln geöffnet hatte, somit rein mit sich selbst befruchtet
worden war’).
200 Samen wurden im Keimapparat ausgelegt; es keimten bei
30°C. in 2 Tagen nur 4, darauf in den beiden nächstfolgenden
Tagen noch 78 Körner. Zusammen also ın 4 Tagen 41%. Eine
Kontrollprobe wurde zuerst während 2 Tagen m Wasser einem
Drucke von 6 Atm. bei niedriger Temperatur ausgesetzt und kam
erst dann in den Keimapparat bei 30°C. Hier keimten innerhalb
3 Tage 80% der Samen, d.h. fast alle lebensfähigen Körner.
Durch die Anwendung künstlichen Druckes war somit die Pro-
duktion von Keimpflanzen in diesem Falle etwa verdoppelt worden.
In derselben Weise untersuchte ich Oenothera syrticola Bart-
lett‘), d. h. die schmalblättrige Art unserer Dünen, welche bis
dahin O. muricata L. genannt wurde und deren doppeltreziproke
Bastarde mit O. biennis früher von mir beschrieben worden sind”).
Von einem selbstbefruchteten Exemplare meiner Rasse entnahm ich
einer Frucht 200 Samen. Es keimten innerhalb von 5 Tagen 30%.
. Eine zweite Probe setzte ich zuerst während zweier Tage einem Drucke
von 6 Atm. aus und brachte sie dann unter denselben Bedingungen
wie die erste zur Keimung. Es brauchte jetzt 3 Tage um 80 9,
5) Über das Entstehen dieser Varietät durch Mutation aus der leuchtend gelb-
blühenden Art, vergl. Th. J.Stomps, Parallele Mutationen bei Oenothera biennis L.
Ber. d. d. botan. Gesellsch. 1914, Bd. 32, S. 179—188, und meinen Aufsatz: The
Coefficient of Mutation in Oenothera biennis L., in Botanical Gazette, Bd. XVIII,
Chicago 1915.
6) H. H. Bartlett, Twelve elementary species of Onagra, in Cybele Colum-
biana, Vol. I, Nr. I, S. 37, 1914.
7) Uber doppeltreziproke Bastarde von Oenothera biennis L. und O. muri-
cata L. Biol. Centralbl. Bd. 31, S. 97—104, 1911, und „Gruppenweise Artbildung‘“,
Berlin 1913, S. 39—41,
168 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc.
der Würzelchen hervorbrechen zu sehen. Die Keimkraft war somit
durch die Anwendung des Druckes etwas mehr als verdoppelt und
nahezu erschöpft worden.
Noch bedeutender werden die Differenzen, wenn man Arten
mit schwacher Keimkraft wählt. Eine solche Form erhielt ich von
Herrn T. D. A. COockerell ın Boulder in Colorado; ich habe sie
unter dem Namen O. Cockerelli in meiner „Gruppenweisen Art-
bildung“ beschrieben und abgebildet®). Selbstbefruchtete Samen
aus den Kulturen meines Gartens keimen gewöhnlich nur spärlich,
oder erwarten einen sonnigen Tag, bevor sie zu wachsen anfangen.
Aus einer Frucht erhielt ich im Keimapparat bei 30°C. aus 200 Samen
innerhalb von 5 Tagen nur 3 Keime. Darauf wurde eine Kontrollprobe
während zweier Tage in Wasser einem Drucke von 6 Atm. ausgesetzt
und darauf bei 30°C. ausgelegt. Es keimten nun in 3 Tagen 72%,.
Fast alle sonstigen Trotzer waren somit durch die angegebene Be-
handlung zum Keimen gebracht worden.
Einen vierten Versuch habe ich mit O0. suaveolens Desf. ge-
macht. Auf diese Art komme ich weiter unten zurück. Ich benutzte
eine schmalblättrige Varietät aus Coimbra in Portugal. Es keimten,
unter 200 reinen Samen, ohne Druck ın 5 Tagen nur 5,5 nach
Anwendung von Druck unter denselben ausm wie in den
vorigen Versuchen, innerhalb dreier Tage 14.
Ich fasse jetzt die mitgeteilten Zahlen übersichtlich zusammen.
Einwirkung eines Druckes von 6 Atm. während zweier Tage, auf
die Keimkraft.
IPORELE _ Kontroll-
Keimlinge
| versuche
Oenothera nach 3 Tagen
| in % ohne Druck
IRRE 29 (5 Tage)
a un m ll Bene nissen ST = —
O. biennis sulfurea . . | 80 41
O. syrticola (0. muricata L) | s0 18
ON CockerEND N | 72 2
OÖ. sumeodieens . .» 2. | 14 5
|
Die Beschleunigung der Keimung durch vorheriges Hinein-
pressen von Wasser in die Samen ist in allen diesen Versuchen
eine auffallende. Zahlreiche weitere Versuche, namentlich mit ge-
kreuzten Samen oder mit den Samen von Bastarden, haben diesen
Satz seitdem bestätigt.
Oenothera sp. aus Minnesota. In der Umgegend des Ortes
North Town Junction bei Minneapolis in Minnesota habe ich
im September 1904 an verschiedenen Stellen eine bis jetzt unbe-
schriebene, aber von ihren Verwandten deutlich getrennte Art ge-
8) Gruppenweise Artbildung. S. 53—54 und 114—115.
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 169
sammelt°). Ausihren Samen habe ich eine Rasse abgeleitet und deren
im Jahre 1914 in meinem Garten gereifte Samen geprüft. Ich ent-
nahm von vier Pflanzen je eine selbstbefruchtete Frucht, zählte aus
jeder 200 Samen aus und legte diese zum Keimen bei 30°C. aus.
Die Keimlinge wurden nach 2 und nach 4 Tagen gezählt und ent-
fernt. Die übrigen Samen wurden darauf bei Zimmertemperatur wäh-
rend dreier Tage einem Drucke von 8 Atm. ausgesetzt und wiederum
zum Keimen ausgelegt. Nach 2 Tagen wurden die neuen Keim-
linge abgezählt und die ungekeimten Körner mit einer Nadel ge-
öffnet, um zu erfahren, wie viele unter ihnen etwa leer waren.
Auf demselben Beete hatte ich einige Blüten auf zwei Indi-
viduen kastriert und mit dem Pollen meiner O. Lamarckiana belegt.
Ihre Samen wurden in derselben Weise untersucht. Ich erhielt die
folgenden Zahlen.
Samen einer Oenothera aus Minnesota.
Einfluss künstlichen Druckes auf die Keimkraft (in 9%).
I] =
Vor Anwen- Sn an | Keim-
dung des er ns | Summe haltige
Druckes D n Samen
ruckes
m
Nach Tagen: | 2 4 2
Pflanze A (Selbstbefr.) 60315 3 80,5 92
tler BE 5 85 e125 42 | 68 87
ie - On zen 29,5 46,5 84,5
a, ” 1 2 40 43 92
” E (gekreuzt mit 0. Lam.) 0 0) 209 I 38
» F ( ER ” „ 2) ) (0) I: 37,5 38.5 | 95
In den Samen dieser sechs Pflanzen war die Keimkraft eine
sehr verschiedene. Nur eine (A) keimte leicht und schnell, auf sie
hatte die Anwendung des Druckes, wie zu erwarten, keinen wesent-
lichen Einfluss. In den beiden folgenden (Bund) war die Keim-
kraft gering: 17—26°%, und die nachträgliche Behandlung hat die
Anzahl der Keime auf 46,5— 68%, gebracht, also mehr als verdoppelt.
Die selbstbefruchteten Samen von D und die gekreuzten Samen
keimten innerhalb der gewöhnlichen Keimesfrist nicht oder nahezu
nicht, aber nach Anwendung des Druckes zu etwa 25—40%,. Hier
würde das Sfudium der Nachkommen gänzlich misslungen oder
doch in sehr unangenehmer Weise beschränkt worden sein, wenn
die Samen nur in der gewöhnlichen Weise ausgesät worden wären.
Auch habe ich für meine diesjährige Kultur die Samen dieser
Pflanzen nur nach Anwendung des Druckes ausgesät.
9) Siehe die Abbildung in: Gruppenweise Artbildung, Berlin 1913, S. 35,
Fig. 10.
470 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc.
Oenothera Lamarckiana. Auf drei zweijährigen Pflanzen wurde
am Hauptstengel jeden dritten Tag eine Blüte in einem kleinen
Beutel mit dem eigenen Pollen rein befruchtet; die Früchte wurden
mit Marken bezeichnet und später einzeln geerntet. Nach der Ernte
wurden aus jeder Frucht womöglich 200 Samen abgezählt und zum
Keimen ausgelegt. Die gekeimten Samen wurden nach 2 und nach
4 Tagen gezählt. Dann wurden die übrigen in Wasser unter Druck
gebracht und zwar für die Pflanze A während 24 Stunden bei
6 Atm., für B während 48 Stunden bei demselben Druck und für
Ü 3 Tage lang bei 8 Atm. Darauf wurde wiederum die Anzahl
der Keimlinge nach 2 und nach 4 Tagen ermittelt. Schließlich
wurden die nicht gekeimten Samen mit einer Nadel geöffnet und
die noch vorhandenen, teils noch lebenden aber ruhenden, teils
toten und zu einem Zellenbrei gewordenen Keime zusammen gezählt.
Nachdem die Zählungen für die 54 Einzelproben abgelaufen
waren, wurden für jede Pflanze die Summen und die Mittelzahlen
berechnet. Die drei Versuche hatten den Zweck, zu ermitteln, ob
der Prozentsatz der normalen Keime an den Rispen auf verschie-
dener Höhe, und somit zu verschiedener Jahreszeit und beı ver-
schiedenem Wetter merkliche Differenzen aufweisen würde.
Die ersten Blüten öffneten sich am 23. und 26. Juni und am
2. Juli; die Versuche dauerten bis etwa Mitte August, an jeder
Rispe haben während dieser Zeit etwa 100 Blüten geblüht. Das
Wetter war bis zum 23. Juli warm und hell und die Anzahl der
geöffneten Blüten pro Tag eine verhältnismäßig große; später aber
war der Himmel meist bewölkt und ging das Aufblühen langsamer
vor sich. Die Keimungsprozente für die dreitägigen Perioden zeigten
aber zu diesem Wechsel keine Beziehungen; sie schwankten um die
Mittelzahlen der ganzen Rispe in unregelmäßiger Weise. Ich habe
die Resultate in Kurven umgerechnet und diese verglichen mit den
Kurven für Temperatur und Sonnenschein, welche im Versuchs-
garten neben den Pflanzen ermittelt worden waren, konnte aber
keinen Parallelismus nachweisen.
Da somit die Keimungsprozente auf der ganzen Rispenlänge die-
selben waren, verzichte ich auf die Mitteilung der Einzelzahlen und
gebe nur die aus den Summen berechneten Prozentzahlen für die
drei Rispen. Sie sind ın der nebenstehenden Tabelle zusammengestellt.
Aus dieser Tabelle ergibt sich, dass die drei untersuchten
Pflanzen sich im wesentlichen gleich verhielten. Die Keimungs-
geschwindigkeit war unter den günstigen Bedingungen des Ver-
suchs in den ersten Tagen eine bedeutende (4,5—15%), fiel dann
aber rasch auf 1,5—4,5%, herab. Zahlreiche Kontrollversuche haben
gelehrt, dass diese Abnahme unter sich gleich bleibenden Bedin-
gungen längere Zeit anzuhalten pflegt bis schließlich in mehreren
Wochen nur noch ganz einzelne Samen nachkeimen.
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 171
Oenothera Lamarckiana.
Keimungsprozente vor und nach Einwirkung erhöhten Druckes.
Anzahl der Gekeimt nach Tagen Prihende
Pflanze Reina Summe
Früchte | Samen 2 4 Atm. 6 8
A 20 3800 4,5 1,5 D. 6 18 4,5 6 34,5
B 16 3200 8 4,5 D. 6 17 25 5,5 37,5
C 18 3400 15 3 DES 22 1 5 46
Nach den vier ersten Tagen wurden die Samen ın Wasser dem
oben angegebenen Drucke von 6—8 Atm. ausgesetzt und darauf
wiederum im Keimschrank zum Keimen bei 30° C. ausgelegt. In
den beiden ersten Tagen keimten dann 17—22°%,, also viel mehr
als vor der Einwirkung des Druckes. Darauf fiel der Prozentsatz
ab, aber die Ursache davon lag in der Erschöpfung der Proben an
keimfähigen Samen, denn als nach 4 Tagen die nicht gekeimten
Samen geöffnet wurden, enthielten nur noch 5--6%, einen Keim,
während die übrigen taub waren. Unter jenen Keimen war etwa
die Hälfte offenbar noch lebendig, die andere Hälfte aber gestorben
und einer Fäulnis anheimgefallen, welche sie in ihre einzelnen Zellen
auflöste.
Wir sehen somit, dass ohne Druck etwa 6—18%, Samen keimen,
dass mit Anwendung künstlichen Druckes diese Zahl um 19—23 %,
erhöht und dadurch auf etwa 50—40%, gebracht wird. Und ferner,
dass nach dieser Behandlung nur noch ganz wenige Samen (etwa 3 %,)
fortfahren zu trotzen.
Die Pflanze C enthielt ın ıhren Samen etwa 46% Keime; A und
B aber nur 34,5 und 37,5%. Die Ursache dieses Unterschiedes
liegt in der Kultur, da die beiden letzteren auf ungedüngtem oder
fast ungedüngtem Boden wuchsen, während C auf einem sehr stark
gedüngten Beete gepflanzt worden war. Ähnliche Unterschiede
habe ich sehr oft beobachtet.
Die Samen von Oenothera Lamarckiana enthalten immer etwa
zur Hälfte gute Keime, während diejenigen der anderen Hälfte leer
sind. Diese Erscheinung ist in jüngster Zeit von O. Renner ein-
gehend studiert worden!”). Er fand, dass die tauben Samen in
gewöhnlicher Weise befruchtet werden und dass ihr Keim die ersten
Teilungen durchläuft, dann aber zu wachsen aufhört und schließ-
lich abstirbt. Die Samenschale entwickelt sich aber in annähernd
normaler Weise, erreicht etwa dieselbe Größe und anscheinend
denselben Bau wie diejenige der keimhaltigen Samen. Sie bleibt
10) O. Renner, Befruchtung und FEmbryobildung bei Ornothera Lamarckiana
und einigen verwandten Arten. Flora Bd. VII, Heft 2, 1914, 8. 115—150.
72 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete.
aber, soweit meine Erfahrungen reichen, auch im reifen Zustand
für Wasser viel leichter permeabel. Harte Samen enthalten wohl
fast stets gute Keime.
Bei günstiger Kultur fand ich im Sommer 1914 den Gehalt an
keimhaltigen Samen meist etwa 43—46 %, als Durchschnittszahlen
aus zahlreichen Versuchen, welche je meist 400 Samen umfassten.
Bei weniger günstigen Bedingungen fiel dieser Gehalt auf 32—39%
(etwa 20 Versuche mit je 400 Samen) und im Sommer 1913 war
er noch bedeutend niedriger gewesen. Dass dabei die Anzahl
der Renner’schen Keime zunimmt, scheint mir nicht wahrschein-
lich, da dıe Erscheinung genau mit demjenigen übereinstimmt, was
man auch bei Arten ohne solche beobachtet!!. Doch habe ich
diese Frage nicht untersucht.
Oenothera suaveolens Desf. ist eine Art, welche mit O. La-
marckiana ın dem Besitze tauber Samen übereinstimmt. Sie wächst
in Frankreich und in Portugal an zahlreichen Stellen im Freien
und wurde früher als Synonym von O. grandiflora Ait. betrachtet.
Als ich aber Samen der ersteren Art im Forste von Fontainebleau
und von letzterer unweit Castleberry in Alabama gesammelt hatte
und daraus die Pflanzen nebeneinander ın meinem Versuchsgarten
blühen ließ, ergab sich, dass diese beiden Arten durchaus verschieden
sind. Die Samen der Form von Fontainebleau, im Herbste 1914
in meinem Versuchsgarten nach künstlicher Selbstbefruchtung ge-
sammelt, enthielten nur 18—29%, guter Keime. Ich untersuchte
vier Pflanzen, von jeder zwei Früchte und aus jeder Frucht 200 Samen.
Aus Portugal schickte mir Herr A. Cortezao, jetzt Direktor
des landwirtschaftlichen Versuchswesens auf den westafrikanischen
Inseln San Tom& und Prinzipe, Samen einer Unterart von O. sua-
veolens, welche von ihm unweit Coimbra gesammelt worden waren.
Ich erzog die Pflanzen daraus im Sommer 1914 und fand, dass die
Blätter wesentlich schmäler waren als in der französischen Art,
dass sie sonst aber mit dieser in den Hauptzügen übereinstimmten.
Die nach reiner Befruchtung geernteten Samen benutzte ich zu dem
folgenden Versuche. Es wurden aus zwei Früchten je 200 Samen
abgezählt und zum Keimen ausgelegt. Es keimten bei 30° C. nach
2 Tagen 14,5%, und in den beiden nächstfolgenden Tagen nur noch
4%. Darauf wurden die übrigen während dreier Tage in Wasser
einem Drucke von 8 Atm. ausgesetzt und nachher 6 Tage lang im
Keimapparat sich selber überlassen. Es keimten jetzt noch 10,5 %.
Von den übrigen enthielten 4,5%, teils lebensfähige, teils faulende
Keime, während alle übrigen leer waren. Zusammen also 33,5%
keimhaltiger und 66,5%, tauber Samen.
11) Vergl. hierüber den weiter unten beschriebenen Versuch mit einer neuen
Mutante aus Oenothera Lamarckiana.
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 173
L
Durch das Einpressen des Wassers wurden hier somit etwa ein
Drittel der vorhandenen Keime, welche sonst wohl ruhend geblieben
wären, zum Austreiben veranlasst.
Sollte die erbliche Eigenschaft, welche das Taubwerden von
mehr als der Hälfte der Samen bedingt, in O0. Lamarckiana und
O. suaveolens dieselbe sein, so würde man erwarten, dass ıhre
Bastarde denselben Gehalt an leeren Samen aufweisen würden. Dem
ist aber nicht so; im Gegenteil sind die gekreuzten Samen eben so
vollständig keimfähig wie diejenigen von (0. biennis und den übrigen
oben mit dieser angeführten Arten. Es geht dieses aus den beiden
folgenden Versuchen hervor.
Im Sommer 1914 befruchtete ich O0. Lamarckiana aus meiner
Kultur mit dem Blütenstaub einer der aus Fontainebleau her-
stammenden Pflanzen und zählte nach der Ernte aus einer Frucht
200 Samen ab. Es keimten in den 3 ersten Tagen 126, in den
beiden folgenden noch 54, aber in weiteren 2 Tagen nur noch ein
einziger Same. Zusammen also 181. Die übrigen 19 wurden nun
ın Wasser während 3 Tage bei 8 Atm. Druck aufbewahrt. Nach
dieser Behandlung keimten in 2 Tagen 7, in den beiden folgenden
Tagen aber keine Samen, während die Untersuchung mit der Nadel
noch 7 teils lebendige, teils faulende Keime und 5 Samen ohne
sichtbaren Keim ergab. Im ganzen somit 195 oder 97,5%, keim-
haltiger Samen.
In demselben Jahre machte ıch die reziproke Kreuzung: O. sua-
veolens von Fontainebleau mit ©. Lamarckiana aus meiner Rasse.
Auf 200 Samen aus einer einzelnen Frucht erhielt ich nach 3 Tagen
59, in den folgenden beiden Tagen 41, und in den beiden darauf-
folgenden 18 Keimlinge. Zusammen also 118. Nach dreitägiger
Einwirkung eines Druckes von 8 Atm. keimten nun in zwei weiteren
Tagen noch 37 und in den beiden folgenden nur noch ein einziger
Same, während die Nadelprobe noch 23 Keime aufwies. Zusammen
also 179 Keime auf 200 Samen oder 89,5%.
In beiden Versuchen war, trotz einer großen normalen Keim-
kraft, der Gehalt an keimenden Samen durch Anwendung des
Druckes wesentlich erhöht worden (um 3,5 und 19%), und damit
jener an trotzenden Keimen auf einen geringen Rest zurückgebracht.
Die mikroskopische Untersuchung der heranreifenden Samen
von O. suaveolens verspricht, in Verbindung mit den oben erwähnten
Befunden an O. Lamarckiana und den beiden Kreuzungen, wichtige
Ergebnisse, doch habe ich eine solche noch nicht angefangen.
Oenothera Lamarckiana mut. rubricalye Gates. Die meisten
Mutanten von O. Lumarckiana verhalten sich in bezug auf die Keim-
fähigkeit wie die Mutterart. Es lohnt sich deshalb nicht, hier mehr
als ein Beispiel anzuführen. Ich wähle dazu die schöne von Gates
gewonnene OÖ. rubricalye. Sie entstand in seinen Versuchen aus
474 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete.
O. rubrinervis, von der sie sich namentlich durch die dunkelroten
Blütenkelche unterscheidet!?). Sie stellt nach Gates eine pro-
gressive Mutation dar. Ich erhielt einige Samen von Herrn Gates
ım Winter 1913/14 und erzog daraus etwa 25 Pflanzen, welche sämt-
lich geblüht haben. Aus einer selbstbefruchteten Frucht zählte ich
200 Samen aus und überließ diese in der üblichen Weise der
Keimung.
Die Einrichtung des Versuches war genau dieselbe wie im
letztbeschriebenen Fall; ich erhielt die folgenden prozentischen
Zahlen auf 200 Samen.
Oenothera rubricalyx Gates.
Einfluss künstlichen Druckes auf die Keimkraft.
Vor An- Nach An- er:
wendung des | wendung des Summe "Sa altıge
Druckes Druckes amen
Nach Tagen: 2 | 4 o |
Keimlinge 2124. .r0% 21 il 18,5 40,5 | 47
Wie man sieht, war der Erfolg ebenso deutlich als sonst.
Oenothera Lamarckiana mut. nov. Die Eigenschaft von O. La-
marchkiana, etwa zur Hälfte taube Samen hervorzubringen, geht bei
den Mutationen nicht immer unverändert auf die neuen Formen
über. Namentlich fehlt sie bei O. gigas. Ebenso verhalten sich
einige meiner neuen, noch nicht beschriebenen Mutanten. Mit
einer von diesen, welche ich vorläufig als B bezeichnen will, habe ich
einen Versuch über den Einfluss der Kultur auf die Keimkraft der
Samen gemacht. Die Form ist verwandt mit O. rubrinervis, aber
nicht so spröde wie diese, blasser ın der Farbe und mit lockeren
Blütenrispen, und soll später veröffentlicht werden.
Ich gebe zunächst die erhaltenen Zahlen:
Vor An- Nach An- Keimhati
wendung des | wendung des Summe S Ren
Druckes Druckes er
Nach Tagen: 2 4
A. Normale Kultur 54 10,5 24 88,5 99
B. 5 ” 15,5 | 19 45 79,5 99
OÖ. Schwache Pflanze 45 6 25 53,5 SH
D. 5 > 52 1 0 53 72,5
12) R. R. Gates, The new Phytologist, Vol. 12, Nr. 8, S. 291, 1913.
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc, 175
Von jeder Pflanze wurden 200 Samen aus je einer Frucht bei
30°C. zum Keimen ausgelegt, und die Keimlinge nach 2 und nach
4 Tagen ausgezählt. Darauf wurden die übrigen Samen bei Zimmer-
temperatur (etwa 15°C.) während dreier Tage in Wasser einem Drucke
von 8 Atm. ausgesetzt und dann wieder in den Keimapparat zurück-
gebracht. Als nach weiteren 5 Tagen die Anzahl der neuen Keim-
linge ermittelt worden war, wurden die übrigen Samen mit einer
Nadel geöffnet, um zu sehen, wie viele unter ihnen deutliche Keime
enthielten.
Die Pflanzen A und B standen in ausreichenden Entfernungen
auf einem gut gedüngten Boden und wurden gut begossen. Die
Exemplare C und D standen dicht zusammen auf schlechtem Boden
und konnten sich nur kümmerlich bewurzeln. Die ersteren wurden
sehr stark und grün, hatten reich ausgestattete Blütenrispen und
erreichten eine Höhe von 1 m. Die letzteren blieben schwach und
dünnstengelig, konnten jede nur etwa 4—6 Blüten zur Ausbildung
bringen und erreichten nur 60 cm Höhe. Namentlich aber wies in
ihnen eine auffallend rote Färbung des Laubes und der Kelche auf
eine kümmerliche Bewurzelung hin.
Der Einfluss dieses Unterschiedes auf die Keimkraft der Samen
ist auffallend. Die kräftigen Pflanzen hatten fast gar keine tauben
Samen, die schwachen etwa 25%. Die ersteren keimten zu 80—88 '/,,
die letzteren nur zu 53%. Die Ausbildung tauber Samen war also
in diesem Falle eine Folge der künstlich stark herabgesetzten Lebens-
bedingungen. Ich habe in jeder der beiden Gruppen noch zwei
weitere Exemplare untersucht, mit fast genau demselben Erfolg
(75 und 75%, gegen 97 und 96,5%, keimhaltiger Samen). Man darf
hieraus und aus zahlreichen analogen Versuchen folgern, dass durch
mangelhafte Ernährung oder Wasserversorgung u. s. w. ein nicht
unerheblicher Teil der Samen ohne guten Keim bleiben kann und
dass solches auch für andere Arten von Oenothera Geltung hat.
Bei der normalen Kultur war der Einfluss eines künstlichen
Druckes auf die Keimkraft auffallend, bei den schwachen Pflanzen
aber unmerklich.
Zusammenfassei:d sehen wir, dass Samenproben von Oenothera,
welche unter gewöhnlichen Bedingungen eine ungenügende Anzahl
von Keimlingen hervorbringen, durch sofortige oder nachträgliche
Einwirkung eines Druckes von 6-8 Atm. 2—3 Tage lang, zur
vollen oder nahezu vollen Keimung gebracht werden können.
Es liegt auf der Hand anzunehmen, dass durch diesen Druck
das Wasser in sehr feine lufthaltige Risse der Hartschicht hinein-
gepresst und dass dadurch ein beschleunigtes Aufquellen des Keimes
ermöglicht wird.
17 Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten etc.
Die Ermittlung des Gehaltes an leeren Samen, gleichgültig, ob
dieser durch erbliche Ursachen oder durch ungünstige Lebens-
bedingungen veranlasst wurde, wird offenbar durch die Anwendung
der Methode des künstlichen Druckes wesentlich erleichtert.
Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten
von Secerov und Kammerer.
Von F. Werner (Wien).
In Band XXXIV Nr. 5 des „Biolog. Uentralblattes“ (20. Mai
1914) bringt Herr Dr. Slavko Seterov Mitteilungen über das
Farbkleid von Feuersalamandern, deren Larven auf gelbem oder
schwarzem Untergrunde gezogen waren. Diese Ergebnisse fordern
in mancher Beziehung zu einer Kritik heraus, da sie mir nichts
weniger als beweiskräftig erscheinen. Ich will dabei ganz davon
absehen, dass diese Untersuchungen mit ganzen 12 Individuen, die
noch dazu zu vier verschiedenen Versuchen benützt wurden, aus-
geführt sind; aber sehen wir weiter. Der Verfasser hat die Ver-
suche am 8. Maı 1911 begonnen und am 27. Juni desselben Jahres,
also nach etwas mehr als 7 Wochen abgeschlossen, da um diese
Zeit die Hälfte der Tiere der Hitze erlag (!), die andere konserviert
wurde. Er teilte die teils dem Uterus entnommenen, teils auf
natürlichem Wege geborenen Jungen eines Weibchens der Varietät
taeniata in zwei Gruppen, in eine helle und eine dunkle, hielt von
beiden einen Teil auf gelbem, einen anderen auf schwarzem Papier
und beschreibt nun die Färbung der Jungen nach 7wöchigem Aufent-
halte unter diesen Bedingungen. Verf. bringt nun auf einmal Ab-
bildungen von vier Jungen (Fig. 2—5), von denen er behauptet, sie
hätten unter dem Einflusse der gelben, bezw. schwarzen Unterlage
ihre Zeichnung erhalten. Aber er zeigt nicht, wie sie vorher aus-
gesehen haben. Und das ıst doch nicht so unwichtig. Wenn ein
junger Salamander aus der hell- oder dunkelgraubraunen Wasser-
färbung ohne weiteres in die abgebildete Landfärbung übergeht,
wie will Verf. beweisen, dass die Unterlage an dem Auftreten dieser
schuld ist? Wenn aber ein schwarzgelbes, anders gezeichnetes Vor-
stadium vorlag, warum bildet er es nicht ab und lässt unserer
Phantasie alles zu erraten übrig? Ich möchte nun ferner darauf
hinweisen, dass Sederov im Irrtum ist, wenn er annimmt, die
beiden Jungen, die auf Fig. 2 und 4 abgebildet sind, hätten (infolge
Haltung auf gelbem Papier) mehr Gelb als das Muttertier; es scheint
diese Selbsttäuschung darauf zurückzuführen zu sein, dass das Gelb
namentlich bei Fig.2 anders verteilt ist und auf dem Kopfe einen
größeren zusammenhängenden Raum bedeckt als bei der Mutter.
Es bleibt aber auch hier zu beweisen, dass die Gelbfärbung dem
Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten ete. 4177
gelben Papier zu verdanken ist, es kann sehr wohl das betreffende
Jungtier schon von vornherein soviel Gelb gehabt haben.
Die beiden auf schwarzem Grund gehaltenen Jungen (Fig. 3
und 5) sind ausgesprochene Kümmerformen und da schon Kam-
merer in einem Kapitel „Hunger und Mast“ (auf p. Y95ff. seiner
großen Arbeit!)) angıbt, dass Hunger Dunkelfärbung zur Folge
habe, so könnte man vielleicht annehmen, dass die Ursache der
überwiegenden Schwarzfärbung dieser beiden Jungtiere auf diesen
Umstand zurückzuführen sei, wenn man überhaupt annımmt, dass
die Zeichnung der Salamander durch äußere Faktoren noch beein-
flusst werden kann; von ihnen scheinen mir erheblich mehr als die
Färbung der Umwelt, die chemische Beschaffenheit des Mediums ?)
von einiger Bedeutung zu sein, obwohl sie ım Freileben des Sala-
manders kaum eine Rolle spielt. Wenn wir die Secerov’schen
und Kammerer’schen Experimente und ihre Ergebnisse betrachten,
so drängt sich uns unwillkürlich die Frage auf: Sind die Verhält-
nisse, unter denen die Tiere gehalten werden, solche, die erwarten
lassen, dass sie auch nur einige Monate am Leben bleiben können?
Ich möchte es sehr bezweifeln. Die ganze Versuchsanordnung ist
ein Gewaltakt gegen die natürlichen Lebensbedingungen des Sala-
manders und es erscheint mir höchst unwahrscheinlich, dass ein so
elend und halbverhungert aussehendes Individuum, wie z. B. Fig. 10
auf Taf. XIV der Kammerer’schen Arbeit noch 4 Jahre ausge-
halten haben sollte oder dass eine Behandlung, welche ein Indi-
vıduum vom Aussehen der Fig. 14 derselben Tafel erzeugt hat,
natürlichen Lebensbedingungen entspricht. Eın Tier, das ein so
intensives Bedürfnis hat, sich zu verbergen, wie der Salamander,
das ım Freien den größten Teil seines Lebens unterirdisch ver-
bringt, zu zwingen, sich lebenslang auf einer deckungslosen Fläche
aufzuhalten, einerlei, ob sie nun gelb oder schwarz ist, heisst ein-
fach, es einem langsamen Sıechtum aussetzen. Hat aber auch
Kammerer mit den natürlichen Existenzbedingungen von Sala-
mandra ein Kompromiss geschlossen — und dass er dies in manchen
Fällen getan hat, indem er den Tieren Moos zum Verbergen gab,
ist außer Zweifel —, wo bleibt dann die Elimination von Faktoren,
die das Experiment beeinflussen können?, und warum sträubt er
sich so hartnäckig dagegen, Ergebnisse, die an freilebenden Sala-
mandern gewonnen wurden und die den seinigen diametral gegen-
überstehen, anzuerkennen? Es ist ein wenig Selbsttäuschung dabei,
wenn Kammerer annimmt, dass bei seinen Versuchen die Sala-
1) Vererbung erzwungener Farbveränderungen IV. Archiv f. Entwickelungs-
mechanik XXXVI, 1913.
2) Irena Pogonowska, Über den Einfluss chemischer Faktoren auf die
Farbenveränderung des Feuersalamanders. Archiv f. Entwickelungsmechanik XXXIX,
1914, p. 351—362
XXXV. 12
178 Werner, Einige Bemerkungen an den Salamandra-Experimenten etc.
mander unter gleichmäßigeren Bedingungen leben als an vielen
Fundorten, an denen z. B. ich selbst sie beobachtet habe — dass
freilich an solchen Fundorten, wo Bodengrund, Feuchtigkeits- und
Belichtungsverhältnisse jahraus jahrein mindestens ebenso gleich-
artig sind wie bei den Kammerer’schen Versuchen, sehr stark
gelbe und sehr stark schwarze Salamander jahrelang am selben
Fleck hausen, ist freilich sehr ärgerlich.
Bei Betrachtung der Schnelligkeit, mit der jetzt mitunter
experimentelle Untersuchungen zur Welt gebracht und (s. Sederov)?)
mit spärlichem Material Ergebnisse gewonnen werden, die auf Be-
achtung Anspruch machen sollen, drängt sich mir — und wohl auch
manchem anderen Leser bereits vorher — die Frage auf: Warum
werden diese Stadien nicht photographiert? Heutzutage, wo in jeder
besseren Aquarien- und Terrarienzeitschrift gute Photos eine ganz nor-
male Erscheinung sind (man vergl. z. B. die Abbildungen von Molge
vittata ın den Mitteilungen von Lantz und diejenigen der Salamandra
caucasica bei Gyren*) sollte eine Arbeit, die auf wissenschaftliche
Exaktheit Anspruch macht, der Zuhilfenahme der Photographie um
so weniger entraten, als ja dem Nachprüfer der Untersuchungen
über Veränderungen des Farbkleides infolge Einwirkung der Um-
3) Ein anderer Jünger Kammerer’s, Alois Gaisch, bringt in den Verh.
zool. botan. Ges. Wien, LXII, 1912, p. 54 unter dem Titel „Ein weiterer Beitrag,
zur künstlichen Schwarzfärbung des gefleckten Salamanders (Sulumandra macu-
losa Laur.)“ auch gleichzeitig einen weiteren Beitrag zu der Methode, mit der heut-
zutage mitunter „experimentell zoologisch“ gearbeitet wird. Der Verfasser brachte
Anfang Mai 1911 einen Salamander in ein Aquaterrarium, dessen Bodenteil schwarzer,
feuchter Torfmull bildete. Nach 3 Monaten beobachtete er, dass eine Änderung der
Zeichnung vor sich gegangen war; die Flecken waren viel kleiner geworden, ob einige
schon verschwunden waren, wagt Verf. nicht zu entscheiden, da er das Tier bis zur
Entdeckung der Veränderung nicht kontrolliert hatte. Auch hatten die
Flecken einen düsteren Ton angenommen und es traten innerhalb ihres Grenzbereiches
eine Menge feiner schwarzer Pünktchen auf. Jedermann, der sich mit Salamandern
näher befasst hat, erwartet nun, dass das Tier, das augenscheinlich krank und
außer stande war, sich zu häuten — daher die düstere Färbung der sonst hellen
Flecken — nächstens eingehen werde; das geschah nun auch; Verf. fand das Tier
tot im Wasser und stellte fest, dass die düstere Färbung nur scheinbar war und
unter der alten Haut die gelben Flecken sichtbar wurden. Bei zwei anderen, unter
gleichen Verhältnissen gehaltenen Exemplaren war trotz wiederhoiten Nachsehens
keine Veränderung zu beobachten. Resultat der so gründlichen Beobachtung: Der
Salamander wurde anfangs gar nicht näher angesehen, erst nach 3 Monaten, als er
(angeblich) verändert war. Die Verdüsterung war eine scheinbare. Die beiden
„Kontrollsalamander‘‘, bei denen „wiederholt nachgesehen“ wurde, veränderten sich
— wie zu erwarten stand — gar nicht. Und ein solches Ergebnis nimmt drei
Druckseiten in Anspruch und soll die Annahmen Kammerer’s stützen. Da kann
wohl die experimentelle Zoologie sagen: ‚Herr, bewahre mich vor meinen Freunden !“,
denn solche Freunde sind diskreditierend für sie.
4) Bl. Aq. Terr. Kunde 23, 1912, p. 181—188; Ber. Senkenbg. Ges. 42, 1911;
schöne Autochrombilder von Salamandra bei R. Weigel: Über homöoplastische
und heteroplastische Hauttransplantation bei Amphibien mit besonderer Berück-
sichtigung der Metamorphose. Arch. Entw.-Mech. XXXVI, 1913, Taf. XXVIII.
Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten ete. 4179
welt außer dem Endstadium, dem Ergebnis des Experimentes eigent-
lich gar nichts positives zur Verfügung steht. Ergebnisse experi-
menteller Untersuchungen sollten aber doch nicht nur auf Treu
und Glauben hingenommen werden müssen, und wo die Möglichkeit
wirklich vorhanden ist, Vorstadien des endgültigen Resultates ın
einwandfreier Weise abzubilden, da soll man sie auch benützen.
Ich kann auch Kammerer den Vorwurf nicht ersparen, dass er
dieser Mühe ausgewichen ist und es vorgezogen hat, die beob-
achteten Veränderungen ın vorgezeichnete Umrisse einzutragen.
Nicht darum handelt es sich, ob die photographischen Abbildungen
genauer sind als die gezeichneten, sondern darum, dass man den
Entwickelungsgang der Zeichnung der einzelnen Individuen wirklich
sehen kann und nicht bloß glauben muss. In der Wissenschaft
sollen wir uns doch lieber auf das verlassen, was wır sehen können
(wo wirklich etwas zu sehen ist), als auf das, was uns auch der
ausgezeichnetste Experimentator zu glauben vorlegt.
Und dass Kammerer trotz gegenteiliger Außerungen eigent-
lich nicht sehr darauf erpicht ıst, dass seine Experimente bald
wiederholt werden, geht aus den Worten seiner Einleitung (p. 7)
zu der vorzitierten großen Arbeit hervor, in denen er die großen
Schwierigkeiten eindringlich und nachdrücklich hervorhebt, die dem
Experimentator bei der Ausführung dieser Versuche begegnen
würden: „will er hier mit dauerndem und sicherem Erfolg experi-
mentieren, so muss er ein gutes Stück seines Lebens daran wenden;
unter einem bis zwei Jahrzehnten geht es nicht ab.“ Wenn das
nicht Abschreckungstheorie ist, so weiß ich nicht, was es sonst
sein soll. Einem eventuellen Nachprüfer prophezeien, dass er erst
vielleicht in 20 Jahren seine Ergebnisse als richtig oder falsch er-
weisen kann, d. h. doch nichts anderes, als ihm den Wink geben,
seine kostbare Zeit lieber auf etwas anderes zu verwenden. Ich
habe eine solche Warnung schon vorgeahnt, als ich in einem
Referat über Boulenger’s Alytes-Arbeit (Zentralbl. f. Zoologie II,
1913, p. 349, Ref. 656), der zu wesentlich anderen Ergebnissen kam
als Kammerer, sagte: „Man muss bedenken, dass diese Versuche
de facto unkontrollierbar sind, da der Experimentator immer die
Divergenzen auf nicht vollkommen übereinstimmende Versuchs-
anordnung beim Kontrollversuch zurückführen kann.“
Aus einem Vortrage von F. Megusar während der Versamm-
lung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien, 1913°) geht nun
hervor, dass dieser nicht nur auf Grund unrfangreichen (und, wie ich
nach Besichtigung seiner Zuchten sagen kann, in tadellosem Gesund-
heitszustande befindlich gewesenen) Untersuchungsmaterials zu dem
Ergebnisse gekommen ist, dass die Zeichnung des Feuersalamanders
5) Siehe das allerdings sehr kurz gehaltene Autoreferat im Sitzungsbericht B,
Zweite Untergruppe der naturw. Abt. Nr. 13. p. 719.
12*
480 Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten etc.
durch die Farbe des Bodengrundes nicht beeinflusst wird, sondern
dass seit einer Reihe von Jahren die Pflege der Versuchstiere gar
nicht mehr in den Händen Kammerer’s selbst lag, vielmehr
Megusar anvertraut war, der jedenfalls keine Dezennien brauchte,
um herauszubringen, was schon von vornherein zu erwarten war —
dass Kammerer, der selbst die Begriffe von physiologischem und
morphologischem Farbenwechsel mit Recht auseinanderhält, gar
nicht bemerkt hat, dass es einen morphologischen Farbenwechsel
nur insofern gibt, dass während der postembryonalen Entwickelung
gewisse Zeichnungsformen einander ablösen, d. h. die phylogenetisch
älteste, die bei der Jugendform auftritt, allmählich (und zwar
ohne Rücksicht auf die Umwelt) durch eine andere ersetzt
wird. Es könnte also die Fleckenfärbung sich von bleichgelb zu
hochgelb und gelbrot verändern, aber von einer relativen Größen-
veränderung (ein absolutes Wachstum der Flecken gleichzeitig mit
dem Wachstum des Tieres selbst ist ja selbstverständlich) kann
nach meinen eigenen Erfahrungen keine Rede sein. Hätte die
Fleckenzeichnung nicht stammes- oder ım speziellen Falle wenigstens
familiengeschichtliche Bedeutung, so wäre es höchst unverständlich,
dass gewisse Zeichnungen, wie die auf dem oberen Augenlid und
an den Extremitätenwurzeln so hartnäckig sich erhalten. Die von
einer Mutter stammenden Tiere Megusar’s, die ich gesehen hatte
(und sie erwiesen sich auch dadurch als Geschwister, dass sie trotz
großer Zahl alle von gleicher Größe waren — und zwar damals
einem Stadium, das im Freien überhaupt selten gefunden wird und
daher unmöglich in so großer Zahl gefangen werden kann) zeigten
in der Zeichnung unverkennbare Übereinstimmung und zwar trotz-
dem sie unter den verschiedensten Lebensbedingungen gehalten
worden waren. (Auch Kammerer spricht an verschiedenen Stellen
von solchen hochgradigen Familienähnlichkeiten — Taf. X u. XIV,
Fig. 10—11; Taf. X u. XV, Fig. 16—17 —, merkwürdig ist dabei
nur, dass die Familienähnlichkeit bei ihm immer erst nach experi-
menteller Behandlung herauskommt — in den Anfangsstadien merkt
man nichts davon.)
Zum Schlusse möchte ich noch bemerken, dass Stadien, wie
sie die großen Tiere auf Taf. XIII darstellen (Fleckenverdüsterung
ohne wesentliche Fleckenverkleinerung), sehr leicht dadurch ent-
stehen, dass man die Tiere recht trocken hält (Kammerer gibt
selbst an: Q der P-Generation auf trockenem Boden); sie können
sich dann nicht häuten, ‘die alte Haut, die auf den hellen Flecken
festhaftet, ruft den Eindruck einer Verdüsterung hervor. Ich bin
nicht davon überzeugt, ob Kammerer mir auch nur ein Exemplar
dieser Düsterform vorweisen kann, für das diese Erklärung ver-
sagen würde.
Wien, 13. Juli 1914.
Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 181
Nachschrift. Erst jetzt im Oktober ersehe ich aus den „Be-
merkungen zu Kammerer’s Abhandlung: Vererbung erzwungener
Farbveränderungen IV“ von Erwin Baur (in Arch. Entw.-Mech.
XXXVII (1914, p. 682—684), dass den Tafeln XIV u. XV der
Kammerer’schen Arbeit, die allerdings keine Serien, sondern nur
Anfangs- und Endstadien vorstellen, photographische Aufnahmen
zugrunde liegen. Schade, dass gerade diese, wie Herr Prof. Baur
bemerkt, sehr schlechte, vielfach retuschierte Photographien sind,
schade ferner, dass Kammerer erst jetzt die Retusche der Figuren
— wenigstens 9 und 26 — auf Taf. XIV u. XV (nicht XV u. XV],
wie er angıbt) erwähnt. Nicht ganz verständlich ist der Passus 3
(ad „Anfangs- und Endstadium“) der Aufklärungen Kammerer’s.
Stellen die hier erwähnten Abbildungen durchwegs’verschiedene Tiere
vor, so begreift man nicht recht, was ihre Abbildung für einen
Zweck haben soll; solche Einzelexemplare kann man auch leicht
zusammenkaufen, man braucht sie nicht zu züchten. Eine einzige
photographierte Serie wäre vertrauenswürdiger als diese Neben-
einanderstellung geduldiger Stadien verschiedener Serien. Aber
eine solche Serienaufnahme vermisse ich schmerzlich.
Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer
Jungfische.
Von Dr. Ludwig Scheuring, Helgoland').
Symbiose und Parasitismus sind zwei Erscheinungsformen von
Lebensgemeinschaft, die durch viele Übergänge miteinander ver-
bunden, es dem Beobachter oft schwer machen, sich für die eine
oder andere zu entscheiden. Erschwert wird die Trennung beider
sowohl durch die Variationsbreite der symbiotischen Erscheinungen,
als auch durch die Mannigfaltigkeit der möglichen parasitären
Lebensweisen. Bei der Symbiose werden nur in den allerseltensten
Fällen beide Symbionten der gleichen Gemeinschaft aus dieser ein
gleiches Maß von Vorteil ziehen; weit mehr wird der Fall eintreten,
dass das Plus des Einen sich auf Kosten des Anderen vermehrt.
Verschiebt sich das Verhältnis immer mehr zugunsten des einen
Gesellschafters, so kommen wir zu Erscheinungen, die sich je nach-
dem einem Fress- oder einem Ektoparasitismus immer mehr nähern
und schließlich zu einem echten Parasitismus führen können. Deshalb
können nur sehr exakte Besbachtungen beider Symbionten in ihren
natürlichen Verhältnissen und passende Experimente die Frage klar
entscheiden, haben wir es in diesem oder jenem Fall mit Sym-
biose oder mit Parasitismus zu tun?
1) Diese Arbeit wurde dem Biol. Centralbl. im November 1913 eingereicht;
infolge bedauerlicher Umstände wurde eine frühere Veröffentlichung, entgegen dem
Wunsche des Verfassers, verhindert.
482 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische.
In folgendem soll das Verhältnis zweier Tiere, über deren gegen-
seitige Beziehungen noch Unklarheit bestand, näher betrachtet
werden.
In dem Aquarium der Biologischen Anstalt Helgoland werden
in einem der großen Schaubecken während des Sommers Quallen
(Oyanea capillata und Aurelia aurita) gezeigt. Häufig sieht man
hier unter der Scheibe der Haarqualle und zwischen ihren lang
herabhängenden Fangfäden kleine Fische herumspielen, anscheinend
völlig unbekümmert um die Nesselzellen, mit denen die langen
Senker bewaffnet sind. Wir haben es hier mit den Jungen von
Gadus merlangus und Caranz trachurus zu tun, die beide die Ge-
wohnheit haben, sich unter dem Schirm der Qualle oder in deren
nächster Nähe aufzuhalten.
Über den Zweck dieses eigentümlichen Aufenthaltes wusste
man nichts ganz Sicheres. Im großen und ganzen ging die land-
läufige Meinung dahin, dass es sich bei dem Zusammenleben von
den Jungfischen mit der Qualle um ein „ideelles Freundschafts-
bündnis“ handle: Die Qualle gewährt der zarten Brut Schutz unter
und hinter ihren mit Nesselzellen bewehrten Tentakeln und lässt
auch die Fische von dem Überflusse der an ihren Senkfäden hängen-
bleibenden kleinen Planktontieren zehren, wofür sie durch diese
von den parasitischen Amphipoden (Hyperia galba), die sich in ihren
Schirm einnagen, befreit wird. Jedoch wurde dieser Deutung als
unbewiesen immer wieder Zweifel entgegen gestellt, und meist
wurde das Verhältnis von Fisch und Qualle nicht weiter untersucht
und nur auf die Abhängigkeit des Vorkommens der Jungfische von
dem der Qualle hingewiesen.
Die Literaturangaben, die das Zusammenleben von Fischen mit
Quallen behandeln, sind sehr spärlich und weit zerstreut. Mög-
licherweise ist mir deshalb auch die eine oder andere Quelle ent-
gangen, um so mehr, da häufig sich derartige Notizen in größeren
Arbeiten finden, deren Titel sie nicht vermuten lässt.
Der erste Forscher, der das Vorkommen von Jungfischen unter
(uallen beobachtete und sich auch über die Art dieses Verhält-
nisses äußerte, war A. W.Malm. In Öfversigt af Kong]. Vetenskaps.-
Akademiens Förhandlingar. Attonde Argängen 1852 berichtet er in
einem Aufsatze: Über die Brut von (Caranx trachurus (Om yngel
af Caranz trachurus) auf p. 226 folgendermaßen?). „Während
meines Aufenthaltes in den Schären von Bohuslän im letzten
Sommer sagte mir ein alter Fischer, dass der Wittling (Merlangus
2) Ich gebe das Zitat in deutscher Übersetzung wieder, weil doch die Kenntnis
des Schwedischen nicht allgemein verbreitet ist. Für die Übersetzung bin ich
Herrn Geh.-Rat Prof. Dr. Heincke und Herrn Rektor Erichsen, Helgoland,
zu Danke verpflichtet.
Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 183
vulgaris) in der Qualle (Oyanea capillata) „gestiftet“ (geboren) werde;
ein anderer versicherte, dass die Qualle Heringsbrut fresse.
Um die Ursache dieser Äußerungen zu ergründen, fing und
untersuchte ich eine Menge Quallen und fand in einer 7, in einer
anderen 3 und in einer dritten 5 kleine Junge von Trachurus. Sie
wurden alle zwischen den Ovarien der Qualle angetroffen. Und als
ich versuchte, diese kleinen Tiere zu fangen, arbeiteten sie sich so
weit als möglich unter den Schirm der Qualle. Mit der letzten, die
ich erhielt, stellte ich folgende Versuche an: Nachdem ich die Fische
in ein Gefäß mit Wasser gesetzt hatte, erhielt die Qualle ihre Frei-
heit wieder; und als ich sofort darauf einen Fisch nach dem anderen
frei ließ, sah ich zu meinem größten Vergnügen, dass alle unter
die Qualle, die sich um zwei Fuß gesenkt hatte, tauchten und
augenblicklich unter den Schirm derselben flohen. Der Versuch
wurde erneuert, aber vier meiner kleinen Fische starben dabei, so
dass der eine allein seine, wie es schien, geliebte Qualle erreichte.
Jetzt nahm ich die Qualle und setzte sie in ein am Strande liegendes,
zur Hälfte gesunkenes Boot, und während der 3 Tage, die ich ın
Christineberg war, besuchte ich oft diese Qualle, unter deren Ovarien
sich der kleine Fisch leise bewegte. Nachdem ich den Darmkanal
des Fisches untersuchte und ıhn voll mit Eiern der Qualle fand,
zweifelte ich nicht mehr, dass diese kleinen Fische wie eine Art
Parasiten bei der Oyanea capillata leben. Als Grund für diese meine
vielleicht gewagte Annahme kann ich weiter anführen, dass ich beı
Anstellung genauerer Untersuchungen diese Fischjungen niemals
anders als bei der genannten Qualle antreffen konnte. Es verdient
auch noch erwähnt zu werden, dass ich niemals eine andere Fischart
bei der genannten Qualle gefunden habe, obwohl iclı sie dann und
wann unter tausenden Individuen von Gobius ruthensparri Euphras
und anderen Fischen fand. Dass die Stachelmakrele schon sehr
früh zwischen die Ovarien der Qualle geht, um sich dort zu nähren
und dort bleibt bis der Fisch eine vollkommenere Entwickelung
erreicht hat, kann schließlich auch daraus gefolgert werden, dass
die Individuen, die in derselben Qualle gefunden wurden, fast alle
dieselbe Größe hatten.“
In seinem bekannten Werke: Göteborgs och Bohusläns Fauna,
Ryggradsjuren 1877 kommt Malm p. 421 auf diese Beobachtungen
zurück und fügt noch einige Ergänzungen hinzu. 1853, 1854, 1873
konnte er in Christineberg immer das gleiche Schauspiel beobachten.
Immer fand er junge Stöcker unter der Oyanea capillata. Nur ein ein-
ziges Mal traf er sie auch unter Rhixostoma aldrovandii an und istgewillt,
in dieser Tatsache eine Ausnahme zu erblicken, die auf einem Irr-
tum des Fisches beruhe. P. 485 lesen wir zum ersten Male, dass
auch junge Brut von Gadus merlangus mit der Qualle zusammen-
lebt. „Im Sommer kann man vom Lande oder von einem Boot aus
184 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismur pelagischer Jungfische.
oft mehrere Exemplaye sehen (gemeint junge Gadus merlangus)... .,
welche ich in dem klaren Wasser der Qualle CUyanea capillata
folgen sah, genau if derselben Weise, wie dies bei den Jungen
von Caranz der Fall ist...“ Am 3. Juni 1856 erhielt ich bei
Känsö einige Junge von 19—30 mm Länge ın Gesellschaft der ge-
nannten Qualle; den 7. August 1865 bei Strömstad auf dieselbe
Weise, welche von 15—30 mm Länge und weiter an derselben
Stelle in demselben Jahre welche von 50—60 mm Länge, die aber
getrennt schwammen.“
Collet (1875) berichtet, dass während ihres pelagischen Lebens
die Jungen von Gadus morrhua unter Oyanea capillata und Medusa
aurita gegen die vielen Gefahren Schutz suchen (p. 106) und dass
die Brut von Gadus aeylefinus und Gadus merlangus zusammen mit
Oyanea gefunden wird (p. 108 u. 109).
Möbius und Heincke erwähnen in ıhrem bekannten Werke:
Die Fische der Ostsee, sowohl für Caranz als auch für Gadus aegle-
finus und Gadus merlangus, dass deren Jugendformen zusammen mit
der Qualle Cyanea capillata vorkommen „Nach Beobachtungen
anderer Forscher sollen ganz junge Stöcker in den Ernährungs-
höhlen von Quallen leben“ (p. 216).
Smitt bezieht sich in: A history of Scandinavian Fishes, was
Caranz anbetrifft, auf die Beobachtungen von Malm, die durch
brieflich an Eckström berichtete Angaben von I. W. Grill be-
stätigt werden (p. 87 u. 88). In bezug auf Schellfischbrut heisst
es p. 471 „Like the young of several other fishes, of the Horse
Mackerel and the Cod for example, the Haddock fry according to
Sars and Collett, seek shelter and food under the bodies of
Medusae, together with which they drift about, until they are more
than 50 mm long.“ Auch junge Dorsche suchen nach Smitt den
Schutz der Qualle auf: „The fry now (10—15 Tage alt) seek shelter
under Medusae and other floating objekts“ (p. 478). P. 491 be-
spricht der Autor dann das Verhältnis von jungen Wittlingen zu
der Qualle, und hier wird zum ersten Male die schon vorn skizzierte
Ansicht geäußert, dass der junge Merlangus als „Freund“ der Qualle
diese von ıhren Parasiten befreie... „The fry may be seen assem-
bled ın fairly great numbers under the large jelly-fish (Oyaneca
capillata) ın which the sea abounds. Thus the fry of the Whiting
like those of the Cod and other fishes, fly for shelter to these
creatures and feed upon the erustaceans which live as parasites ın
the body of the jelly-fish or adhere to its long, filiform, and slımy
tentacles. During the summer... small Whiting from 10 to 12 mm
long may olten be seen keeping close to a jelly-fish for hours,
following its sluggish movements ın a manner that seems to indi-
cate a certain intimacy and mutual confidence between these strangely-
assorted companions.“
Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 185
In den Veröffentlichungen der Internationalen Meeresforschung
wird häufig das Vorkommen von jungen Gadiden und Caranz
zusammen mit Quallen erwähnt und die Abhängigkeit der ersteren
von letzteren betont. Die Art des Abhängigkeitsverhältnisses aber
wird nieht näher untersucht.
In „Eier und Larven von Fischen der deutschen Bucht“ be-
tonen Heincke und Ehrenbaum ausdrücklich, dass man wohl
das Zusammenleben von Fisch und Qualle schon lange kenne, über
den Zweck desselben aber noch nicht genügend unterrichtet: seı.
„Die Jugendformen der Bastardmakrele sind längst bekannt und
oft beobachtet, namentlich wenn sie in kleinen Gruppen die Schirm-
quallen der Gattungen Cyanea und Rhixostoma umschwärmen, mit
denen sie noch nicht völlig aufgeklärte Beziehungen erhalten“
(p. 277).
Ausdrücklich hebt auch Heincke in: Die Eier und Jugend-
formen der Nutzfische ın der Nord- und Ostsee und die Alters-
bestimmungen der Nutzfische, die Abhängigkeit des Vorkommens
von Jungfischen von dem der Quallen hervor. „Es ist bekannt,
dass die jungen Wittlinge, so lange sie noch etwas kleiner sind
und eine pelagische Lebensweise führen, fast immer mit Quallen
(meist Oyanea) zusammen gefunden werden. Ob dieser so
charakteristische Aufenthalt der jungen Fische unmittelbar neben
den Quallen, ja zwischen ihren Fangfäden — wie wir es oft ın
unseren Aquarien und zuweilen auch auf offener See nahe der
Wasseroberfläche gesehen haben — eine Art echter Lebensgemein-
schaft ist und welcher Art, ist noch nicht bekannt. Sicher ist,
dass wir ın unseren Oberflächennetzen fast niemals pelagische Witt-
linge gefangen haben ohne auch zugleich Quallen zu fischen und,
dass meist um so mehr Wittlinge in einem Fang waren, je mehr
Quallen er enthielt. Wie weit übrigens auch die Jungfische anderer
Gadiden-Arten, wie z. B. kleine Schellfische und Kabeljaue, mit
Quallen zusammenleben, können wir aus Mangel an Beobachtungen
noch nicht bestimmt sagen; wir wollen hier nur betonen, dass
alle unsere pelagischen Jungfisch-Fänge Quallen ent-
hielten und, dass Kabeljaue und Schellfische, wenn sie in solchen
Fängen vorhanden waren, immer mit Wittlingen zusammen gefunden
wurden, wobei die letzteren fast ausnahmslos in der Mehrzahl
waren“ (p. 39).
Ähnlich spricht sich der gleiche Forscher in dem 3. Jahres-
bericht: Die Arbeiten der Kgl. Biologischen Anstalt auf Helgoland
in.der Zeit vom 1. April 1904 bis 31. März 1905, aus. „Von be-
sonderem Interesse ıst die durch unsere Untersuchungen festgestellte
merkwürdige Abhängigkeit der Brut gewisser dorsch-
artıiger Fische, wie des Kabeljaues, des Schellfisches und des
Wittlings, von dem Vorkommen der Quallen, besonders der
456 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische.
sogen. Haarqualle.e Wenn die Brut dieser Fischarten das Larven-
stadium vollendet hat, führt sie eine Zeitlang ein pelagisches Leben
ın freiem Wasser und geht erst allmählich zum Leben auf dem
Meeresboden über, am spätesten der Wittling, am frühesten der
Kabeljau. Während dieses pelagischen Lebens nun trifft man diese
drei Fischarten fast ausschließlich in Gesellschaft der ge-
nannten Quallen, in deren unmittelbarer Nähe und zwischen
deren Fangfäden sie umherschwimmen. Dieses eigenartige, in seiner
wahren Bedeutung noch nicht erkannte Zusammenleben von Fischen
und Quallen ist in der Nordsee ein so enges, dass dort, wo keine
Quallen sind, auch fast niemals junge Fische der genannten Arten
gefunden werden. Wir sind in der nordwestlichen Nordsee auf
hoher See tagelang gefahren, ohne eine Qualle gesehen und ohne
einen pelagischen jungen Gadiden gefangen zu haben; sobald dann
aber die ersteren wieder sich zeigten, waren auch diese sofort
wieder da.
Da die Quallen in hohem Grade planktonische Tiere sind und
durch Strömungen wahrscheinlich weit umhergetrieben werden,
muss man annehmen, dass auch die Verbreitung der jungen Brut
des Kabeljaues, Schellfisches und Wittlings in erheblichem Maße
durch Strömungen beeinflusst werden kann.“
Einige Seiten später heisst es dann noch in bezug auf den
Wittling: „... Sie leben von 2—5 cm Länge in den Sommer-
monaten in enormen Mengen zusammen mit den Quallen
ın den oberflächlichen und mittleren Wasserschichten und bleiben
auch sehr häufig noch dort, wenn sie zu 10, 15 und mehr Zenti-
meter herangewachsen sind“ (p. 79).
Haben Heincke und Ehrenbaum darauf verzichtet, etwas
Bestimmtes über die Art der Lebensgemeinschaft zwischen Jung-
fischen und Quallen zu behaupten, so wird an anderer Stelle die
Ansicht geäußert, dass die ersteren bei den letzteren Schutz suchten.
So sagt z. B. Griffini in bezug auf Caranz in einer Ittiologia
ıtalıana: „Fu osservato come ıi giovanı individul accompagnino
talora le grosse meduse, riparandosı anche sotto l’ombrello di
queste, e trovando cosi una protezione neglı organı urticantı di
quei celenterati“ (p. 408).
Auch T. W. Bridge und G. A. Boulenger machen sich bei
der Bearbeitung der Fische in: The Cambridge Natural History
diese Auffassung zu eigen. „The young... of Caranz trachurus
keep together in small bands in the neighbourhood of medusae, under
which they seek shelter when disturbed.“
Nicht nur in der Familie der Gadiden und der Öarangiden
finden wir ein Zusammenleben von Jungfischen mit Quallen. So
weist z. B. die Familie der Stromateiden eine ganze Reihe von
Arten auf, die mit Quallen zusammen angetroffen werden. Bekannt
Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 187
ist, dass Physalia oft von einem Fisch dieser Familie, Nomeus gro-
novii Gmelin, begleitet wird. Waite berichtet in Rec. Austral.
Museum Bd. 4, p. 39 darüber wie folgt: „It is noticed that Nomeus
is only found on our coast, when the ‚Portuguese men-of-war“
are driven ashore, and this is quite in accord with the habit
of the fish in swimming beneath the Physalia.“ Über die Art der
gegenseitigen Beziehungen der beiden äußert sich Waite p. 40:
„The relationship which exists between Nomeus and Physalia is a
very curious one, and invites speculation as to the advantage of
the association. A similar partnership is known between fishes and
medusae. The benefit must be primarily with the fish, for ıt ıs a
voluntary agent, whereas the Physalia has no power of locomotion.
If the fish secures safety from ıts enemies by entering the area
embraced by the deathly tentacles of the Physalia, which attains a
length of ten to twelve feet, it must be immune to their influence;
a remarkable condition considering that as I have previously recorded,
small fish have often been seen in their stomachs and entangled
in their tentacles* (Waite, Austral. Museum Mem. Bd. 4, 1899,
p. 15)°). Auch in bezug auf den Nahrungserwerb stellt sich nach
seiner Ansicht der Fisch bei dem Zusammenleben mit der Qualle
besser. „It ıs probable that, in addition to protection, the fish
derives its food from association with Physalia ... The Physalia
doubtless paralyses many more anımals than ıt can consume. —
The residue falling to the lot of the fish, which may be present
to the number of ten* (p. 41).
Um endlich über das Verhalten von Jungfisch zur Qualle Klar-
heit zu erhalten, stellte ich in den Becken der Biologischen Anstalt
eine Reihe von Beobachtungen und Versuchen an. In der Haupt-
sache wurden dazu junge Wittlinge und Oyanea capillata benutzt
und nur die wesentlichsten Befunde wurden an jungen Caranz
nachgeprüft.
Die Quallen halten sich in den Becken nur für kürzere Zeit
vollkommen frisch und werden deshalb öfter durch andere ersetzt.
Bei dieser Gelegenheit fiel mir auf, dass die in dem Becken be-
findlichen Fische sich gierig auf die bei dem Transport der Qualle
von dieser losgerissenen Ovarfetzen stürzten und sie verschlangen.
Dieses Tun erweckte ganz den Anschein, als ob hier die Fische
ihre natürliche Nahrung vor sich hätten, die selbstredend am liebsten
genommen wird. Bestärkt wurde ich in diesem Gedanken durch
den Umstand, dass die Aufzucht von Wittlingsbrut zusammen mit
Quallen fast immer Erfolg hat, wogegen die Fische, wenn sie ge-
trennt von Quallen gehalten werden, viel eher sterben, selbst wenn
3) Nach Garman (Bull. Lab. Nat. Sc. 1896, p. 86) werden aber auch die
kleinen Nomeus selber häufig von der Physalia getötet und verzehrt.
488 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische.
sie regelmäßig und reichlich mit frischem Plankton gefüttert werden.
Beobachtete man die Fische weiter, so konnte man oft genug sehen,
wie, nachdem sie alle losgerissenen und herumtreibenden Ovar-
fetzen der Quallen aufgefressen hatten, sie lebhaft nach deren Genital-
höhlen stießen und Eibündel herausrissen. Aber nicht nur die
Eierstöcke der Quallen waren solchen Angriffen ausgesetzt, sondern
oft wurde auch an den Tentakeln herumgezerrt. Nie aber konnte
ich beobachten, dass die häufig in dem Schirm der Quallen schma-
rotzenden Amphipoden eo galba), dıe in allen Größen vor-
handen waren, irgendwie von den Fischen beachtet wurden.
Bei der Magenuntersuchune eines Fisches, der mehrere Tage
ständig mit Quallen zusammen war, fand ich die Verdauungsorgane
prall angefüllt mit Ovar- und Tentakelfetzen, konnte aber nicht die
Spur von Kopepoden oder anderen Krustern finden, obgleich die
Quallen (und somit auch die Fische) täglich reichlich mit Plankton
gefüttert wurden und oft genug tote Krebschen an ihren Senkfäden
hingen.
Nun isolierte ich einige Fische verschiedener Größe von den
Quallen und ließ sie 1—2 Tage hungern. Dann wurden sie mit
Övarfetzen gefüttert. Rasch wurden diese verschlungen; und solche
Mengen nahmen die Fische zu sich, dass man ıhrer äußeren Körper-
form deutlich den überfüllten Magen ansehen konnte.
Nach einer abermaligen Hungerperiode wurde den Fischen ein
Gemisch von Ovarfetzen und kleinen lebenden Krustern (Kope-
poden und Dekapodenlarven) gereicht. Wieder stürzten sich die
kleinen Wittlinge gierig auf die ersteren, während letztere gar keine
Beachtung fanden.
Dann wurde den gut ausgehungerten Tieren eine größere
Menge von Hyperia galba ın allen Größen vorgesetzt. Aber auch
nicht eine der Amphipoden fand den Weg in den Magen der jungen
Wittlinge.
Auf reines Plankton, das den Fischen gereicht wurde, gingen
die meisten gar nicht; nur die größeren Exemplare (über 9 cm)
nahmen nach einigem Zögern wenige Kruster, aber, wie es schien,
durchaus nicht mit Eifer und Fresslust, sondern nur weil sie an-
scheinend der Hunger dazu trieb. Die jüngsten Fische dagegen
weigerten die Annahme von Plankton vollkommen.
Alle die vorliegenden Versuche wurden mehrfach wiederholt
und auch zum Teil an Caranxz nachgeprüft. Nach ihnen steht so-
mit fest, dass die jungen Wittlinge und Pferdemakrelen als echte
Parasiten der Qualle aufgefasst werden müssen. Sie leben aus-
schließlich von Teilen der Qualle. Malm hatte also mit seiner
diesbezüglichen Vermutung recht. Die Qualle hat von dem Zu-
sammenleben mit den Fischen gar keine Vorteile, denn ihre Para-
sıten werden ja von diesen als Nahrung verschmäht; es kann des-
»
Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 189
halb nicht von einem Freundschaftsverhältnis zwischen Qualle und
Fisch die Rede sein, es handelt sich um einen Parasitismus,
nicht um eine Symbiose.
Fragen wir uns, wie und warum sich vermutlich das Para-
sitieren der Jungfische bei den Quallen herausbildete, so müssen
wir den Grund hierfür in einer Anpassung an das.pelagische Leben,
verbunden mit einem stigmotaktischen Fluchtinstinkt, suchen.
Sehr viele freilebende Jungfische werden nur unter treibenden
Algen u. s. w. angetroffen. Diese gewähren ihnen sowohl Schutz
als auch Nahrung; bei Verfolgung verschwinden die Larven rasch
unter und zwischen dem Gewirr von Halmen und Stengeln, und
die an den Pflanzen ansitzenden und daran herumkriechenden Tiere
bilden ihre Hauptnahrungsquelle. Treibende Tangmassen finden
sich aber immer mehr ın der Nähe der Küste als auf der offenen
See. Extrem pelagische Larven werden deshalb auf der Hochsee
nicht genug Unterschlupf unter derartigen Treibmassen finden.
Diese passen sich nun den rein pelagischen, ebenfalls treibenden
Quallen an und suchen bei ihnen, genau wie ihre Verwandte unter
Algen, Schutz und Nahrung.
Eine gute Stütze für diese hier skizzierte wahrscheinliche Heran-
bildung des Parasitismuses bietet das Verhalten der Jungfische ver-
schiedener Gadiden.
Die jungen Gadus pollachius führen kein eigentlich pelagisches
Leben und werden ausnahmslos unter und zwischen Algen der
Strandregion gefangen. Gadus virens zeigt schon etwas die Ten-
denz zum Leben in freiem Wasser; seine Larven finden sich haupt-
sächlich unter Triftmassen. Gadus morrhua lebt wohl in der Jugend
pelagisch, geht aber früh zum Leben auf dem Grund und in der
Tangregion über. Seine Brut wird ın der Hauptsache unter treiben-
den Algen angetroffen, kommt aber auch zuweilen unter Quallen
vor. Später als der Dorsch geht der Schellfisch!) zum Boden-
leben über. Seine Larven schätzen denn auch das Zusammenleben
mit der Qualle, obgleich auch ihr Vorkommen unter Triftmassen
allgemein ist. Der pelagischste Gadide ist der Wittling. Seine
Brut ist vollkommen auf das Parasitieren bei der Qualle spezialisiert
und hat verlernt, sich, wie ihre Verwandten, von kleinen Krustern
zu nähren. (Man vergleiche die oben zitierten Beobachtungen von
Heincke.)
Durch meine Experimente wurde die Frage nach der Immunität
der Jungfische gegen die Nesselzellen der Qualle nicht angeschnitten.
Ich möchte dazu nur die Vermutung äußern, dass eine derartige
4) Ich hatte leider keine Gelegenheit, mit jungen Gadus aeglefinus zu experi-
mentieren, um festzustellen, ob diese noch Plankton, besonders kleine Kruster als
Nahrung annehmen.
190 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete,
absolute Unverletzbarkeit des Fisches nicht angenommen zu werden
braucht. Die Mund- und Rachenpartien müssen zwar gegen die
Wirkung der beiden unempfindlich sein, da die Tentakel ja ge-
fressen werden. Im übrigen kann man häufig sehen, wie es dem
Fisch gelingt, infolge seiner geschickten Bewegungen die Berührung
der nesselnden Fäden mit dem Körper zu vermeiden. Außerdem
fragt es sich doch noch, ob bei einer eventuellen Berührung die
Nesselfäden genug Kraft haben, die ziemlich dieke schleimige Epi-
dermis des Fisches zu durchstoßen.
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Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf
Grund experimenteller Forschungen bei den Ameisen!').
Von Dr. med. Rudolf Brun,
Assistent an der Nervenpoliklinik der Universität in Zürich.
M.H.! Das Problem der Orientierung im Raum bietet bekanntlich
auch beim Menschen ein nicht geringes psychophysiologisches und
klinisches Interesse; — ıch erinnere hier nur an das staunenswerte
Örientierungsvermögen, welches, nach den Berichten zahlreicher
Forschungsreisender, Angehörige gewisser wilder Völkerschaften an
den Tag legen sollen, sowie andererseits an jene merkwürdigen und
schweren Orientierungsstörungen, welche der Neurologe bei der
Rinden- und bei der sogen. Seelenblindheit zu beobachten Gelegen-
1) Vorträge, gehalten in der psychiatrisch-neurologischen Gesellschaft in
Zürich, am 12. Dezember 1914 und am 23. Januar 1915.
Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc, 191
heit hat. Doch ist diese Frage beim Menschen naturgemäß eine
außerordentlich verwickelte; sie ist hier (wie übrigens auch bei den
Säugern) experimentell noch kaum ernstlich in Angriff genommen)
und daher selbst mit Bezug auf die Beteiligung der wesentlichsten
Komponenten noch sehr wenig geklärt. Dagegen vermag die experi-
mentelle Analyse der um vieles einfacheren Verhältnisse bei
niedrigeren Organismen (Vögeln, Insekten) uns wenigstens einen
rohen Einblick in die Prinzipien zu gewähren, nach denen der kom-
plizierte Mechanismus der Fernorientierung sich abwickelt, und
eine Reihe wichtiger Gesichtspunkte als Basıs für künftige Frage-
stellungen. Durchgeht man aber die reiche diesbezügliche Lite-
ratur, so ist man vielfach überrascht zu sehen, wie willkürlich
manche sonst streng wissenschaftliche Autoren bei der theore-
tischen Beurteilung ihrer an sich sehr sorgfältigen und klaren
Beobachtungen verfuhren; — eine Willkür, die vielfach selbst vor
der Aufstellung ganz abenteuerlicher, physiologisch unbegreiflicher
und schon erkenntnistheoretisch von vornherein unhaltbarer Hypo-
thesen nicht zurückschreckte: Geheimnisvolle, noch unentdeckte
Kräfte (Fabre, Bethe), eine „absolute, von allen sinnlichen An-
haltspunkten der Außenwelt unabhängige innere Richtungskraft“
(Cornetz), eine absolute Kenntnis der vier Kardinalpunkte des
Raumes (Berthelot), Wahrnehmung des Erdmagnetismus (V iguier)
oder „infraluminöser Strahlen“ (Duchatel), ein „nasaler Raum-
sinn* (Öyon), eine minutiöse kinästhetische Registrierung sämtlicher
beim Hinweg ausgeführter Körperdrehungen (Bonnier, Reynaud,
Pieron), eine Polarisation chemischer Duftteilchen (Bethe); —
alle diese und noch manche andere mysteriöse Fähigkeiten wurden
nacheinander zur „Erklärung“ der Fernorientierung der Brieftauben,
Bienen und Ameisen mit herangezogen. Die Ursache aller dieser
wissenschaftlichen Missgriffe ist m. E. in einem gewissen Mangel
an allgemein-biologischen Gesichtspunkten zu suchen; es fehlte
an einer festeren theoretischen Grundlage, welche eine einheitliche
Betrachtungsweise der Orientierungsphänomene im allgemeinen,
ihrer verschiedenen biologischen Stufen und der allgemeinen psycho-
physiologischen Gesetze, welche sie beherrschen, ermöglicht hätte.
Eine solche theoretische Basis habe ich in meiner Monographie
über die Raumorientierung der Ameisen?) in ihren Umrissen zu
skizzieren versucht und die dabei gewonnenen Gesichtspunkte
haben sich mir auch bei meinen speziellen experimentellen Frage-
stellungen als praktisch und fruchtbar erwiesen. Ich möchte Sie
2) Systematische Untersuchungen über den kinästhetischen Richtungssinn des
Menschen wurden erst in jüngster Zeit von Szymanski (Pflüger’s Arch. f. d.
ges. Phys. 1913) ausgeführt.
3) Brun, Die Raumorientierung der Ameisen und das Orientierungsproblem
im allgemeinen. — Gustav Fischer, Jena 1914.
199 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
daher auch an dieser Stelle zunächst mit diesen allgemeinen Ge-
sichtspunkten bekannt machen, bevor ich, im zweiten Teile meines
Vortrages, zur Darstellung der experimentellen Ergebnisse bei den
Ameisen übergehe, — um so mehr, als eine solche theoretische
Übersicht Ihnen auch das Vers ‚tändnis der dort zu erörternden, oft
recht komplizierten Versuchsanordnungen wesentlich erleichtern
dürfte.
T:
Über Raumorientierung im allgemeinen.
Als Orientierung ım Raum können wir ganz allgemein die
Fähigkeit der Organismen definieren, ihren Körper oder Teile des-
selben ın bestimmter Weise auf die einwirkenden Reize einzustellen,
bezw. ihre räumliche Fortbewegung in irgendeiner gesetzmäßigen
Weise auf die betreffenden Reizquellen zu beziehen. Nach dieser
allgemeinen Definition kommt die Orientierungsfähigkeit wohl sämt-
lichen Organısmen, auch den sesshaften, ohne Ausnahme zu: Sie
ist eine primäre Eigenschaft des lebenden Protoplasmas und als
solche schon mit jeder primären Reizbeantwortung verknüpft.
Versuchen wir, die ungeheure Mannigfaltigkeit aller hier in
Betracht kommenden Erscheinungen nach biologischen und physio-
logischen Gesichtspunkten zu gruppieren, so können wir sie zu-
nächst zwanglos ın zwei Hauptkategorien unterbringen und unter-
scheiden:
I. Eine propriozeptive (absolute) und II. eine exterozeptive
(relative, relationelle) Orientierung.
I. Die propriozeptive Orientierung empfängt ihre Angaben
ausschließlich von inneren, d. h. bei passiven oder aktiven Be-
wegungen ın den bewegten Teilen selbst entstehenden Reizen; sie
hat deshalb keinerlei nähere Beziehungen zur Außenwelt, sondern
orientiert den Organısmus lediglich über seine absolute Lage im
umgebenden Raum, bezw. über die gegenseitige Stellung seiner
Glieder. Natürlich trıtt die propriozeptive Obiehtrerune nn bei
der exterozeptiv orientierten Lokomotion jeweilen ausgiebig in
Funktion, jedoch nur als notwendige Vorbedingung zur hen
Ausführung der dabei stattfindenden Einzelbewegungen, niemals im
Sinne einer Direktion der Gesamtleistung, hinsichtlich des Be-
wegungszieles.
Die propriozeptive Orientierung ist eine statische oder eine
dynamische, je nachdem, ob dr Zweck sich ın der einfachen
Beantwortung der primären een erschöpft, oder ob das
Resultat dieser primären Antwortbewegungen seinerseits wieder ın
einem höheren Zusammenhange registriert und zum Aufbau neuer,
sekundärer Orientierungen verwertet wird.
1. Bei der statischen Orientierung handelt es sich um ein-
fache Einstellungsbewegungen des Körpers oder seiner Teile ın
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 193
einem bestimmten Verhältnis zur Lotrichtung der Schwerkraft. Bei
den Pflanzen sind diese Bewegungen äußerst träge; sie beruhen
hier offenbar auf polar ungleicher Wachstumsintensität in den von
dem Reize getroffenen Zellen und führen so allmählich zu jenen
Wachstumseinstellungen des Pflanzenkörpers, wie sie als Axotro-
pismen (Geotropismus, Heliotropismus u. s. w.) bekannt sind. Wir
können diese primitivste Form der räumlichen Orientierung als
plasmostatische Orientierung bezeichnen und der neuro-
statischen Orientierung der Tiere gegenüberstellen, wo die
betreffenden Einstellungsbewegungen äußerst prompt und in feinster
Anpassung an die fortwährend stattfindenden aktiven Änderungen
des Körpergleichgewichts durch Vermittlung komplizierter stato-
tonischer Sinnes- und Reflexapparate erfolgen.
2. Die dynamisch-propriozeptive Orientierung baut sich
auf aus einer mehr oder minder komplizierten zeitlichen Sukzession
derjenigen sekundären propriozeptiven Registrierungen, welche man
als Kinästhesien (im weitesten Sinne) zu bezeichnen pflegt.
Die Statolithenapparate, die Organe der Seitenlinie, die Bogen-
gänge des Labyrinths, zeigen dem Organısmus passive Lageverände-
rungen der Körperachse bekanntlich auch dann an, wenn alle übrigen
Kinästhesien und exterozeptiven Merkzeichen ausgeschaltet sind.
Dass dem so ist, beweist die interessante Tatsache, dass Taub-
stumme unter Wasser (wo der myostatische Sinn ausgeschaltet,
bezw. sehr herabgesetzt ıst) sehr oft jede Orientierung über die
absolute Lage ıhres Körpers im Raum verlieren und sogar nicht
mehr wissen, was oben und unten ist. Wir können die Funktion
der statischen Apparate zusammen mit dem myostatischen Sınn
(nebst den entsprechenden passiven Spannungswahrnehmungen in
den Sehnen, Gelenken und der Haut) als passıven Lagesinn
oder als passive Kinästhesie zusammenfassen. Im Gegensatz zu
ihm orientiert die aktive Kinästhesie, der Muskelsinn sens. strict.
oder besser: der „Bewegungssinn“ in ziemlich genauer Weise
über den jeweiligen aktiven Kontraktionsgrad in den verschiedenen
Muskelgruppen und somit auch über die bei Ausführung bestimmter
kinetischer Figuren (z. B. „Vierteldrehung rechts“) zu benutzenden
Synergien und Sukzessionen. Als Barästhesie („Schwere- oder
Kraftsinn*“) registriert er ferner in roher Weise die aktive Erhöhung
des Muskelwiderstandes, welcher beim Bergansteigen zur Überwin-
dung der Schwere oder beim Bergabsteigen zur Verhinderung des
passiven Falles erfordert wird und ermöglicht so eine gewisse Schät-
zung des Neigungswinkels. Und schließlich wäre es denkbar, dass
auch von der Länge einer zurückgelegten Wegstrecke dadurch eine
gewisse Vorstellung entstehen würde, dass die Intensität der dabei
auftretenden Ermüdungsgefühle der Weglänge irgendwie proportional
ist. In diesem Sinne ist man also auch berechtigt, von einem „Er-
XXXV. 13
194 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
müdungssinn“, oder — nach seiner Funktion — geradezu von einem
'Strecken- oder Podometersinn zu sprechen.
Die Bedeutung aller dieser Kinästhesien für die räumliche
Orientierung wird im allgemeinen entschieden unterschätzt; man
hat sich gewöhnt, dieselben unter die sogen. „dunkeln Empfin-
dungen“ zu rechnen, welche: keine klarer assozuerten Vorstellungen
zu erwecken vermögen. Das ist aber ein Irrtum, denn schon die
alltägliche Beobachtung lehrt, dass diese komplexen Sensationen
unter Umständen sehr deutliche kınästhetische Engramm-
sukzessionen?) hinterlassen, die — im Verein mit exterozeptiven
Sinneserfahrungen, aber nur mit diesen! — auch für die lokomoto-
rische Orientierung im Raume von der größten Bedeutung sind.
Jeder weiß z. B. aus eigener Erfahrung, wie sicher man im Dunkeln
die nötigen Drehungen und Wendungen ausführt, um, sagen wir,
vom Bette zum Waschtisch oder zur Zimmertür zu gelangen, Aber
hier hat uns der Tastsınn zuvor über die relative Lage des Bettes
belehrt und von diesen exterozeptiven Anhaltspunkten aus können
wir dann getrost die gewohnte kinästhetische Reise ins Dunkle an-
treten, die uns im fremden Hotelzimmer natürlich an ganz verkehrte
Orte hinbefördern würde. — Noch viel feiner sind die kinästhetischen
Engrammsukzessionen bekanntlich bei den Blinden entwickelt; sie
bilden hier wohl den wesentlichsten Inhalt des Engrammschatzes,
welcher diesen Leuten ihre oft so staunenswerte Sicherheit in den
ihnen bekannten Räumen, ja selbst in den Straßen ihrer Heimat-
stadt verleiht.
II. Während die propriozeptive Orientierung sich nur auf die
Lage und Bewegung des Körpers ın einem sozusagen „absoluten“
Raume bezieht, orientieren die exterozeptiven Sinne den Organis-
mus relationell, d. h. sie setzen ıhn in Beziehung zu ganz be-
stimmten Punkten ın der Außenwelt. Die notwendige Voraus-
setzung hierzu ist natürlich eine mehr oder minder scharfe sinn-
liche Lokalisation der betreffenden Reize, oder mit anderen
Worten: Die Ausstattung der betreffenden Sinne mit Ortszeichen.
Sich im Raum exterozeptiv orientieren heisst also: Ex-
terozeptive Reize auf den rezipierenden Sinnesflächen
scharf lokalisieren.
Ein Beispiel wird Ihnen dies klar machen: Beim Menschen kommt
der Geruchssinn für eine exaktere räumliche Orientierung nur deshalb
nicht in Betracht, weil die rezipierende Sinnesfläche — die Riech-
schleimhaut — tief ım Inneren des Schädels versteckt liegt und
daher die von den verschiedenen Gegenständen ausgehenden Ge-
4) Ich bediene mich im folgenden (wie schon in früheren Arbeiten) zur Bezeich-
nung mnemischer Vorgänge im wesentlichen der einfachen und klaren Terminologie
von R. Semon (Die Mneme, 2. Aufl., Leipzig 1908).
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 195
ruchsemanationen nicht räumlich getrennt, sondern in diffuser
Mischung empfängt. Anders bei den Ameisen: Hier sind die
Geruchssensillen oberflächlich an symmetrischen und äußerst be-
weglichen Organen, den Fühlern, angebracht und mit diesen ihren
„beweglichen Nasen* (wie Forel sich treffend ausdrückt) pflegen
die Ameisen außerdem fortgesetzt alle Objekte, die sie beriechen
wollen, ın allen Ebenen des Raumes abzutasten. Der Geruchssinn
der Ameisen ist also ein Kontaktgeruchssinn, ein relationeller
„topochemischer Sinn“ (Forel), welcher seinen Trägern ganz
exakte olfaktorısche Raumempfindungen (und event. olfak-
torısche Raumvorstellungen) vermitteln muss. —
Die exterozeptive Orientierung fängt nicht erst bei der Loko-
motion an, sondern sie erstreckt sich zunächst auch
1. auf den eigenen Körper und dessen nächste Umgebung.
Sie kann hier eine reflektorische oder eine spontane sein.
a) Zu den exterozeptiven Orientierungsreflexen ge-
hören alle diejenigen reflektorischen Antwortbewegungen, welche
mit Ortszeichen versehen sind, d. h. deutlich nach der gereizten
Stelle hinzielen. Unter den spinalen Orientierungsreflexen dieser
Kategorie sind der Wischreflex des dekapitierten Frosches (bei Be-
tupfen des anderen Beines mit Säure) und der Kratzreflex des
Rückenmarkshundes (Sherrington) schöne, jedem Physiologen be-
kannte Beispiele. Von den kortikalen Reflexen gehören hierher
der Plantarreflex des Fußes, die Seh- und die Hörreflexe (Augen-
einstellung nach dem optischen Reiz, Kopf- und Blickwendung nach
der Schallquelle).
b) Die höchste Stufe der orientierten Gliedbewegungen bilden
die spontanen Zielbewegungen, das Greifen, Zeigen, Abtasten
mit den Fingern, das Fixieren mit den Augen u.a. m.
2. Mit dem Auftreten der spontanen Lokomotion nimmt
die Orientierung im Raum wesentlich andere Formen an. Sie wird
zur lokomotorischen Fernorientierung, welche nicht mehr
allein auf die Befriedigung unmittelbarster Bedürfnisse des nächsten
Raumes hinzielt, sondern zum Teil auf entferntere biologische Ziele
gerichtet ist: Aufsuchung des andern Geschlechts, Herbeischaffung
von Nahrung und Baumaterial zum Nest — oft aus weiter Ferne,
endlich Nestwechsel, Raub- und Kriegszüge aller Art mit voraus-
gehenden Erkundungsreisen einzelner: Eine ganze biologische Welt.
Während eine reflektorische Gliedorientierung gewöhnlich durch
jeden beliebigen (genügend kräftigen) Reiz der betreffenden Sinnes-
qualität ausgelöst werden kann (z. B. eine Augeneinstellungsbewegung
durch jeden beliebigen optischen Reiz), so ist für die orientierte
Lokomotion charakteristisch, dass es hier selbst in den aller-
primitivsten Fällen nur ganz bestimmte, nach Quantität und Qualität
spezifische Reize sind, auf welche der Organısmus mit einer
13*
196 Brun, Das ÖOrientierungsproblem im allgemeinen etc.
nach Vorzeichen?) und Richtung meist ebenfalls spezifischen Orien-
tierung antwortet. Ein so spezialisierter Prozess hat nun offenbar
mit primärer Reizbeantwortung schon nichts mehr zu tun, er setzt
vielmehr unbedingt noch das Dazwischentreten eines weiteren,
mnemischen Faktors voraus. Nach der Natur dieses mnemischen
Prozesses, wie er sich, Hand ın Hand mit der fortschreitenden
Ausbildung besonderer Reizleitungs- und Reizspeicherungsapparate,
im Laufe der Phylogenie allmählich differenzierte, kann man nun
bei der lokomotorischen Fernorientierung wiederum zwei Haupt-
formen unterscheiden: Eine mehr primitive, die unmittelbare oder
direkte Orientierung, und eine höhere Stufe, die mittelbare oder
indirekte Orientierung.
a) Eine unmittelbare oder direkte Orientierung liegt
dann vor, wenn das Endziel der Lokomotion als aktueller Reiz
direkt sinnlich wahrgenommen wird.
Entspricht einem spezifischen Fernreiz ein vorgebildeter
Mechanismus, der ım ÖOrganısmus gleichsam ab ovo für ıhn
bereitlag, so ist die resultierende Orientierung als Ekphorie eines
erblichen Engrammkomplexes zu betrachten und zwar kann
es sich da wieder entweder um einen Tropismus, oder um einen
Reflexautomatismus, oder endlich um einen Instinktautomatismus
handeln.
Wenn eine direkte Orientierung unabänderlich ın der Einfalls-
achse des Reizes erfolgt, so ist man berechtigt, von einem Tropis-
mus (Loeb, Verworn) zu sprechen. Doch sollte m. E. diese
Bezeichnung ausschließlich auf die entsprechenden einfachen Reiz-
beantwortungen niederster Organismen, bei denen weder spezifische
Sinnesorgane noch ein zentrales Nervensystem ausgebildet sind,
beschränkt bleiben®). Bei den höheren Tieren, wo diese Apparate
vorhanden sind, bringt der „tropische Reiz“ gewöhnlich einen kom-
plizierteren vorgebildeten Automatismus zur Auslösung, nämlich
einen Reflex-, bezw. einen Instinktautomatismus.
Eine reflektorische Fernorientierung darf nur dann an-
genommen werden, wenn eine zwangsmäßig erfolgende Lokomotion
zeitlich streng an die Fortdauer des adäquaten richtunggebenden
Reizes gebunden ist und bei Erlöschen dieses Reizes sofort eben-
falls aufhört. Ein Frosch z. B. kriecht und springt nur so lange
nach der Fliege, als diese sich bewegt; sobald sie stillsitzt, erlischt
5) Nach der Reizquelle hin oder von ihr weg.
6) Vollends als Missbrauch ist es zu bezeichnen, wenn Szymanski (Arch.
f. d. ges. Physiologie 138. 1911) neuerdings sogar den Begriff des „Mnemo-
tropismus“ aufstellt und darunter solche Fälle versteht, wo eine bestimmte Rich-
tung unter dem Einfluss einer mnemischen Erregung (z. B. bei Ameisen in-
folge der Erinnerung an eine vorher stattgehabte Winkelabweichung, zu der man
sie gezwungen hatte) eingeschlagen wird. „Tropisch“ im eigentlichen Sinne des
Wortes können unter allen Umständen nur aktuelle (originale) Reize wirken.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 197
das Interesse des Amphibiums an dem soeben noch anscheinend
heiß begehrten Nahrungsobjekt. Wir können solche reflektorischen
Fernorientierungen als einphasige Bewegungskomplexe be-
zeichnen, weil hier der hereditäre Engrammkomplex sich in der
einen Phase der orientierten Lokomotion vollständig erschöpft.
Anders beim Instinktautomatismus. Hier ekphoriert der
primäre Richtungsreiz einen bereits hochdifferenzierten, mehr-
phasigen hereditären Engrammkomplex, der sich, einmal angetönt,
durch alle seine Phasen in ziemlich autonomer Weise, d.h. unab-
hängig von der Fortdauer des prımär auslösenden Reizes,
wie eine willkürliche Handlung, abwickeln kann. Das hängt mit
zwei Eigentümlichkeiten solcher mehrphasiger hereditärer Komplexe
(= Instinkte) zusammen: Einmal damit, dass sie aus einer Reihe
sukzessiv assoziierter Einzelengrammkomplexe (zeitlicher Phasen)
zusammengesetzt sind, welche durch sogen. „phasogene Ek-
phorie“* manifest werden können, indem die durch den Ablauf
jeder Phase jeweilen neu entstandene energetische Situation an
sich wiederum als „adäquater Reiz“ ekphorisch auf die nächst-
folgende Phase wirkt”). Zweitens besitzen aber die meisten In-
stinkte auch eine gewisse Plastizität (individuelle Anpassungs-
fähigkeit), die sich darin äußert, dass sie sich mit plastischen En-
grammen, d. h. solchen, welche erst während ihres Ablaufs neu
erworben wurden, assoziieren und so gewisse Veränderungen (Kor-
rekturen, Ergänzungen, Hemmungen) ihres Ablaufs erleiden können.
Ein Beispiel möge das veranschaulichen. Es gibt Nachtschmetter-
linge, welche den Duft ihrer Weibchen auf kilometerweite Ent-
fernung zu wittern imstande sind. Sobald ein solcher Schmetter-
ling diesen spezifischen Duft rezipiert, wird er sich nach derjenigen
Richtung in Bewegung setzen, nach welcher der Reiz zunimmt.
Angenommen nun, ein Windstoß verwehe auf einige Minuten diese
äußerst feine Emanation. Wird das Männchen seinen Flug unter-
brechen? Keineswegs! Denn da die hereditäre Engrammsukzession
(in unserm Falle die verschiedenen Phasen des Sexualınstinkts)
noch nicht durchlaufen ist, sondern sich vielmehr erst in ihrer
ersten oder Orientierungsphase befindet, so dauert die entsprechende
mnemische Erregung fort. Da aber anderseits der tropische Original-
reiz, welcher den Ablauf dieser Phase realisierte, verschwunden
ist, so kann der Flug des Männchens jetzt natürlich nicht mehr
orientiert sein, sondern wird einen unruhig hin- und herpendelnden
Charakter annehmen: Das Tier „sucht“ gleichsam den verloren ge-
gangenen Reiz°).
7) Das bedingt zugleich einen gewissen Zwang, die einmal begonnene Suk-
zession unter allen Umständen zum Ende zu führen: Die mnemische Erregung
dauert während des ganzen Ablaufs an.
8) Diese instinktive Unruhe wird regelmäßig beobachtet, wenn man den Ab-
lauf einer hereditären Engrammsukzession plötzlich dadurch unterbricht, dass man
198 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
Es besteht aber noch eine zweite Möglichkeit: Das Tier hatte
vielleicht während seines ziemlich geradlinigen Fluges nach der Duft-
quelle zugleich konstant das Bild des Mondes in den vorderen Ab-
schnitten seiner Fazettenaugen wahrgenommen und diesen aktuellen,
einer ganz andern Sinnessphäre angehörenden Reizkomplex sekun-
där mit der Richtung seines Fluges assozuert. Dann könnte dieser
sekundär erworbene plastische Richtungsengrammkomplex nach
Verschwinden des primär tropischen Reizes offenbar vikariierend
an dessen Stelle treten und so die bisherige Orientierung wenig-
stens noch eine Zeitlang aufrecht erhalten: Die ursprünglich direkte
Orientierung ist sekundär zur indirekten geworden. Ähnliche Mecha-
nismen, wie der eben angedeutete, sind bei Ameisen tatsächlich
wiederholt nachgewiesen worden. —
Bei den bis jetzt genannten Formen der direkten Orientierung
reicht, wie wir sahen, dıe erbliche Mneme wenigstens zur Erzeugung
des Initialphänomens vollkommen aus. Es gibt nun aber selbst-
verständlich auch eine direkte Orientierung, welche auf Ek-
phorie individuell erworbener plastischer Engramme be-
ruht. Die Reizkomplexe, welche diese Ekphorie bewirken, treffen
im Organismus nicht eimen eigens für sie vorgebildeten primären
Mechanismus, sondern verdanken ıhre sekundär-tropische Kraft
lediglich dem Umstande, dass ihre erste Einwirkung seinerzeit von
einer direkten sinnlichen Anziehung oder Abstoßung gefolgt war.
Es erfolgt dann bei jeder späteren Wiederkehr einer ähnlichen
(oder auch nur scheinbar ähnlichen) Situation prompt die nämliche
Reaktion, infolge einer „Ähnlichkeitsassoziation“ oder eines „ein-
fachen Analogieschlusses“. Ein Beispiel:
Forel’) reichte Bienen Honig auf künstlichen verschiedenfarbigen Blumen
aus Papiermache. Nachdem die Bienen den Vorrat durch Zufall entdeckt hatten,
stürzten sie sich gierig auf sämtliche Artefakte und kehrten erst dann wieder zu
den natürlichen Blumen zurück, nachdem das letzte Honigtröpflein aufgeleckt war.
Nach einiger Zeit legte Forel in die Nähe des Blumenbeetes. auf dem die Bienen
weideten, zwei einfache Stücke roten und weißen Papiers, aber ohne diesmal Honig
darauf zu tun. Trotzdem stürzten sich alle Bienen sofort wieder auch auf diese
neuen Attrappen, untersuchten sie peinlich genau und ließen erst dann wieder von
denselben ab, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass wirklich kein Honig darauf
sei. Bienen, welche jene günstige Erfahrung eines Honigfundes auf Papier früher
nie gemacht hätten, wären nie dazu gekommen, irgendwelchen farbigen Papier-
stückchen auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken!
b) Die höchste Stufe der lokomotorischen Orientierungsfähig-
keit ıst in der mittelbaren oder indirekten Orientierung
den aktuellen Reiz, welcher die betreffende Phase realisierte, eliminiert. Ich habe
die Erscheinung, in Ermangelung eines schöneren griechischen Wortes, als „Reiz-
suchung“ bezeichnet. Dieselbe ist also für das Vorhandensein einer mne-
mischen Erregung charakteristisch. Das Phänomen wurde u. a. auch von
Bethe ganz richtig beobachtet, von ihm aber fälschlich als ‚Suchreflex“ bezeichnet.
9) Forel, A., Das Sınnesleben der Insekten. — Reinhardt, München 1910.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 199
erreicht. Was wir unter einer solchen zu verstehen haben, ist nach
allem früher Gesagten ohne weiteres ersichtlich: Im Gegensatze
zur direkten Orientierung ist hier das Endziel der Lokomotion nicht
mehr sinnlich, als direkter tropischer Reiz gegeben, sondern im
„Sensorium“ des Tieres lediglich als Engramm vertreten. Die Ek-
phorie dieses Zielengramms veranlasst zwar die Lokomotion
als solche, d. h. sie bildet den inneren Antrieb zu derselben und
begleitet sie als mnemische Erregung während ihrer ganzen Dauer,
doch sagt es natürlich an sich gar nichts aus über die reelle räum-
liche Lage des Zieles und somit auch nichts über die zur Er-
reichung dieses Zieles einzuschlagende Richtung. Die Richtung
der Lokomotion, mit anderen Worten die eigentliche Orien-
tierung (bei der Realisation) wird hier vielmehr mittelbar be-
stimmt, durch sekundäre intermediäre Komplexe, welche mit
dem Reizkomplex des Ausgangspunktes einerseits, mit dem des
Zieles andererseits assoziativ verknüpft sind und zwar, sofern es
mehrere sind, durch kontinuierliche sukzessive Assoziation !%). Jeder
dieser intermediären Reizkomplexe hinterließ bei seiner ersten Ein-
wirkung einen entsprechenden Engrammkomplex und die gesamte
Reihe dieser letzteren vom Ausgangspunkt bis zum Ziele bildet so-
mit einen sukzessiv assoziierten Engrammkomplex. Der Vorgang
der indirekten Orientierung besteht nun darin, dass jeder dieser
intermediären Komplexe bei seiner aktuellen Wiederkehr zunächst
das ıhm entsprechende Engramm zur Ekphorie bringt. Die bei
diesem inneren Vorgang auftretende mnemische Erregung wird als
mehr oder minder übereinstimmend mit der betreffenden (sekun-
dären) Originalerregung empfunden; es findet somit eine Deck-
empfindung (ein „Gleichklang“) zwischen beiden statt, die wir mit
Semon als identifizierende mnemische Homophonie be-
zeichnen; oder vulgärpsychologisch als „Wiedererkennung*“.
Zweitens wirkt aber diese mnemische Erregung ihrerseits auch
wieder ekphorisch auf das nächstfolgende Engramm der inter-
mediären Reihe und erzeugt den Trieb, den diesem zweiten En-
grammkomplex homophonen Reizkomplex mit den Sinnen aufzu-
suchen: Es kommt zu jener Erscheinung, die wir bereits im vor-
hergehenden Abschnitt als „Phänomen der Reıizsuchung“ kennen
gelernt haben.
10) Die sukzessive Assoziation einer Reihe aufeinanderfolgender En-
grammkomplexe kommt nach Semon bekanntlich dadurch zustande, dass die auf-
einanderfolgenden einzelnen Originalerregungen vermittelst ihrer sogen. „akoluten
Phasen“ (Abklingungsphasen) kontinuierlich ineinander überfließen, derart, dass
der Beginn jeder nächstfolgenden Erregung zeitlich noch mit dem Abklingen der
vorausgegangenen Erregung zusammenfällt, also mit ihr „akolut-synchron“
ist. Zeitlich weiter auseinanderliegende Originalerregungen können sich somit nicht
zu einem sukzessiven Engrammkomplex assoziieren.
200 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
In dieser Weise wird der gesamte intermediäre Komplex vom
Ausgangspunkt bis zum Ziele sukzessive wieder abgewickelt, wobei
natürlich dieser mnemische Ablauf in der ursprünglichen Reihenfolge
stattfinden muss bei einfacher Wiederholung eines „Hinweges“
(Reiteration), dagegen in der umgekehrten Folge, sofern es sich
um einen Rückweg handelt (sukzessive Reversion).
Die Rückkehr von einer indirekten Fernreise wäre also dem-
nach ım Prinzip stets eine sukzessive Reversion des Hinweges
(„Loi du econtre-pied“ von Reynaud!!)). Die theoretische Be-
gründung dieses — vom rein logischen Standpunkt aus eigentlich
selbstverständlichen — Mechanismus begegnet aber, namentlich mit
Bezug auf die Rückkehr von einer Erstreise, doch gewissen
Schwierigkeiten: Nach Semon ist nämlich der mnemische Ablauf
sukzessiv assoziierter Engrammkomplexe bekanntlich ein „polar
ungleichwertiger“, indem sukzessiv erzeugte Engramme weit stärker
in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufeinander ekphorisch wirken
als umgekehrt. So wırd z. B. eine in der umgekehrten Tonfolge
(nach rückwärts) gesungene Melodie niemals erkannt und ebenso
macht eine bekannte optische Sukzession (z. B. die Bewegungsfolge
irgendeiner ganz alltäglichen Handlung) einen ganz bizarren Ein-
druck, wenn sie im Kinematographen nach rückwärts abgewickelt
wird. Demnach müsste also auch die Rückkehr von einer einiger-
maßen ausgedehnten Erstreise zum mindesten eine sehr unsichere,
wenn nicht unmögliche Sache sein, da eben die beim Hinweg suk-
zessiv angetroffenen optischen Komplexe ın der umgekehrten Reihen-
folge nicht richtig „assoziiert“ werden können. Allein in Wirklich-
keit wird eine solche Erstreise niemals auf größere Entfernungen
ausgedehnt, vielmehr lernen die jungen Tiere die Umgebung ihres
Nestes nur ganz allmählich auf sukzessive immer weiter ausge-
dehnten „Orientierungsreisen“ kennen, wobei jede folgende Reise
den bei der letzten Reise erreichten Endpunkt zu ihrem Ausgangs-
punkt nımmt!?). Der Endpunkt «a der ersten Reise ist sozusagen
noch in Sehweite des Nestes gelegen, er wird daher mit dem Kom-
plex Nest noch akolut-synchron assozuert und die erste Rückkehr
11) Reynaud, Theorie de l’instinet d’orientation, ©. R. Acad. Sc. 125, 1897.
— ND’orientation chez les oiseaux, Bull. Inst. gen. Psychol. I, 1902. — Bonnier
(Revue scientif. 1598) und Pi@ron (Bull. Inst. gen. Psychol. 1904) führten die Er-
scheinung auf den „Muskelsinn“ zurück, d. h. sie stellten sich vor, dass die Tiere
beim Rückweg eine minutiöse sukzessive Reversion sämtlicher beim Hinweg evol-
vierter kinetischer Figuren ausführen.
12) Dieser Modus ist durch Hachet-Souplet (Annales de Psychol. Zool.
V, 1902) bei Brieftauben, durch v. Buttel-Reepen (Biol. Centralbl. 1900) bei
jienen, durch Bates (The Naturalist on the River Amazone, London 1873) und
C. und E. Peckham (Wisconsin Nat. Hist. 1893) bei anderen fliegenden Hyme-
nopteren, durch Ernst (Arch. f. d. ges. Psychol. 1910 und 1914) und mich (l. e.)
bei Ameisen übereinstimmend nachgewiesen worden.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 201
ist nicht eine sukzessive, sondern eine simultane Reversion des
akolut-synchronen Engrammkomplexes a—-N. Der nämliche Vor-
gang wiederholt sich bei der zweiten Reise (von a aus) hinsichtlich
des Komplexes b und so fort, bis schließlich eine ausgedehnte,
durch zahlreiche Intermediärkomplexe a—x vermittelte Fernreise
entsteht. Die sukzessiv assoziierten Intermediärkomplexe
einer ausgedehnten indirekten Fernreise sind also im
wesentlichen nichts anderes als die ursprünglichen End-
etappen der früheren Teilreisen und die indirekte Orien-
tierung auf Grund sukzessiv assoziierter Engramm-
komplexe kann in der Weise aus der direkten Orien-
tierung abgeleitet werden, dass man sie auffasst als eine
etappenweise fortschreitende Serie direkter ÖOrien-
tierungen auf diese Intermediärkomplexe, als die ur-
sprünglichen direkten Ziele’), Und die Rückkehr von
einer solchen etappenweisen Fernreise ist in Wirklich-
keit weniger eine unmittelbare Reversion des gesamten
sukzessiven Engrammkomplexes, als eine Reiteration
einer zweiten, in der umgekehrten Richtung ablaufenden
Sukzession, welche ebenso etappenweise wie dieHinweg-
Sukzession und unabhängig von derselben ım Laufe der
wiederholten Rückwege erworben wurde.
Wir gingen bisher von der stillschweigenden Voraussetzung
aus, dass die indirekte Fernorientierung stets durch mehrere oder
zahlreiche verschiedene Intermediärkomplexe vermittelt werde. Das
trifft aber in Wirklichkeit nur in einer sehr beschränkten Zahl von
Fällen zu, für welche ich allein den Namen des echten, asso-
zıativen Ortsgedächtnisses reservieren möchte. Unter einem
echten Ortsgedächtnis wäre also — um eine exakte Definition des-
selben zu geben — nur diejenige höchste Stufe der indirekten Orien-
tierungsfähigkeit zu verstehen, welche auf dem Vorhandensein einer
Sukzession zahlreicher qualitativ verschiedener („differenzierter“)
Ortsengramme beruht. Der Typus eines solchen Ortsgedächtnisses
ist die Orientierung des Menschen in den Straßen einer bekannten
Stadt, nach den zu beiden Seiten sukzessive angetroffenen optischen
Engrammen der verschiedenen Gebäudekomplexe, verbunden mit
den kinästhetischen Engrammkomplexen eines Abzweigens bald
nach links, bald nach rechts, u. s. w. Es ıst klar (und damit haben
wir eine letzte Eigentümlichkeit dieser differenzierten indirekten
Orientierung erwähnt), dass bei einem solchen Orientierungsmodus
die relative Richtung der Orientierung (relativ zum Aus-
13) Nur mit Hilfe dieser Annahme ist es auch zu erklären, wie diese schein-
bar ganz zufällig gewählten Intermediärkomplexe, die ja an sich gar nichts mit dem
Endziel der Reise zu tun haben, überhaupt dazu kommen, als „Anhaltspunkte“ (zur
Agnostizierung des Weges bis zu diesem Ziele) zu dienen.
202 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen ete.
gangspunkt oder zum Ziele) unter allen Umständen un-
mittelbar eindeutig bestimmt wird durch die zeitliche
Folge der verschiedenen Engrammkomplexe, d. h. durch
ihre Ablaufsrichtung. —
In zahlreichen einfacheren Fällen genügt aber schon ein ein-
ziges intermediäres Richtungszeichen, um die indirekte Orientierung
zu ermöglichen, nämlich dann, wenn dieses Richtungszeichen die
gesamte Strecke vom Ausgangspunkt bis zum Ziele als stabiler
Komplex begleitet. Das ist z. B. der Fall bei einer Ameisenstraße,
die von dem am Fuße einer Mauer gelegenen Nest N dieser Mauer
entlang zu einem Blattlausstrauche 1 führt (Fig. 1).
Fig. 1.
Es ist klar, dass ein so beschaffener gleichförmiger Komplex
nur in globo, in einer zeitlichen Phase engraphiert wird; er hinter-
lässt einen einphasigen (globalen) Engrammkomplex, zum
Unterschied von den mehrphasigen (differenzierten) Komplexen, auf
denen das echte, sukzessiv assozierte Ortsgedächtnis beruht.
In dem soeben angeführten Beispiel wird die globale Orien-
tierung durch die Mauer gleichsam kanalısiert; wir können deshalb
diese Form füglıch als kanalisierte Orientierung bezeichnen.
In diese Kategorie gehören offenbar alle Fälle, bei denen sich die
Orientierung auf räumlich vorgezeichneter Bahn bewegt, sei
es, dass wirkliche gebahnte Straßen oder räumliche Wegmarken
aller Art: Fußspuren, Geruchsfährten, bestimmte topographische
Linien, wie Mauern, Flussufer o. dgl. als orientierendes Merkmal
benutzt werden. Das Gemeinsame aller dieser Fälle liegt darin,
dass hier der orientierende globale Reizkomplex in unmittelbarer
Nähe der rezipierenden Sinnesflächen (Augen, Geruchs- und Tast-
organe) gelegen ist, so dass schon eine geringe seitliche Abweichung
das Tier außerhalb des Wirkungsbereiches der betreffenden Reiz-
quelle bringt und es daher notwendigerweise vollständig desorien-
tieren muss.
Ganz anders verhält sich die Sache in denjenigen Fällen, wo
die Quelle des globalen Orientierungsreizes sich ın relativ unend-
licher Entfernung von den aufnehmenden Sınnesflächen befindet.
Typische Beispiele hierfür sind die Orientierung nach den magne-
tischen Polen (d.h. nach dem Kompass) und nach einer entfernten
Lichtquelle, z. B. nach der Sonne. Die relativ unendliche Ent-
fernung dieser Reizquellen bedingt einerseits eine ÜUbiquität der
von ihnen ausgehenden Reizwellen und anderseits, dass diese letz-
teren innerhalb sehr weiter (praktisch unendlich weiter) Grenzen
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 203
u
in allen von ihnen getroffenen Punkten parallel einfallen. Infolge-
dessen wird hier selbst eine sehr bedeutende seitliche Abweichung
(z. B. experimentell vermittelst seitlichen Transportes des Tieres)
an der absoluten Richtung der Orientierung offenbar gar nichts
ändern: Das Tier (oder, bei der Kompassorientierung: das Schiff)
wird seinen bisherigen Kurs beibehalten; es wird mit anderen Worten
eine Scheinorientierung oder virtuelle Orientierung
(Santschi)'*) ausführen, deren absolute Richtung der früher einge-
haltenen genau parallel sein wird und die daher wohl sehr exakt
ist hinsichtlich der räumlichen Lage der benutzten intermediären
Orientierungsquelle, nicht aber mit Bezug auf das erstrebte reelle
Ziel. Daraus folgt, dass eine solche „freie“ Orientierung (im
Gegensatz zur eben besprochenen kanalisierten Orientierung) nur
so lange eine reelle sein wird (mit Bezug auf ein bestimmtes Ziel
in der Außenwelt), als die räumlich-kinetische Kontinuität der Reise
streng gewahrt bleibt. —
Noch auf eine letzte wichtige Erscheinung möchte ich hier auf-
merksam machen. Wir haben gesehen, dass bei der indirekten
Orientierung auf Grund mehrphasiger (differenzierter) Komplexe
die relative Richtung eindeutig aus der zeitlichen Reihen-
folge der verschiedenen Intermediärkomplexe hervorgeht. Bei der
einphasigen, globalen Orientierung kann dies natürlich schon des-
halb nicht der Fall sein, weil hier ja entweder nur ein einziger
globaler Komplex vorhanden ist, oder, falls eine Sukzession besteht
(wie z. B. bei einer kontinuierlichen Fußspur), die sich folgenden
Einzelkomplexe vollkommen gleichförmig beschaffen sind. Wenn
nun trotzdem auch hier die relative Richtung der Fortbewegung in
den meisten Fällen unmittelbar eindeutig bestimmt erscheint (man
denke wieder an das Beispiel der Fußspurfährte!), so kann dies
nur auf der räumlichen Anordnung der betreffenden Komplexe
beruhen, oder, physiologisch ausgedrückt: auf der Art ihrer sinn-
lichen Lokalisation. Und in der Tat finden wir in allen Fällen,
wo ein glohaler Komplex eine eindeutige relative Richtungsangabe
vermittelt, dass die betreffenden Reize asymmetrisch auf
scharf umschriebenen Sinnesflächen lokalisiert sind und
daher bei der Rückkehr eine sinnliche Reversion auf die
korrespondierenden, bezw. diametral symmetrischen
Sinnesflächen der anderen Seite erfahren. Überall dort
dagegen, wo dies nicht der Fall ist — so vor allem bei diffuser
oder bilateral-symmetrischer Lokalisation — erscheint die globale
Orientierung mit Bezug auf ihre relative Richtung im Prinzip zwei-
deutig determiniert (Gesetz der sinnlichen Reversion). So
14) Santschi, F., Comment s’orientent les Fourmis. — Revue Suisse de
Zoologie 21, 1913.
204 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
sind in unserem ersten Beispiel von der eine Mauer flankierenden
Ameisenstraße (Fig. 1 S. 202) die beiden Richtungen dieser Straße
— nach den Blattläusen, nach dem Nest — an jedem Punkte ein-
deutig bestimmt infolge der asymmetrischen Lokalisation des ein-
phasigen Orientierungskomplexes der Mauer. Alle vom Nest nach
den Blattläusen wandernden Ameisen fühlen nämlich diese Mauer
mit dem rechten Fühler und sehen sie mit dem rechten Fazetten-
auge; bei der Rückkehr dagegen nehmen sie den Komplex mit den
entsprechenden Sinnesflächen der anderen Körperseite wahr. Falls
sie nun diese konstanten asymmetrischen Lokalisationen mit den
entsprechenden Zielengrammen assoziieren, so werden sie offenbar
jederzeit wissen, ın welcher der beiden Richtungen das Nest, in
welcher der Blattlausstrauch liegt. Nun nehmen Sie aber an, die
Ameisenstraße verlaufe wie ein Hohlweg zwischen zwei ganz
gleichen Mauern. Dann empfangen die links- und rechtsseitigen
Sinnesorgane genau identische und symmetrische Eindrücke, welche
eine sinnliche Reversion im obigen Sinne nicht zulassen. Würde
man also eine Ameise von einer solchen Straße abfangen und
nach einiger Zeit wieder zurückversetzen, so wäre sie zweifellos
unfähig, auf Grund dieser symmetrischen globalen Komplexe zu
entscheiden, in welcher Richtung das Nest und in welcher der
Blattlausstrauch liegt und wäre somit genötigt, irgendeine der beiden
Strecken aufs Geratewohl zu verfolgen, um erst am Ende des Kom-
plexes zu erkennen, ob sie zufällig richtig oder falsch gegangen
ist. — Genau das gleiche Prinzip gilt mutatis mutandis auch für
alle übrigen einphasigen Orientierungskomplexe, kanalisierende wie
freie: Eine Orientierung nach dem Kompass, nach einer entfernten
Lichtquelle wird hinsichtlich ihrer relativen Richtungen immer ein-
deutig bestimmt sein; wären dagegen zwei genau symmetrisch
lokalisierte Lichtquellen vorhanden oder würden auf dem Kompass
die Bezeichnungen für die Himmelsgegenden N—S fehlen, so wäre
die Orientierung lediglich hinsichtlich ihrer absoluten Richtungs-
achse bestimmt. Eine Fußspur oder eine Wegmarkierung durch
rote Pfeile stellt einen Orientierungskomplex dar, dessen einzelne
Richtungszeichen sinnlich polarisiert sind; würde die Weg-
markierung einfach aus gleichartigen roten Strichen, statt Pfeilen
bestehen, so wäre sie hinsichtlich der relativen Richtungsanzeige
offenbar wertlos. Ebenso könnte eine vollkommen homogene Ge-
ruchsspur, deren kleinste chemische Teilchen auf jeder Teilstrecke
qualitativ und quantitativ gleichartig wären’), niemals eine rela-
tive Richtungsanzeige vermitteln. —
Zum Schluss noch einige allgemeine Bemerkungen über den
15) Wir werden später sehen, dass dies bei den Geruchsfährten der Ameisen
nur für gewisse Fälle zutrifft.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 205
mnemischen Mechanismus und die biologische Bedeutung der indi-
rekten Orientierung.
Was zunächst die Natur des Engrammschatzes anbetrifft, auf
dem sich die indirekte Orientierung aufbaut, so dürfte klar sein,
dass derselbe im wesentlichen der im individuellen Leben er-
worbenen (plastisch-assoziativen) Mneme angehören muss.
Für die mehrphasige Orientierung (differenziertes Ortsgedächtnis)
ist dies eigentlich selbstverständlich, indem der Standort des Nestes,
in dem die verschiedenen Generationen zur Welt kommen, doch
innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte fortwährendem Wechsel
unterworfen ist. Aber auch von den einphasigen Intermediär-
komplexen muss für gewöhnlich von jedem Individuum — oft sogar
für jede einzelne Reise!®) — ein mit Bezug auf seine jeweilige sinn-
liche Lokalisation besonderes Engramm erworben werden, —
wennschon natürlich die Disposition, sich vorzugsweise nach
diesen oder jenen globalen Intermediärkomplexen (z. B. nach der
Sonne) zu orientieren, als solche eine hereditär fixierte sein kann.
Das letztere gilt auch für die Ekphorie des „Zielengramms“: Es
wäre z. B. denkbar, dass sowohl das Zielengramm „Nest“ als das-
jenige gewisser Nahrungsquellen, wie Blattläuse, bei Wiederkehr
bestimmter Situationen primär-instinktiv zur Ekphorie gelangen
würde.
Die biologische Bedeutung der indirekten Orien-
tierungsfähigkeit liegt auf der Hand: Beı Tieren, die ohne
festen Wohnsitz frei herumschweifen, reicht die direkte Orientierung
natürlich zur Bestreitung aller Lebensbedürfnisse vollkommen aus.
Anders bei den nestbauenden, und ganz besonders bei den
sozialen Tieren; da wird die indirekte Orientierungsfähigkeit,
infolge der Notwendigkeit, von allen Streifzügen immer wieder zu
einem bestimmten Wohnsitz zurückzukehren, zur notwendigen
Existenzbedingung. Sie ist denn auch hier, wenn auch viel-
fach erst in ihren primitiveren Formen, wohl überall ohne Aus-
nahme nachweisbar.
Natürlich erfordert die Leistung einer indirekten Orientierung
auf Grund individuell erworbener Engrammassoziationen weit mehr
Hirnsubstanz, oder — physiologisch ausgedrückt -—— das Vorhanden-
sein von weit komplizierteren Erregungsbögen, als die Abwicklung
einer auf festgefügten hereditären Mechanismen beruhenden direkten
Orientierung, wie ja überhaupt selbst die kompliziertesten Instinkte
mit einem viel geringeren Aufwand von Neuronkomplexen arbeiten,
als verhältnismäßig einfache plastische Leistungen. Doch darf auf
der andern Seite die bei der indirekten Fernorientierung jeweilen
aktuell geleistete Nervenarbeit auch nicht überschätzt werden; —
16) So z. B. bei der Orientierung nach der Sonne.
206 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen ete.
kann doch selbst eine so ungeheuer komplizierte Sukzession asso-
ziierter optischer, kinetischer und akustischer Engrammkomplexe,
wie der tägliche Gang ins Geschäft, ın einer Großstadt, nach häufiger
Wiederholung fast unbewusst sich abwickeln! Diese sekundäre
Automatisierung ursprünglich hochbewusster plastischer Engramm-
komplexe ist eine der interessantesten Erscheinungen auf dem Ge-
biete der Biologie der Mneme; sie beruht in erster Linie auf dem
Gesetz der Ekphorie, nach welcheın schon die partielle Wieder-
kehr eines kleinen Bruchteils desjenigen Erregungskomplexes,
welcher vormals engraphisch gewirkt hatte, genügt, um den ge-
samten sukzessiv assoziierten Engrammkomplex zu reaktivieren,
indem die sukzessive Ekphorie gleichsam „wie ım Lauffeuer“,
autonom sich von einem Engramm aufs andere ausbreitet.
Damit sind wir am Ende unserer theoretischen Betrachtungen
angelangt. Wenn dieselben vielleicht auch vielfach äußerlich einen
etwas abstrakt-philosophischen Charakter hatten, so sind sie doch
nichts weniger als sterile Spekulationen: Ich hoffe vielmehr, Sie im
zweiten, experimentellen Teil meines Vortrages hinlänglich davon
überzeugen zu können, dass alle die soeben erörterten psychobio-
logischen Mechanismen auch ın der Natur mit eben der strengen
Gesetzmäßigkeit sıch abspielen, wie wir sie hier zunächst rein theore-
tisch-logisch abgeleitet haben und dass die stete Vergegenwärtigung
dieser Gesetzmäßigkeiten auch für die fruchtbare experimentelle
Analyse der oft sehr verwickelten Einzelfälle von eminenter
praktischer Bedeutung ıst. Dabei ist aber allerdings nie zu
vergessen, dass die Natur auch hier meist mit mannigfachen Mitteln
arbeitet, indem bei der Fernorientierung nicht allein der höheren
Tiere, sondern auch der Ameisen, viele jener, aus Gründen der
Einfachheit für sich analysierten Mechanismen ständig in den mannig-
fachsten Kombinationen bald simultan, bald sukzessiv assozuert
zusammenwirken.
Biologische Einteilung der Orientierungsphänomene.
I. Propriozeptive (absolute) Orientierung.
1. Statisch-propriozeptive Orientierung.
a) Plasmostatische O. (axotropische Wachstumseinstel-
lungen).
b) Neurostatische ©. (statotonische Reflexapparate).
2. Dynamisch-propriozeptive (kinästhetische) Orientierung.
a) Passive Kinästhesie.
a) Passive Lageveränderungen der Körperachse: Vesti-
bularsınn.
P) Passive Lageveränderungen einzelner Glieder: Passiver
Lagesinn, insbesondere: Myostatischer Sinn.
Emery, Das Gesellschaftsleben der Ameisen etc, 207
b) Aktive Kinästhesie: Myodynamischer Sinn, Schwere-
und Kraftsinn (Barästhesie), Ermüdungssinn (sogen,
Strecken- oder Podometersinn).
II. Exterozeptive (relationelle) Orientierung.
1. Orientierungsbewegungen einzelner Gliedmafsen.
a) Exterozeptive Orientierungsreflexe.
b) Spontane Zielbewegungen.
2. Orientierte Lokomotion (Fernorientierung).
a) Unmittelbare (direkte) Fernorientierung.
a) Auf Grund hereditär-mnemischer Automatismen (Tro-
pismen, Reflex- und Instinktautomatismen).
ß) Auf Grund individuell erworbener (plastischer) En-
grammkomplexe.
b) Mittelbare (indirekte) Fernorientierung.
a) Vermittelst einphasiger (globaler) Intermediärkomplexe
(sinnlich reversible — irreversible),
kanalisierte Orientierung,
freie Orientierung.
ß) Vermittelst mehrphasiger (differenzierter) Intermediär-
komplexe (echtes Ortsgedächtnis). (Schluss folgt.)
E. Wasmann. Das Gesellschaftsleben der Ameisen.
Das Zusammenleben von Ameisen verschiedener Arten
und von Ameisen und Termiten. Gesammelte Beiträge
zur sozialen Symbiose bei den Ameisen.
Zweite, bedeutend vermehrte Auflage. — 1. Band. Mit 7 Tafeln und 16 Figuren
im Texte. — Aschendorff’sche Verlagsbuchhandlung, Münster (Westf.), 1915.
Das neue Buch Wasmann’s, dessen I. Band mir vorliegt, ist
zum großen Teil eine zweite, erweiterte Auflage verschiedener Ab-
handlungen des hochverdienten und unermüdlichen Forschers des
Lebens der Ameisen und ihrer Gäste. Er hat, wie er selbst ın dem
Vorwort schreibt, dieselben nicht zu einem neuen Buch etwa nach
Art von Wheeler’s Werk „Ants“ umarbeiten, sondern in ihrer
historischen Reihenfolge unter einem neuen Titel zusammenfassen
wollen.
„Der Plan des vorliegenden Werkes ist somit folgender: Wegen
seines 800 Druckseiten übersteigenden Umfangs musste es in zwei
Bände geteilt werden. Der vorliegende I. Band enthält den I. und
II. Teil, der im nächsten Jahre folgende II. Band wird den II.
und IV. Teil enthalten.“
„Der I. Teil ist die Neuauflage der ‚ZZusammengesetzten
Nester und gemischten Kolonien‘ von 1891. Auf besonderen
Wunsch mehrerer Fachkollegen wurden, um das Nachschlagen und
Zitieren zu erleichtern, die Seitenzahlen der ersten Auflage beibe-
halten. Die neuen Zusätze sind auf die allernotwendigsten Ergän-
208 Emery, Das Gesellschaftsleben der Ameisen ete.
zungen beschränkt, die in eckigen Klammern teils im Texte, teils
in den Anmerkungen beigefügt sind.“
„Der II. Teil ıst die zweite Auflage meiner 1901—1902 in der
‚Allgemeinen Zeitschrift für Entomologie‘ erschienenen Abhandlungs-
serie ‚Neues über die zusammengesetzten Nester und die
gemischten Kolonien der Ameisen‘. Dieser Teil ist inhaltlich
um mehr als die Hälfte des früheren Umfangs durch neue seit-
herige Beobachtungen vermehrt und hat fünf neue photographische
Tafeln erhalten.“
„Der III. Teil (im 1I. Bande) enthält meine gesammelten Bei-
träge zur Stammesgeschichte der sozialen Symbiose, die
von 1905—1915 im ‚Biologischen Centralblatt‘ und anderen Fach-
zeitschriften erschienen. Auch dieser Teil ist inhaltlich stark ver-
mehrt und mit kritischen Bemerkungen über den Fortschritt unserer
Anschauungen versehen. Er wird ferner ebenfalls eine Reihe neuer
photographischer Tafeln erhalten.“
„Der IV. Teil (im II. Bande) wird ganz neu sein. Er soll
eine zusammenfassende Übersicht des gegenwärtigen
Standes unserer Tatsachenkenntnis über die soziale Sym-
biose bei den Ameisen, sowie eine kritische Zusammen-
fassung derstammesgeschichtlichen Hypothesen aufdiesem
Gebiete enthalten. Ein ausführliches Literaturverzeichnis wird
den Schluss dieses Teiles bilden.“
Die einzelnen Serien von Abhandlungen, welche die ersten drei
Teile bilden, führen den Leser durch des Verfassers Darstellungen
der eigenen oder fremden Beobachtungen, theoretischen Zusammen-
fassungen und Hypothesen und veranschaulichen, wie er das höchst
umfangreiche und mannigfache Material behandelt, eigenartige An-
schauungen entwickelt und Polemik gegen abweichende Ansichten
geführt hat.
Zwischen der Veröffentlichungszeit des I. und des II. Teils be-
steht ein Raum von etwa 10 Jahren. Unterdessen hat die Ent-
deckung des temporären Parasıtismus einer Reihe von Ameisen bei
der Gründung ihrer Gesellschaften stattgefunden, welche viele Fälle
von gemischten Gesellschaften in einem ganz neuen Licht erscheinen
lassen. Der IIl. Teil wird hauptsächlich veranlasst durch die theo-
retischen Folgen obiger Tatsache und durch die neue Debatte über
die Entstehung der Sklaverei und des Parasıtismus bei den Ameisen,
Nach den Zusätzen zu urteilen, welche Verfasser zur neuen
Auflage eingeschaltet hat und die fast ausschließlich tatsächlichen
Inhalts sind oder Detailansichten betreffen, darf man schließen,
dass er seine damaligen allgemeinen und speziellen Anschauungen
nicht wesentlich geändert hat.
Ref. ist in mehreren fundamentalen Anschauungen bekanntlich
mit dem Verf. durchaus nicht einverstanden; aber eine Polemik
hier anzuknüpfen, wäre nıcht am Platze. C. Emery.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Dre = m bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Centralblatt
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig. München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z. Z. Nürnberg, Roonstr. 13,
einsenden zu wollen.
BEXXXV 20. Mai 1915. M 5.
Inhalt: Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? — Brun,
Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund experimenteller Forschungen bei
den Ameisen. — Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter aus eigenen
Mitteln ersetzen? — Nöller, Die Ubertragungsweise der Rattentrypanosomen. — Lindau,
Kryptogamenflora für Anfänger.
Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei
Orchideenluftwurzeln?
(Mit 10 Abbildungen im Text.)
Von K. Goebel.
Die Luftwurzeln mancher Orchideen weisen sehr eigenartige
und für allgemein morphologische Fragen wichtige Gestaltungs-
verhältnisse auf.
Wir sehen dabei ganz ab von der aus toten Zellen bestehenden
Wurzelhülle, dem oft besprochenen „Velamen“, ferner der Tat-
sache, dass diese Wurzeln, soweit sie dem Lichte ausgesetzt sind,
wohl alle Chlorophyll bilden (was bei gewöhnlichen Erdwurzeln
nur ausnahmsweise, z. B. bei Menyanthes trifoliata der Fall ıst) und
berücksichtigen ausschließlich die Symmetrieverhältnisse. Während
die Erdwurzeln mit einigen Ausnahmen!) radıär sind, finden sich
unter den Örchideenluftwurzeln, wie zuerst Janczewskı?) nach-
1) Z. B. Isoötes (vgl. Goebel, Organographie der Pflanzen I, 2. Auflage
(1913), p. 307.
2) Ed. de Janczewski, Organisation dorsiventrale dans les racines des
Orchidees. Ann. des science. nat. Bot. 7%me serie, t. 2 (1855).
XXXV. 14
910 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
wies, solche, die auffallende Dorsiventralität zeigen. Diese äußert
sich in der Gestalt und im anatomischen Bau. Die dorsiventralen
Wurzeln pflegen nicht rund, sondern mindestens auf einer Seite
abgeflacht zu sein, was bei manchen so weit geht, dass sie mit
Blättern verwechselt wurden’).
Im anatomischen Bau ist die Lichtseite der Wurzeln ausge-
zeichnet vor allem dadurch, dass die Zellen hier stärkere Wand-
verdickung zeigen und dass die Wurzelhülle auf dieser Seite der
einen ihrer Funktionen, der der Wasseraufsaugung ganz oder fast
ganz entzogen ist — andere Verschiedenheiten werden sich aus
dem Folgenden ergeben.
Nun fand Janczewskiı, dass bei zwei dorsiventralen Orchideen-
luftwurzeln (denen von Epidendrum nocturnum und Sarcanthus
rostratus*)) die dorsiventrale Ausbildung durch das Licht bedingt
ıst, also verschwindet, wenn man die Wurzeln im Dunkeln sıch
weiter entwickeln lässt. Bei andern aber gelang dieser Nachweis
nicht, die Wurzeln behielten auch an den im Finstern neu zuge-
wachsenen Teilen ihre dorsiventrale Struktur beı.
Da nun zweifellos alle diese Wurzeln ursprünglich radıär waren und
die dorsiventrale Ausbildung erst in Verbindung mit der epiphytischen
Lebensweise angenommen haben, so schienen hier zwei Fälle vor-
zuliegen: Der einer „induzierten“ Dorsiventralität bei Epedendrum
nocturnum, Sarc. rostratus und Sarc. Parishü, der einer „auto-
nomen“ bei Aeranthus fasciola, Phalaenopsis und Taeniophyllum.
Nichts lag näher, als anzunehmen, dass hier vielleicht ein Bei-
spiel für die „Vererbung erworbener Eigenschaften“ vorliege, indem
ein ursprünglich induziertes Gestaltungsverhältnis später autonom
geworden sei. In dieser Richtung ist auf das Verhalten der Orchi-
deenluftwurzeln hingewiesen worden vom Verf.?) und von Francis
Darwin®). Die nähere Untersuchung von zwei der obengenannten
Orchideen zeigte indes, dass eine solche Annahme nicht haltbar ist,
dass vielmehr auch hier induzierte Dorsiventralität vorliegt.
Das mag ım folgenden näher erläutert werden.
1. Phalaenopsis.
Die einzelnen Arten dieser Gattung verhalten sich bezüglich
der Gestaltung ihrer am Lichte wachsenden Wurzeln verschieden’).
3) Auf eine andere Ausbildung der Dorsiventralität, welche sich dadurch
äußert. dass die dem Substrat anliegende Wurzelseite abgeflacht und schwächer ent-
wickelt ist, soll hier nicht eingegangen werden (vgl. Goebel, Pflanzenbiol. Schilde-
rungen, p. 195, Fig. 87 B).
4) Ebenso verhält sich Sarcanthus Parishii (vgl. Goebel, Pflanzenbiol.
Schilderungen, p. 351).
5) Goebel, Organographie, 1. Aufl., 1I, 285.
6) Fr. Darwin, Presidents address, British Assoc. for the advanc. of science.
Dublin 1908.
7) Vgl. Goebel, Organographie, 1. Aufl., p. 485, Fig. 36.
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 211
Bei Ph. Esmeralda sind die Wurzeln radıär, bei Ph. Lüddemanniana
deutlich, bei Ph. Schilleriana und Ph. amabils sehr bedeutend ab-
geflacht; das chlorophyllhaltige Rindengewebe ist flügelartig auf
beiden Flanken der Wurzel in die Breite entwickelt.
Licht- und Schattenseite sind verschieden: 1. Im Bau des
Velamens. 2. In dem der unter dem Velamen liegenden Zellschicht,
der „Exodermis“ (Abbildungen bei Janezewskia.a.O. und Goebel,
Organogr., 1. Aufl., p. 485). Auf anatomische Einzelheiten braucht
hier nicht eingegangen zu werden. Es sei nur erwähnt, dass das
„Velamen“ auf der Schattenseite aus zwei Schichten dünnwandiger,
Wasser aufsaugender Zellen besteht und
dass dort allen die „Durchlüftungs-
streifen“ vorkommen, welche durch ıhren
Luftgehalt hervortreten, wenn die übrigen
Zellen mit Wasser gefüllt sind. An der
Oberseite ist die innere Zellschicht des
Velamens stark verdickt, Wasserauf-
saugung kommt hier nicht mehr in Be-
tracht.
Die Exodermiszellen der Oberseite
sind gleichfalls mit ungemein stark ver-
dickten Außenwänden versehen. Außer-
dem sınd sie länger als die Exodermis-
zellen der Unterseite (vgl. Fig. 1 / und II)
und es sind zwischen ihnen viel weniger Fig. 1. Phalaenopsis Schil-
„Durchlasszellen“ vorhanden. leriana. Flächenschnitt der
So bezeichnet man bekanntlich kurze, Exodermis. /der Ober-, II der
s < - Unterseite bei gleich starker
protoplasmahaltige Zellen, welche Ne ene D. Durchlass-
schen die toten Exodermiszellen einge- zllen.
streut sind. Man nimmt von ihnen wohl
mit Recht an, dass sie den Übertritt von Wasser und darin ge-
lösten Nährstoffen aus dem Velamen in die Zellen der Wurzelwände
vermitteln °).
Die Bedeutung der Dorsiventralität in teleologischer Beziehung
ist klar: Die Lichtseite ist gegen Transpiration geschützt, die
Schattenseite besorgt die Wasseraufnahme, dementsprechend sınd
hier auch die Durchlüftungsstreifen und zahlreiche Durchlasszellen.
Ausgehend von der Beobachtung, dass bei Phal. amabilis außer
den dorsiventralen Lichtwurzeln auch radiäre Wurzeln ım Substrat
vorkommen, vermutete Janezewski, dass die Dorsiventralität der
Phalaenopsis- Wurzeln eine induzierte sei.
Auf Grund der Beobachtung, dass ein in einer verfinsterten
Glasröhre neu zugewachsenes, mehrere Zentimeter langes Stück
8) Sie zeigten bei Dendrobium nobile einen wesentlich höheren osmotischen
Druck als die Rindenzellen (25: 10 Atmosph.).
14*
21 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
einer Phalaenopsis-Wurzel noch ebenso abgeflacht war wie am Lichte
und (abgesehen von durch die feuchte Umgebung bedingten Verschie-
denheiten gegenüber der Lichtwurzel) noch einen dorsiventralen Bau
aufwies, glaubte ich früher, dass bei Ph. Schilleriana die Abflachung
der Wurzel nicht durch das Licht bedingt seı.
Das war indes ein durch zu kurze Dauer des Versuchs be-
dingter Irrtum. Später ergab sich folgendes’): „Eine in eine ver-
dunkelte Glasröhre eingeführte Wurzel hatte in 3!/, Monaten in
dieser ein neues Stück von 14 cm Länge gebildet. 6 cm lang war
die Abflachung noch deutlich erkennbar, dann verlor sie sich, die
Wurzel wurde fast zylindrisch. Auch die Verteilung der Durch-
lüftungsstreifen auf die Unterseite verlor sich.“ Es war die Wurzel
also bei Lichtabschluss radiär geworden, bezw. radiär geblieben. Nur
war eine länger dauernde „Nachwirkung“ zu überwinden, ehe die
Dorsiventralität verschwand. Hinzugefügt sei, dass auch eine Um-
kehrung der Dorsiventralität leicht gelingt.
Am 15. Februar wurde eine Wurzel von Phal. Schilleriana um
180° gedreht auf einem feucht gehaltenen Holzstück befestigt.
Am 9. April ergab die Untersuchung, dass die Wurzel in der
alten Farbe (welche der Unterseite, die jetzt nach oben gekehrt
war, eigentümlich ist) 3,5 em lang weiter gewachsen war.
Auch hier also wirkte die Induktion längere Zeit nach. Daran
schloss sich ein mit dunkler Farbe (beruhend auf Anthocyanbil-
dung in den oberen Schichten) versehenes Stück von 2 cm Länge.
An diesem war die frühere Unterseite anatomisch als Oberseite
ausgebildet. Das ergab sich vor allem aus Gestalt und Ver-
dickung der zweiten Velamenschicht, welche sich der für die Ober-
seite eigentümlichen Ausbildung näherte. Dagegen waren die
Exodermiszellen auf der neuen Oberseite noch dünnwandig, ohne
Zweifel aber würde bei weiterem Fortwachsen auch hier die für
die Oberseite charakteristische starke Wandverdickung einge-
treten sein.
Auf der jetzigen Unterseite dagegen hatte das Velamen den
Bau der Schattenseite angenommen.
Andere Wurzeln zeigten, dass man auch eine der Flanken zur
Ausbildung als Oberseite oder Unterseite veranlassen kann.
Die Wurzeln werden also, was die Lage der Licht- und Schatten-
seite anbetrifft, nicht dauernd induziert, sie bleiben ohne einseitige
Beleuchtung radıär und können eine beliebige Seite als Licht- oder
Schattenseite ausbilden. Ob es möglich ıst, durch gleichstarke Be-
leuchtung von zwei entgegengesetzten Seiten hier etwa zwei Licht-
seiten auszubilden, wurde nicht untersucht.
9) Goebel, Organogr., 2. Aufl. (1913), p. 310.
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 913
2. Taeniophyllum.
Taeniophyllum ist eine höchst interessante, auf Baumstämmen
als Epiphyt wachsende Orchidee.
In der Umgebung von Buitenzorg ist Taeniophyllum Zollingeri
häufig namentlich auf Palmstämmen, sie ist dort vom Verf.!%) und
Wiesner!) untersucht worden.
Merkwürdig ist die Pflanze dadurch,
dass die Blätter zu kleinen Schuppen ver-
kümmert sind, welche nur noch für den
Schutz der Stammknospe, nicht mehr aber
für die Kohlenstoffassimilation in Betracht
kommen. Diese wird ausschließlich von
den Wurzeln besorgt, deren Chlorophyll-
gehalt und starke Abflachung bedingten,
dass Blume, welcher die Gattung auf-
stellte, die Wurzeln für Blätter hielt (vgl.
das Habitusbild Fig. 2).
Es gibt ım malaischen Florengebiet
eine Anzahl von Arten, die sich insofern
nicht ganz gleich verhalten, als bei den
einen, z. B. T. Zollingeri und T. philippinense
(Fig. 2), die Wurzeln dem Substrat — Baum-
rınden — fest angedrückt sınd, bei den
andern, namentlich Gebirgsbewohnern, da-
gegen frei herabhängen. Selbstverständlich
wirken äußere Faktoren dabei mit: 7. phi-
Iippinense, das ıch (durch die Güte des Herrn
A. Loher in Manila) nur mit anliegenden
Wurzeln erhalten hatte, bildete nach einiger
Zeit in einem feuchten Gewächshaus auch
von dem Stück Holz, auf dem die Pflanze
wuchs, abstehende Wurzeln.
Im Gegensatz zu den europäischen
Orchideen gehört Taeniophyllum zu den
Angehörigen dieser großen Familie, bei denen EM
2 ar ? ; lippinense.
man Keimpflanzen häufig antrifft. Die Ver- Blübönden pie nat
mehrung durch Samen ist hier die einzige, de an: ehem, ein.
Einrichtungen zu ungeschlechtlicher Ver-
mehrung, wie sie z. B. unsere erdbewohnenden Orchideen durch
ihre Knollen u. s. w. besitzen, fehlen hier vollständig.
Fig. 2. Taeniophyllum phi-
10) Goebel, Pflanzenbiologische Schilderungen, I (Marburg 1889), p. 193.
11) Wiesner, Pflanzenphysiologische Mitteilungen aus Buitenzorg, VI. Zur
Physiologie von Taeniophyllum Zollingeri. Sitz.-Ber. d. Kais. Akad. d. Wiss. in
Wien, Math. Phys. Klasse Bd. CVI, 1897.
914 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
Schon die Keimung ist sehr merkwürdig '?), und zwar einer-
seits durch die Gestaltung des Hypokotyls, dann durch seine Haft-
organe und endlich durch das Verhalten des Kotyledons.
Da der Keimling zunächst ganz wurzellos ist, muss das Hypo-
kotyl die Anheftung an einer Baumrinde besorgen.
Demgemäß ist es dorsiventral entwickelt, während es bei
aufrecht keimenden Orchideen radıär ist.
Die dem Substrat anlıegende Seite ist als „Sohle“ ausgebildet,
die dem Lichte zugekehrte annähernd messerklingenförmig (vgl.
Fig. 3). Das Gewebe ist also zum Lichte in „Profilstellung“ '?).
Es ist klar, dass es für einen wurzellosen, einer Palmenrinde ange-
klebten Keimling, der zur Wasseraufnahme auf die „Wurzelhaare“
seiner Sohle angewiesen ist, von Vorteil sein wird, dass er nicht
allzuviel transpiriertt und doch seine Assimilations-
fläche nicht zu klein ausfällt. Das wird durch deren
Profilausbildung erreicht. Dass die Dorsiventralität
des Hypokotyls mit den Lebensverhältnissen zusammen-
hängt, ist also klar. Wie weit diese vom Lichte ab-
hängig ist, bleibt zu untersuchen. Eine Beeinflussung
erscheint mir wahrscheinlich, wenn auch vielleicht
die dorsiventrale Ausbildung selbst nicht davon ab-
hängt. Es wäre sehr interessant, die Keimlinge bei
Liehtabschluss mit Zuckerernährung zu erziehen —
Fig.3. Taenio- falls dies möglich ist. Es könnte ja schon die Keimung
phyllum Zol- vom Lichte abhängen.
lingeri. Quer- Jedenfalls gewinnt im Freien der Keimling die
schnitt durch Baumaterialien, welche zu dem länger dauernden
ein Hypokotyl. 3 3
Die ee Heranwachsen des Hypokotyls notwendig sind durch
Zonepunktiert. eigene Assimilation. Wie weit daran der Pilz, der
in der dem Substrat zugekehrten Seite des Hypokotyls
sich einfindet, beteiligt ıst, ist noch nicht untersucht.
Der Kotyledon ist als ein leitbündelloses Anhängsel am Ende
des Hypokotyls wahrnehmbar.
Die Spaltöffnungen, welche am Hypokotyl und Kotyledon vor-
handen sind, sind die einzigen, die für die Kohlensäureaufnahme
in Betracht kommen. Bei den Schuppenblättern der Stammknospe
sind sie äußerst spärlich, und da diese so gut wie kein Chlorophyll
haben, für die Kohlenstoffassimilation gleichgültig. Die Hochblätter
an der Infloreszenz javanıscher Taeniophyllen haben etwas mehr
Spaltöffnungen '*).
Taeniophyllum ıst also eines der jedenfalls seltenen Beispiele,
dass eine nicht untergetaucht lebende Samenpflanze, abgesehen vom
12) Vgl. Goebel, Pflanzenb. Schilder., Fig. 88.
13) Der Querschnitt erinnert an den einer Riella-Pflanze.
14) Ob sie funktionsfähig sind, ist aber fraglich.
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 215
ersten Keimungsstadium und der Infloreszenz, keine besonderen
Eintrittsstellen für Kohlensäure hat. Die Kohlensäureaufnahme
(teils mit Wasser, teils direkt durch die Zellmembranen '°)) wird
demgemäß auch eine langsame sein — schon dadurch ist das lang-
same Wachstum der Pflanze erklärlich. —
Die Haftorgane des Hypokotyls treten auf ın Gestalt zahl-
reicher, nur auf der Sohle gebildeter Zellscheiben, deren Zellen
protoplasmareich und vielfach nach unten vorgewölbt sind (Fig. 4).
Sie scheiden offenbar eine Klebesubstanz aus, welche das Hypo-
kotyl anheftet, vielfach sieht man z. B. der Sohle kleine Lebermoose
fest ankleben. Morphologisch stellen diese Haftorgane, die später
von N. Bernard und Burgeff
auch — wenngleich, wie es scheint, ae E>
meist in einfacherer Ausbildung — 9.0 0 (@.
bei den Hypokotylen anderer Orchi- N OD Sa
deen aufgefunden worden sind — 0% 009 2
offenbar eine eigenartige Ausbildung ) O0 ll.
bezw. Neubildung von „Wurzel- Ub
haaren“ dar. Der einzige ähnliche L &
Fall, der mir bekannt ist, findet sich
bei einigen epiphytischen Leber- &n,
moosen aus der großen Gattung “E
Lejeunea, welche gleichfalls aus W
Rhizoiden Haftscheiben entwickelt Fig. 4. Re Zollingeri.
haben '!®). Bei Taeniophyllumscheinen IT Stück der „Sohle“ eines Hypo-
die Haftscheiben stärker entwickelt kotyls mit Haftscheiben. // Haft-
7 bei H kotvlen Scheibe stärker vergr. III Eine andere,
Bee beiden VE die Grenzzellen und die Innenzellen
anderer Orchideen, bei denen sie yimmern durch IP Dane snchriit
später gefunden wurden. Sie treten eines Hapters, die Innenzellen mit X
auf dem Hypokotyl in großer Zahl bezeichnet.
auf (vgl. die Flächenansicht Fig. 47).
In Flächenansicht fallen zunächst die oben erwähnten protoplasma-
reichen Zellen auf, die in wechselnder Zahl vorhanden sınd. Ihrer
Anordnung nach sind sie aus Teilung einer Zelle hervorgegangen.
Sie können alle zu Rhizoiden auswachsen, so dass diese dann
büschelig zusammenstehen.
Umgeben ist die Scheibe von einem Kranz hellerer (proto-
plasmaärmerer) Zellen. Unter der Scheibe sind noch Basalzellen !”)
vorhanden (in Fig. 4 1/7 punktiert, in Fig. 4/V mit X bezeichnet) in
geringerer Zahl als die Scheibenzellen.
15) Es ist natürlich wohl möglich, dass nur die in Wasser gelöste Kohlen-
'säure in Betracht kommt, wie dies z. B. auch für epiphytische Moose. nachgewiesen
wurde (Goebel, Flora 1893, p. 439).
16) Vgl. Goebel, Pflanzenbiol. Schilder., p. 161, Fig. 66.
17) Vgl. Burgeff, Die Wurzelpilze der Orchideen (1909), p. 75.
916 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
Leider war es mir wegen Materialmangel nicht möglich, die
Entwickelungsgeschichte der Haftscheiben zu verfolgen. Nach
Burgeff!”) waren die Basalzellen von Laelio-Cattleya aus Teilung
einer hypodermalen Zelle entstanden. No&äl Bernard macht über
die Entstehung der Rhizoidbüschel keine Angaben. Es ist nicht
ausgeschlossen, dass der ganze Apparat, also Rhizoidbüschel mit
Basalzellen, aus der Teilung einer Dermatogenzelle hervorgeht, doch
ist wahrscheinlicher, dass nur die Scheibe aus der Epidermis ent-
steht.
Wie dem auch sei, jedenfalls liegt hier eine eigentümliche
Organbildung vor, welche bei den genannten Formen auf das Hypo-
kotyl beschränkt ist: ein Organ, das erst als Klebscheibe zu dienen
scheint, dann in Rhizoiden auswächst,
die an Stelle der fehlenden ersten
Wurzel die Befestigung am Sub-
strat übernehmen. Diese Organe,
die wir als primitive „Hapteren“ be-
zeichnen können, finden sich bei
einigen andern Orchideen an den
Rhizomen. Denn die „Haarwurzel-
büschel“, welche Irmisch vor
langer Zeit für Coralliorhiza und
Goodyera angegeben hat, sind offen-
bar nichts anderes als die am Hypo-
kotyl auftretenden „Hapteren“.
II Bei der wurzellosen, saprophy-
f : tisch lebenden Coralliorhixa treten
= T sie offenbar als teilweiser Ersatz
Bien. Ob yanıhes BT Hapten für die Wurzeln auf, ähnlich wie am
in Außenansicht. II Ein anderer im Hypokotyl von Taeniophyllum u. a.
Längsschnitt. Die Untersuchung der Corallio-
rhixa-Rhizome ergab, dass die
„Hapteren“ mit denen von Taeniophyllım im wesentlichen überein-
stimmen, nur dass die Büschel von Wurzelhaaren auf einem mäch-
tigeren Gewebepolster sitzen und auch in der Jugend nicht als
„Scheiben“ auftreten.
Die auffallendsten Hapteren sitzen (nach mündlicher Mit-
teilung des Herrn Dr. Burgeff) an den Ausläufern der javanıschen
Coryanthes pieta, von der ich dank der Freundlichkeit von Herrn
Prof. Stahl Untersuchungsmaterial erhielt.
Fig. 5 / zeigt, dass die Rhizoidenbüschel auf einem weit über
die Oberfläche vorspringenden Gewebepolster sitzen, die einzelnen
Rhizoiden hängen unten ein Stück weit zusammen.
Wir haben es hier also mit einem eigenartigen, auf die Sprosse
von Orchideen beschränkten Organ zu tun, das namentlich in Funktion
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität, bei Orchideenluftwurzeln? 2147
tritt dort, wo Wurzeln fehlen oder spärlich entwickelt sind. Dass
sie am Hypokotyl der Keimlinge besonders auffallend hervortreten,
ist also nicht zu verwundern, da die Entwickelung einer Haupt-
wurzel am Hypokotyl der Orchideen ausnahmslos unterbleibt.
Raciborski'®) fand später eine dorsiventrale Ausbildung des
Hypokotyls auch bei anderen Orchideen: Aerides, Vanda, Phalae-
nopsis. Bei Aerides vermehren sich sogar die Keimpflanzen durch
Adventivsprossebildung (leider ist nicht angegeben, ob dabei neue
Keimpflanzen, mit Hypokotyl u.s. w. oder direkt beblätterte Sprosse
entstehen !?). Er nennt den Keimspross einen „Protokorm* — eine
Bezeichnung, auf welche unten zurückzukommen sein wird.
Die Angaben des Verf. über die Keimung von Taeniophyllum
sind später von No&öl Bernard in seiner schönen Abhandlung
„L’evolution dans la Symbiose, les Orchidees et leur champignons
commensaux“ ?°) bestätigt worden.
Fig. 6. Taeniophyllum Zollingert.
] Spitze eines Keimlings in Außen-
ansicht: Der Kotyledon Co ist mit
dem ersten Blatt db, scheidenförmig
verwachsen, b, zweites Blatt. II Das-
selbe im Längsschnitt, v Vegetations-
punkt. III Spitze eines jüngeren
Keimlings schräg von unten und der
Seite, So Sohle des Hypokotyls mit
Haftscheiben. 1. I. I.
Doch ist Noöl Bernard in einem Punkte anderer Ansicht als
der Verf. Er sagt (a. a. O. p. 66): „Goebel a considere comme
un rudiment de cotyledon la partie saillante anterieure de la crete
dorsale?!), mais cette interprötation me parait inexacte; icı en effet,
comme chez les Phalaenopsis, la premiere feuille, au lieu d’etre
oppose A ce pretendu cotyledon, se developpe du meme cöte que
lui par rapport au sommet vegetatif.“
Wenn das so wäre, so würde allerdings meine Deutung un-
haltbar sein.
Ich untersuchte deshalb die Reste meines vor 30 Jahren in
Java gesammelten Materials an Keimlingen. Obwohl es nicht mehr
sehr reichhaltig war, genügte es, um zu zeigen, dass der Irrtum
nicht auf meiner, sondern auf No&öl Bernard’s Seite liegt. Denn
wie Fig. 6 zeigt, entsteht das erste Blatt (D,) nicht (wie N. Ber-
18) Raciborski, Biol. Mitteilungen aus Java, Flora S5 (1898).
19) Ob auch die Jueniophyllum solche Adventivbildungen hervorbringen
können, ist fraglich. An den im Freien gesammelten fand ich keine, möglicher-
weise sind sie aber durch Wegnahme des Vegetationspunktes hervorzurufen, wie
denn Keimpflanzen regenerationsfähiger zu sein pflegen als spätere Entwickelungs-
stadien (vgl. Goebel, Über Regeneration im Pflanzenreich, Biol. Centralbl. XXIV).
20) Annales des sciences naturelles, IX. Ser., botan., t. IX (1909), p. 65.
21) Raciborski bezeichnet diesen Teil als Nase“. Anm. des Verf.
918 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln?
nard angibt) auf derselben Seite wie der Kotyledon, sondern, ent-
sprechend der bei den Orchideen am meisten verbreiteten zwei-
zeiligen Blattstellung ihm gegenüber — auf der andern Seite
des Vegetationspunktes. Außerdem kommen auch Fälle vor, in
welchen der Kotyledon etwas mehr entwickelt ist als sonst (nament-
lich bei älteren Keimlingen), d. h. auf seiner dem Vegetations-
punkt zugekehrten Seite eine Abflachung aufweist, die sich einer,
freilich in den ersten Anfängen steckenbleibenden Scheidenbil-
dung nähert, ja diese Scheide kann mit der des gegenüber-
stehenden ersten Blattes verwachsen (Fig. 6B). Es kann an der
Richtigkeit meiner alten Deutung also wohl kein Zweifel mehr be-
stehen — wie Noöl Bernard zu seiner unrichtigen Angabe kam,
ist mir rätselhaft. Vermutlich untersuchte er ältere Keimlinge, bei
denen eine Verwechslung bezüglich der Blattstellung möglich ist.
Dass ein Leitbündel im Kotyledon nicht ausgebildet wird, ist natür-
lich kein Grund, ıhm die Blattnatur abzusprechen.
Er stellt ein extremes Beispiel eines „unifazialen“ Blattes
dar??), da eigentlich nur seine abaxıale Seite (die Unterseite, welche
dem Lichte zugekehrt ist) entwickelt ist. Ohne Zweifel ıst das be-
dingt dadurch, dass das Hypokotyl sich mit seiner Lichtseite weit
stärker entwickelt als auf seiner Schattenseite (Fig. 3), da der
Kotyledon nur ein kleines Anhängsel des Hypokotyls darstellt, ist
eine solche Beeinflussung leicht verständlich.
Ich bin hier auf diese Frage nach dem Kotyledon eingegangen,
nicht um No&öl Bernard’s Einspruch gegen meine Auffassung ab-
zuweisen. An sich ist es ja ziemlich gleichgültig, wer ın einer
solchen Spezialfrage recht hat. Aber hier wird zugleich eine Frage
von einigem allgemeinen Interesse berührt.
Treub hatte seinerzeit für Lycopodium-Keimlinge den Begriff
eines „Protokorm“ aufgestellt, und in diesem einen Vorläufer
des beblätterten Sprosses der heutigen Pteridophyten erblicken zu
können glaubte, also ein phylogenetisch „primitives“ Organ. Dem-
gegenüber hob der Verf. hervor??), dass es sich bei diesem Proto-
korm wesentlich nur um eine (vielleicht mit der „Pilzsymbiose
zusammenhängende“) eigenartige Ausbildung eines Hypokotyls
handle, die ın verschiedenen Verwandtschaftskreisen auftreten könne,
namentlich auch bei solchen, die wie die Orchideen das Gegen-
teil von primitiver Struktur aufweisen. Auch hier liegt eine Rück-
bildung schon darin vor, dass diesem Hypokotyl die Wurzel fehlt
und dass der Kotyledon — wie der Streit um ihn zeigt — nur
wenig entwickelt ıst. Für diese Auffassung aber ist es von Inter-
esse, nachzuweisen, dass Taeniophyllum einen Kotyledon hat, also
22) Vgl. Goebel, Organographie, 2. Auflage (1913, p. 278).
23) Goebel, Organographie, 1. Auflage, p. 440,
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität.bei Orchideenluftwurzeln? 219
der darunter befindliche Teil mit Recht den Namen eines Hypokotyls
trägt.
Noel Bernard dagegen glaubte nachgewiesen zu haben *),
„que l’apparition et l’evolution du protocorme chez les Orchid6es
sont des ev&nements dus aux progres de la symbiose*.
Das ist ein Irrtum. Das Auftreten (l’apparition!) des Proto-
korm hängt nicht von der Symbiose ab. Das Hypokotyl war schon
vorhanden. Es kann, wie ja auch Verf. als möglich annahm, im
Zusammenhang mit der Pilzsymbiose andere Eigenschaften ange-
nommmen haben, aber entstanden ist es sicher nicht dadurch!
Auf Noäöl Bernard’s phantastische Annahme (a. a. O. p. 18),
dass die Gefäßpflanzen infolge einer hohen Anpassung gewisser
Muscineen an eine Smhloss mit Pilzen entstanden seien, näher
einzugehen, ist wohl nicht erforderlich. Sie ist ebenso wie die
Aufstellung des Protokorms eines der zahlreichen Beispiele dafür,
dass phylogenetische Spekulationen auf Abwege geraten sind.
Außerdem: die Erscheinung, dass einem Forscher, der eine Ent-
deckung macht, diese nun zum Ausgangspunkt kühner Theorien
wird, wiederholt sich ja oft. — Bernard’s Verdiensten können aber
seine phylogenetischen Phantasmagorien keinen Abbruch tun. —
Mir scheint es zweifellos, dass der „Protokorm“ der Orchideen nichts
ist, als ein eigentümlich entwickeltes, beimanchen Formen lange fort-
wachsendes Hypokotyl und dass deshalb die ganze Bezeichung am
besten fallen gelassen würde. Übrigens verhalten sich nos des
Kotyledons = Keimpflanzen von Phalaenopsis ganz ebenso wie die
von Taeniophyllum, nur dass bei ersterer Orchidee der Kotyledon
sich später entwickelt als bei letzteren. Es ist mir unerklärlich,
wie No&l Bernard angeben konnte, dass auch hier das erste Blatt
auf der Seite des „prötendu cotyledon“ stehe.
Die bessere Kenntnis der Keimungserscheinungen der Orchi-
deen, welche wir jetzt besitzen, gestattet uns auch, uns ein Bild
zu machen, wie eine so sonderbare Form wie Taeniophyllum ent-
stand.
Bernard schildert, dass die Keimlinge von Phalaenopsis (einer
Kreuzung von Ph. rosea und amabihs) im Keimlingsstadium redu-
zierte Blätter besitzen, während die Wurzeln verhältnismäßig mächtig
entwickelt und offenbar auch als Assimilationsorgane von größerer
Bedeutung sind als die Blätter. Erst später gewinnen diese dann
bei Phalaenopsis eine bedeutende Entwickelung. Die flachen grünen
Wurzeln können dann bei den Arten, welche in der Trockenheit
ihre Blätter verlieren, vorübergehend dieselbe Rolle spielen wie bei
Taeniophyllum zeitlebens (Fig. 7).
24) A.a. 0. p. 17.
390 Goebel, Induzierte und autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
Taeniophyllum bleibt einfach auf einem Stadium stehen,
welches bei Phalaenopsis ein bald vorübergehendes Jugend-
Fig. 7.
(nach No&l Bernard).
Verf... #4 Hypokotyl, W,
Co Kotyledon, 1—4 Blätter.
Phalaenopsis amabilis X Ph. rosea
4 Monate alte
Keimpflanze 4fach vergr. (Bezifferung vom
W Wuızeln,
stadium ist. Es ist also
nicht nötig anzunehmen, dass
die Laubblätter, welche die
Vorfahren von Taeniophyllum
jedenfalls besessen haben, all-
mählich kleiner wurden und
verkümmerten. Es brauchte
einfach deren Bildung von
vornherein, also miteinem
„Sprung“, schon bei der Kei-
mung gehemmt zu werden.
Die Pflanze war trotzdem weiter
existenzfähig, weil sie grüne
Wurzeln schon besaß und
konnte vermöge ihrer geringen
Ansprüche an Standorten ge-
deıhen, welche sonst nur für
Flechten und Moose, die perio-
dische Austrocknung ertragen,
bewohnbar sind.
Sie lebt dort im wesentlichen (wie auch Wiesner hervorhebt)
wie eine Krustenflechte.
Pi
II.
Fig. 8. Taeniophyllum philip-
pinense. I Querschnitt einer
Wurzel, das chlorophyllreiche Ge-
webe punktiert. /I Querschnitt
durch die Ober-, /II durch die
(Querseite der Exodermiszellen mit
X. bezeichnet, V Velamen.
Wie diese ist sie auf das von der Baunr-
rınde herabrieselnde Wasser ange-
wiesen, das von der Unterseite der
Wurzeln aufgenommen wird.
Diese fallen auf durch ihre Ab-
flachung.
Am auffallendsten abgeflacht fand
ich die Wurzeln bei T. philippinense.
Hier ist der Breitendurchmesser der
Wurzeln mehr als fünfmal so groß
wie der Höhendurchmesser (Fig. 8 7).
Der dorsiventrale Bau der Wurzel
tritt hier ungemein deutlich hervor.
Zunächst schon darin, dass das Chloro-
phyll auf der Lichtseite stärker ent-
wickelt ıst als auf der Substratseite.
Zur Ausbildung eines typischen Assi-
milationsparenchyms ist es freilich
auch hier nicht gekommen. Sodann
ın der Ausbildung der Wurzelhülle.
Bei T. philippinense und
T. Zollingeri ıst das Velamen auf der
Oberseite nur ın Resten vorhanden, während es auf der Unterseite
Goebel, Induzierte und autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 291
in zwei Zellschichten erhalten bleibt (Fig. 8 IT und III). Besonders
eigentümlich ist die „Exodermis“,
Auf der Oberseite sind die nach außen gekehrten Zellwände
und die Seitenwände der Zellen ungemein verdickt, auf der Unter-
seite ganz dünnwandig (Fig. 8 /Z und IIT).
Es ıst klar, dass die starke Verdiekung der nach außen ge-
legenen Zellwände einen wirksamen Schutz gegen Transpiration
darstellt, welcher auf der dem Substrat zugekehrten Seite un-
nötig ist.
Kausal ist die Verschiedenheit wohl durch die Verschiedenheit
der Transpiration bedingt, bezw. dadurch, dass letztere auf der
Lichtseite eine stärkere Anhäufung organischer Baustoffe zur Folge hat.
Außerdem spricht sich die Dorsiventralität auch noch darin
aus, dass die Exodermis der Wurzeln von T. I nur auf
der Unterseite „Durchlasszellen“ hat
(Fig. 9). Damit haben die Taeniophyllum- NN
Wurzeln den höchsten Grad von Dorsi- N
ventralität erreicht, welcher für Orchi- ||
deenluftwurzeln bis jetzt bekannt ist.
Denn selbst die Luftwurzeln von Aeran- a
zewski an der Exodermis der Ober-
seite noch Durchlasszellen.
Dass diese Zellen auf der Oberseite,
wo keine Wasseraufnahme stattfindet, Fig. 9. as yllum phi-
überflüssig sind, ist natürlich noch keine lippinense. Flächenansicht der
Erklärung für ihr Fehlen. Offenbar er. Fxodermis. I der Ober-, II der
= E : \ 2 ; Unterseite einer Wurzel.
fährt die Oberseite einerseits eine Ent-
wickelungshemmung, wie sie sich in der Reduktion des Velamens
und im Unterbleiben der Abtrennung der Durchlasszellen ausspricht
— andererseits eine abweichende Ausbildung, die sich in stärkerem
Wachstum und stärkerer Wandverdickung der Exodermiszellen der
Oberseite (vgl. die Flächenansicht Fig. 9 7 mit 9 II) zeigt. Ob diese
beiden Eigentümlichkeiten auf denselben Reiz oder auf verschiedene
zurückzuführen sind, ist fraglich.
In physiologischer Beziehung wurde Taeniophyllum untersucht
von Wiesner?). Er stellte u. a. fest, dass die Wurzeln sehr
langsam wachsen und meint, es sei in hohem Grade wahrscheinlich,
dass die Wurzeln im Finstern überhaupt nicht wachsen.
Damit wäre ein sehr wesentlicher Unterschied von den typischen
Wurzeln, den Erdwurzeln festgestellt, von denen sich doch zweifellos
thus fasciola — einer gleichfalls „blatt-
losen“ Orchidee — haben nach Janc- N
25) J. Wiesner, Pflanzenphysiologische Mitteilungen aus Buitenzorg IV zur
Physiologie von Taeniophyllum Zollingeri.
922 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
die Taeniophyllum-Wurzeln ableiten. Denn diese werden bei Licht-
schluss in ihrem Wachstum nicht gehemmt. Im Gegenteil erfolgt
durch die Beleuchtung eine Verlangsamung des Wachstums 2°),
Taeniophyllum befindet sich allerdings in anderen Bedingungen als
andere Wurzeln. Diese erhalten ihre organischen Baumaterialien
von den chlorophyllhaltigen oberirdischen Teilen, bei Taeniophyllum
liegen vollständig autotrophe Wurzeln vor, die auch ihren Kohlen-
stoffbedarf selbständig durch Assimilation aus der atmosphärischen
Kohlensäure decken, nur die ersten Entwickelungsstadien werden
auf Kosten der im Stämmchen oder älteren Wurzeln gespeicherten
Reservestoffe zurückgelegt. Wenn es eine Pflanze gibt, bei ‘der
man ein „Erblichwerden erworbener Eigenschaften“ vermuten
könnte, so würde man sie wohl in Taeniophyllum suchen können.
Die Wurzeln hätten die Fähigkeit, im Dunkeln zu wachsen ver-
loren und eine nicht mehr direkt durch das Licht induzierte Dorsi-
ventralität angenommen.
Der Direktion des botanischen Gartens ın Buitenzorg verdanke
ich eine Anzahl lebender Taeniopkyllum-Pflanzen. Diese wachsen
— wenigstens eine Zeitlang — in Kultur ganz gut, wenn man sie
möglichst in Ruhe lässt, namentlich nicht viel spritzt, da sie sonst
leicht faulen.
An zweien wurde die Stammknospe durch Überbinden eines
schwarzen Tuches und aufgelegte Watte verdunkelt, die äußeren
Wurzelteile blieben unbedeckt.
Eine der Pflanzen ging — auf nicht näher aufgeklärte Weise —
verloren. Die andere zeigte nach etwa 8 Monaten, als der Verband
geöffnet wurde, drei neue, unter diesem entwickelte bleiche, chloro-
pbyllose Wurzeln. Die längste war 1!/, cm lang.
Das zeigt zunächst, dass die Wurzeln die Fähigkeit, sich
ım Dunkeln zu entwickeln, nicht verloren haben — wenig-
stens wenn sie von Anfang an im Dunkeln auftreten. Ob die Spitze
einer Luftwurzel im Dunkeln weiter wächst und wie sich die Zu-
wachsgeschwindigkeit ım Licht und ım Dunkeln verhält, wurde
nicht untersucht und derzeit haben die noch übrigen Exemplare
keine gesunden Wurzelspitzen. Indes ıst es nun, nach den Eır-
fahrungen, die über Phalaenopsis mitgeteilt wurden, sehr wahrschein-
lich, dass auch die am Lichte angelegten Taeniophylium-Luftwurzen
sich im Dunkeln weiter entwickeln können. Wenn man die ganze
Pflanze verdunkelt, so können leicht schädliche Stoffwechselprodukte
entstehen, die eine Weiterentwickelung verhindern — es gibt auch
andere chlorophyllhaltige Pflanzen, die sich im Dunkeln nicht weiter
entwickeln und nicht etiolieren. Mich interessierte hauptsächlich die
Frage, ob die Dorsiventralität der Taeniophyllum-Wurzeln eine
induzierte ist oder nicht.
26) Vol. die in Pfeffer’s Pflanzenphysiologie II, p. 110 mitgeteilten Messungen.
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 993
Es zeigte sich, dass das erstere zutrifft. Die im Dunkeln ent-
wickelten Wurzeln waren, wie die Querschnitte Fig. 10 zeigen,
nicht abgeflacht, sondern annähernd zylindrisch, ‚selbstverständlich
können Abweichungen schon durch mechanische Beeinflussung vor-
kommen. Auch war in der Beschaffenheit des Velamens und der
Exodermis kein durchgreifender Unterschied zwischen den verschie-
denen Seiten festzustellen. Namentlich waren Durchlasszellen in
der Endodermis überall vorhanden. Damit ist nachgewiesen, dass
die Dorsiventralität der Wurzeln auch hier vom Lichte bedingt ist.
Natürlich wäre es wünschenswert, den Versuch in größerem
Maßstab und im Heimatland der Pflanze zu wiederholen. Dann
werden sich Einzelfragen näher untersuchen lassen, wie die, ob
nicht eine gewisse „Nachwirkung“ (die hier aber durch den Spross
vermittelt sein müsste) insofern vorkommt,
als kleinere Unterschiede im Bau von ada-
xialer und abaxialer Seite der Wurzeln sich
noch nachweisen lassen.
Als Hauptresultat scheint mir aber auch n 7
durch die einzige Versuchspflanze erwiesen:
Die Wurzeln von Taeniophyllum haben, trotz-
dem sie seit ungezählten Generationen nur
am Lichte sich entwickeln, ihre Fähigkeit, In.
im Dunkeln zu wachsen, nicht verloren. Fig. 10. Taeniophyllum
Ihre Dorsiventralität wird direkt Zollingeri. Querschnitte
erchdas Tıcht bestimmt. Ob eme, dureh Wurzeln? I und TE
5 Be im Dunkeln, //I am Lichte
Nachwirkung stattfindet und wie die Wachs- ntwickelt (Be Tan
tumsgeschwindigkeit ım Licht sich zu der unten gekehrt).
im Dunkeln verhält, bleibt näher zu unter-
suchen. Der einzige Fall, in welchem jetzt noch eine „autonome“
Dorsiventralität von Orchideenwurzeln vorzuliegen scheint, ist der
von Aeranthus fasciola.
Janczewski (a. a.0. p. 26) sagt: „L’organisation dorsiventrale
apparaissant de si bonne heure doit etre une qualit& innde a la
racıne de l!’Aöranthus fasciola; experience le prouve d’une maniere
incontestable,. en nous apprenant que cette organisation ne peut
etre eliminee par la developpement de la racine dans l’obscurite.“
Das Experiment, auf welches sich diese Angabe stützt, ıst
folgendes. Eine mit Stanniol umwickelte Wurzelspitze stellte ihr
Wachstum ein. Später regenerierte sich die Wurzelspitze (d.h. es
entstand offenbar eine Seitenwurzel, wie das nach der Verletzung
von Orchideenluftwurzeln oft eintritt ?”)), die Wurzel war der Haupt-
sache nach dorsiventral, ı:ur fehlten die „Flügel“, zu deren Ent-
wickelung auch nach Janczewski’s Ansicht Licht notwendig ist.
27) Vgl. Goebel, Einleitung in die exper. Morphologie, p. 169.
224 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
Es ist natürlich möglich, dass die verschiedenen Orchideen sich
verschieden verhalten und Aeranthus fasciola tatsächlich eine auto-
nome Dorsiventralität der Wurzeln aufweist. Aber der Janc-
zewskische Versuch dürfte auch noch einer anderen Deutung fähig
sein. Und zwar aus folgenden Gründen.
1. Es ist nicht nachgewiesen, dass die neue Wurzel wirklich
auch ım Dunkeln entstand, sie konnte schon vorhanden, am Lichte
induziert und nun weiter gewachsen sein.
2. Selbst wenn sie ım Finstern entstand, kann die Wurzel,
an der sie sich bildete, auf sie eine Nachwirkung ausgeübt haben,
wie wir oben eine solche bei Phalaenopsis nachwiesen. Bei längerer
Dauer des Versuchs wäre auch diese Wurzel wohl radıär geworden.
Es scheint mir also derzeit wahrscheinlich, dass bei allen dorsi-
ventralen Orchideenluftwurzeln nur eine labile Induktion vorliegt.
Ob diese Auffassung zutrifft, werden weitere experimentelle Unter-
suchungen zeigen müssen, die ja namentlich ın der Heimat dieser
Pflanzen leicht auszuführen sind.
Inhaltsübersicht.
1. Die auffallende dorsiventrale Ausbildung der Luftwurzeln
mancher Orchideen beruht auf zwei Vorgängen:
a) Eine Hemmung der anatomischen Differenzierung auf der
Lichtseite,
b) eine stärkere Wandverdickung der Außenzellen auf der
Lichtseite.
2. Die Hemmung macht sıch bei den einzelnen Gattungen in
ungleichem Maße geltend. Sie betrifft teils die Ausbildung
des Velamens, teils die Exodermis. Bei letzterer werden beı
den meisten Formen die „Durchlasszellen* auf der Oberseite
in geringerer Zahl ausgebildet als auf der Unterseite. Bei
Taeniophyllum wunterbleibt ıhre Differenzierung ganz. Die
Wurzeln dieser Gattung stellen also die am meisten dorsi-
ventral ausgebildeten dar.
3. Die dorsiventrale Ausbildung ist ın allen vom Verf. unter-
suchten Fällen vom Lichte abhängig, auch bei Taeniophyllum,
von dem Wiesner annahm, dass ein Wachstum der Wurzeln
im Dunkeln nicht stattfinden könne.
Es macht sıch aber eine länger andauernde Nachwirkung,
namentlich bei Phalaenopsis, geltend. Die ım Dunkeln ent-
wickelten Wurzeln zeigen allseitig die Ausbildung, welche
sonst der (nicht gehemmten) Schattenseite zukommt. Die ab-
weichende Angabe von Jancze wskı betreffend Aeranthus fas-
ciola ıst wahrscheinlich durch „Nachwirkung“ bedingt.
4. An den Sprossteilen einer Anzahl von Orchideen finden sich
eigentümliche „Hapteren“, hervorgegangen aus der Teilung
Brun, Das Orientierungsproblem im. allgemeinen etc. 395
einer Oberhautzelle und einer Anzahl darunter liegender Zellen.
Sie dienen bei Tueniophyllum zunächst als Haftscheiben, später
wachsen die äußeren Zellen zu Wurzelhaarbüscheln aus. Außer
bei Keimlingen sind diese „Hapteren“ auch bekannt an den
unterirdischen Sprossteilen von Coralliorhixa, Goodyera, an
den Niederblättern von Microstylis, Sturmia, Malaxis?°).
Ihre höchste bis jetzt bekannte Entwickelung erreichen sie
bei Corysanthes. Sie sind offenbar namentlich dann von Be-
deutung, wenn Wurzeln fehlen oder spärlich entwickelt sınd.
6. Ob die Dorsiventralität des Hypokotyls mancher Orchideen
eine „autonome“ oder eine durch die Außenwelt bedingte ist,
bleibt zu untersuchen.
Es liegt aber kein Grund vor, bei den Orchideen von einem
„Protokorm“ zu sprechen. Was so genannt wurde, ist nichts
als ein Hypokotyl von oft eigenartiger Ausbildung, an welchem
keine „Hauptwurzel“ sich findet. Dieses Hypokotyl spielt viel-
fach auch eine wichtige Rolle als erstes Assimilationsorgan.
7. Der Kotyledo ist bei Tueniophyllum -— entgegen der An-
gabe von N. Bernard — in normaler Stellung vorhanden,
aber sehr rückgebildet.
Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf
Grund experimenteller Forschungen bei den Ameisen.
Von Dr. med. Rudolf Brun,
Assistent an der Nervenpoliklinik der Universität in Zürich.
(Schluss.)
IT.
Experimentelle Ergebnisse über die Fernorientierung
der Ameisen.
Nachdem wir im vorhergehenden die allgemeinen psychobio-
logischen und mnemischen Gesetze, welche den verwickelten Mecha-
nismus der Fernorientierung beherrschen, in großen Umrissen
skizziert haben, wollen wir uns nunmehr den Ergebnissen der experi-
mentellen Analyse eines ganz besonders lehrreichen Spezialfalles
zuwenden, nämlich der Fernorientierung der Ameisen. Die Er-
kenntnis der großen Bedeutung, welche diese Spezialfrage für das
Örientierungsproblem im allgemeinen besitzt, veranlasste nicht nur
Entomologen von Fach, sondern auch zahlreiche Biologen, Psycho-
logen und Physiologen, sich mit derselben näher zu befassen und
so entstand allmählich eine ziemlich umfangreiche Literatur, ın
28) Vgl. Goebel, Zur Biologie der Malaxideen, Flora 88 (1901), p. 100, Fig. 6.
XXXV. 15
326 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen: etc.
De
welcher ein reiches und äußerst interessantes Tatsachenmaterial
niedergelegt ist!”).
Die Ameisen eignen sich nämlich zu Studien über die Fern-
orientierung aus zwei Gründen in ganz besonderem Maße: Einmal
wegen ihrer sesshaften, sozialen Lebensweise, welche sie nötigt,
von ihren Fernwanderungen immer wieder zu einem ganz bestimmten
Ausgangspunkt, dem Neste, zurückzukehren; — dann aber auch
deshalb, weil sie (im Gegensatz zu den Bienen) in der Arbeiter-
kaste flügellos sind und daher eine verhältnismäßig langsame, leicht
verfolgbare Fortbewegung haben.
Das richtige Verständnis einer so komplizierten biologischen
Leistung, wie sie die Fernorientierung der Ameisen darstellt, setzt
natürlich vor allem eine genauere Kenntnis der Anatomie und Phy-
siologie der beteiligten Sinnesorgane, sowie des diesen Sinnen über-
geordneten zentralen Assoziationsapparates voraus. Ich möchte
daher, bevor ich auf die biologischen Erscheinungen eingehe, noch
ganz kurz die wesentlichsten dieser anatomischen und physio-
logischen Tatsachen in Erinnerung bringen.
Die Sinne, die bei der Orientierung der Ameisen in Be-
tracht kommen können, sind im wesentlichen der Geruchssinn,
der Tastsınn, der Gesichtssinn und die kinästhetischen Registrie-
rungen. Was die Mitwirkung dieser letzteren betrifft, so sind
wir da natürlich ausschließlich auf die experimentell-physiologische
Analyse angewiesen. Über die Funktionen der anderen Sinne kann
uns, teilweise wenigstens, schon die anatomische Struktur der be-
treffenden Organe wichtige Fingerzeige geben.
Der @eruchssinn ist bekanntlich der biologisch weitaus wich-
tigste Sinn der Ameisen. Wie wir schon im allgemeinen Teil dieser
Arbeit (S. 195) gesehen haben, kommt derselbe hier auch für die
exterozeptive Orientierung im Raume sehr wesentlich in Betracht,
weil seine peripheren Endapparate oberflächlich, an den sym-
metrischen und äußerst beweglichen (geknieten) Antennen lokalı-
siert sind. Der Geruchssinn der Ameisen gehört daher, wie unser
Auge, zu den relationellen Sinnen, d. h. er ist in erster Linie
ein Kontaktgeruchssinn, welcher die von den verschiedenen
Objekten ausgehenden Duftemanationen nicht, wie unsere Riech-
schleimhaut, in diffuser Mischung, sondern in ganz bestimmter
räumlicher Anordnung, entsprechend den gleichzeitig durch die
Tasthaare der Fühler wahrgenommenen Formen der duftenden Ob-
jekte, rezipieren muss. Auf diese Überlegungen gründete Forel°®)
17) Ich werde im folgenden nur die wichtigsten einschlägigen Arbeiten an-
führen und verweise im übrigen auf meine kürzlich erschienene Monographie („Die
Raumorientierung der Ameisen und das Orientierungsproblem im allgemeinen“, —
Gustav Fischer, Jena 1914), welche ein ausführliches Literaturverzeichnis enthält.
15) Forel, Experiences et remarques critiques sur les sensations des insectes.
— Rivista di Se. Biolog. II u. III, Como 1900—1901. — Die psychischen Fähig-
Brun, Das Orientierungsproblem im -allgemeinen etc. Ser
fe
bekanntlich seine geistreiche Kontaktgeruchstheorie oder
Theorie des topochemischen Fühlersinnes, welche eben be-
sagt, dass die Ameisen vermittelst ihrer Fühler räumlich scharf
umschriebene „Geruchsformen“ wahrnehmen. Sie werden also bei-
spielsweise runde von viereckigen, harte von weichen, elliptische
von kugeligen Gerüchen unterscheiden und werden diese verschie-
denen Geruchsformen in eben der gegenseitigen räumlichen Anord-
nung und zeitlichen Folge, wie sie im umgebenden Raume ange-
troffen wurden, auch im Gedächtnis als assozuerte topochemische
Engrammkomplexe aufspeichern. Doch betont Forel ausdrück-
lich, dass die Ameisen von dieser topochemischen Assoziation, ent-
sprechend der absoluten Kleinheit ihres Gehirns, natürlich nur in
sehr beschränktem Umfange Gebrauch machen können. Diese
selbstverständliche Einschränkung vorausgesetzt, besteht seine Theorie
zweifellos auch heute noch zu Recht.
Im Vergleich zum Kontaktgeruchssinn ıst das Ferngeruchs-
vermögen der Ameisen offenbar nur sehr gering entwickelt; man
kann sich wenigstens leicht davon überzeugen, dass Ameisen selbst
stark duftende und für sie ungemein „lustbetonte* Substanzen, wie
Honig, nur auf wenige Zentimeter zu wittern imstande sind.
Auch der Gesichtssinn weist bei den Ameisen —- wie bei
den Insekten überhaupt — eine Reihe von Besonderheiten auf,
welche von vornherein vermuten lassen, dass derselbe bei der
Fernorientierung wohl ın ganz anderer Weise funktioniert als bei
den Wirbeltieren. Bekanntlich entwerfen die Fazettenaugen der
Insekten nach der Müller-Exner’schen Theorie des musivischen
Sehens von den Objekten der Außenwelt ein einziges aufrechtes
Mosaikbild (Appositionsbild), dessen Schärfe in erster Linie von der
Zahl der Fazetten, in zweiter Linie von der Länge und Schmalheit
der einzelnen Ommatidien abhängt: Je zahlreicher nämlich die Fa-
zetten, in um so zahlreichere Bildpunkte wird das Gesamtbild auf-
gelöst und desto kleinere Objekte werden somit noch einigermaßen
deutlich „erkannt“; je länger und schmäler die Ommatidien, um so
konzentriertere Lichtbündel leiten sie den entsprechenden Netzhaut-
elementen zu, indem die Randstrahlen abgeblendet werden. Die
Augen der bestsehenden Ameisen haben (im Arbeiterstand) eine
verhältnismäßig geringe Fazettenzahl'!’) und ziemlich kurze Omma-
tidien. Ihr Fernpunkt, der hauptsächlich von der Wölbung der
Kornealinsen abhängt, ıst bei den meisten Arten bis auf wenige
Millimeter oder Zentimeter ans Auge herangerückt. Die Unbeweg-
lichkeit der Fazettenaugen bringt es ferner mit sich, dass die Auf-
keiten der Ameisen, 2. Aufl., Reinhardt, München 1902. — Sinnesleben der In-
sekten, ebend. 1910.
19) Bei Formica rufa, einer der bestsehenden Arten, beispielsweise nur 600,
gegenüber 20000 bei vielen Libellen!
15*
338 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
Frl Fr)
merksamkeit des ruhenden Insekts nur durch bewegte Objekte zu
erregen ist. — Die Augen der Ameisen scheinen demnach haupt-
sächlich für das Sehen großer, bewegter Objekte aus nächster Nähe
eingerichtet (Forel). Man glaubte daher früher allgemein, dass
der Gesichtssinn bei der Fernorientierung dieser Insekten nur eine
sehr untergeordnete Rolle spielen könne. Es ist hauptsächlich
Santschi’s?°) Verdienst, diesen Irrtum, der, im Verein mit einer
gewissen Voreingenommenheit zugunsten des Geruchssinnes, das
unbefangene Urteil in der Deutung mancher Tatsachen lange Zeit
trübte, endgültig widerlegt zu haben. Wır werden auf die wichtigen
neuen Ergebnisse der Forschungen dieses hervorragenden Myrme-
kologen noch ausführlich zurückzukommen haben. -—
Die Frage, ob die Ameisen „hören“, scheint trotz allen darauf
gerichteten Untersuchungen noch immer nicht ganz einwandfrei
entschieden zu sein. Man hat eigentümliche, im Inneren der Tibien
ausgespannte sogen. „chordotonale“ Organe wiederholt als Gehör-
organe angesprochen; — falls dieselben wirklich echte Schallwellen
rezipieren, dürften sie aber wohl nur für die Wahrnehmung jener
feinsten Zirplaute („Stridulationen“) aus nächster Nähe in Betracht
kommen, welche manche Ameisen durch Aneinanderreiben gewisser
Teile ıhres Chitinpanzers erzeugen. Was endlich statische Organe
anbetrifft, so sind solche bis jetzt bei Insekten überhaupt nicht
nachgewiesen worden. —
Vergleichen wır die eben kurz angedeuteten Sinnesfunktionen
mit Bezug auf ihren direkten Wirkungsbereich, so stellen wir ohne
weiteres fest, dass durch keine derselben eine direkte Rezeption
des Nestes (oder besser: des psychophysiologischen Erregungskom-
plexes „Nest“) aus größeren Entfernungen als höchstens einem Meter
ermöglicht wird. Daraus folgt, dass jede Fernorientierung
der Ameisen über einen Meter hinaus eine indirekte sein
muss, d.h. dass sie nicht nach einem sinnlich (als aktueller Reiz-
komplex) gegebenen, sondern nach einem im „Sensorium“ der
Tiere lediglich als Engramm vertretenen Ziele erfolgt, mit Hilfe
von intermediären, mit ‘diesem Zielengramm sekundär assoziierten
Richtungszeichen. Nun setzt aber, wie wir gesehen haben, jede,
auch die einfachste Form einer indirekten Orientierung im Prinzip
die Fähigkeit zur Erwerbung und Assoziation individueller En-
grammkomplexe voraus und es fragt sich daher, ob wir berechtigt
sind, so winzigen Geschöpfen wie Ameisen ein solches plastisches
Engraphie- und Assoziationsvermögen zuzuschreiben. Manche Autoren
20) Santschi, F., Observations et remarques eritiques sur le mechanisme de
’orientation chez les Fourmis. Revue Suisse de Zool. 1911. — Comment s’orientent
les Fourmis. Ibid. 1913. — L’wil compos6 considere comme organe d’orientation
chez la Fourmi. Revue Zool. Africaine III, 1913.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 399
— unter ihnen namentlich Bethe?!) — haben den Insekten be-
kanntlich alle „psychischen“ Qualitäten (oder sagen wir besser:
eine individuelle Mneme) rundweg abgesprochen, und wo ihre eigenen
Experimente sie mit dieser vorgefassten Meinung in Widerspruch
brachten, waren sie eher geneigt, ihre Zuflucht zu irgendeiner phy-
siologisch unerklärlichen „unbekannten Kraft“ zu nehmen, als ihre
These aufzugeben. Bevor wir indessen diesen Autoren auf das
dunkle Gebiet der wissenschaftlichen Mystik folgen, werden wir
doch gut tun, uns vorerst noch danach umzusehen, ob im Zentral-
nervensystem der höheren Insekten nicht anatomische Strukturen
vorhanden sind, welche als das morphologische Substrat jener
biologisch nachweisbaren plastischen Neurokymtätigkeiten ange-
sehen werden könnten.
vo
Fig. 2. Frontalschnitt durch das Gehirn (Öberschlundganglion) der
roten Waldameise (Formica rufa L.). — Mikrophotogramm. Vergr. ca. 65 X.
Hämatoxylin-Eosin. Cp = Corpora peduneulata Dujardini. F' = Fazettenauge.
Lo — Lobus opticus. Lolf. — Lobus olfactorius. MI. — Massa lateralis proto-
cerebri. Ri = Regio intercerebralis.
Wenn wir einen Frontalschnitt durch den vorderen Abschnitt
(„Proto- und Deutocerebron“) des Gehirns (Öberschlundgang-
lions) einer phylogenetisch hochstehenden Ameise be-
trachten (Fig. 2), so fallen uns daran sofort vier eigentümlich struk-
turierte dorsale Gebilde in die Augen, welche in diesen Frontalebenen
einen relativ sehr bedeutenden Teil des gesamten Hirnquerschnitts
einnehmen. Es sind dies die sogen. pilzhutförmigen Körper
oder Corpora pedunculata von Dujardin. Dieselben präsen-
tieren sich im Frontalschnitt als vier symmetrische, tief eingebuch-
tete, bezw. gewundene Massen grauer Substanz vom Typus des
flächenförmigen oder Rindengraus, bestehend aus einer dor-
salen kompakten Rindenschicht sehr dichtstehender indifferenter
21) Bethe, A., Dürfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualitäten
zuschreiben? — Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 70, 1898.
230 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etec.
Körnerzellen und einer tieferen, semmelförmig gebuchteten diekeren
Molekularschicht. Diese Massenanhäufung von Substantia mole-
cularıs besteht im wesentlichen aus nichts anderem als aus den,
zu einem unentwirrbaren Neuropilemfilz verflochtenen, Fibrillen-
aufsplitterungen und Axonen zahlreicher Projektions-, Assoziations-
und Kommissurenfasern, welche teils aus den Körnerzellen der
Rindenschicht hervorgehen, teils aus allen übrigen Hirnregionen
(Lob. olfactorius, Lob. opticus u. s. w.) herbeifließen, um sich um
die Körnerzellen aufzusplittern. Jede Windung entsendet zwei dicke
Stiele (Pedunculi), welche tief in die Zentralmasse des Protocere-
brons eintauchen (in dem Mikrophotogramm Fig. 2 sind nur die vor-
RER
Fig. 3. Frontalschnitt durch das Gehirn (Öberschlundganglion) der
Schmeißfliege (Calliphora vomitoria). — Mikrophotogramm. Vergr. ca. 40 X.
Toluidinblaufärbung. Cp = die kaum andeutungsweise entwickelten Corpora pedun-
culata. Die übrigen Bezeichnungen wie in Fig. 2.
deren Umbiegungen dieser mächtigen Stiele zu sehen, da ihre Ver-
einigung mit den Corp. pedunec. erst in etwas kaudaleren Ebenen
erfolgt).
Die eben geschilderte mächtige Entwickelung der Corpora
peduneulata findet sich nun aber bezeichnenderweise nur bei den
phylogenetisch jungen sozialen Hymenopteren (Ameisen, Bienen,
Wespen), und auch da nur in der Weibchen- und Arbeiterkaste,
welche ja auch allein jene höheren plastischen Fähigkeiten verraten,
von denen wir oben gesprochen haben. Bei den viel dümmeren
Männchen sind diese Organe, wie Forel zuerst nachwies, stets
wesentlich kleiner, nur wenig gefaltet, oft geradezu rudimentär und
bei den übrigen (nicht sozialen) Insekten stellen sie bestenfalls nur
einfach geschichtete, dorsale Höcker, ohne jede Faltung dar, oder
fehlen vollständig. So werden Sie dieselben z. B. bei den stu-
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 231
piden Fliegen, diesen Proletariern unter den Insekten, vergeblich
suchen; man sieht hier (Fig. 3) an der entsprechenden Stelle nur
medial eine spärliche Ansammlung von Körnerzellen, während die
ganze dorsale Partie des Protocerebrons zwischen den (hier dafür
um so mächtiger entwickelten) Lobi optici einfach fach abgeschnitten
erscheint. — Mit Rücksicht auf alle diese Tatsachen ist man m. E.
gewiss zu dem Schlusse berechtigt, dass man in den Gorpora
pedunculata tatsächlich einen phylogenetisch relativ
spät auftretenden, funktionell hochwertigen zentralen
Assoziationsapparat vor sich hat, welcher also insofern
gewissermaßen ein Analogon des Großhirns der Wirbel-
tiere darstellen dürfte. —
Und nun wollen wir uns den merkwürdigen biologischen Pro-
blemen zuwenden, vor welche die staunenswerte Orientierungsfähig-
keit der Ameisen die Wissenschaft gestellt hat. Wir unterscheiden
dabei, nach dem Vorgehen von Cornetz, zunächst aus rein prak-
tischen Gründen scharf zwischen zwei Grundphänomenen:
Einer Massenorientierung zahlreicher Individuen auf kollektiv
begangenen Wegen und der Orientierung einzeln vom Nest aus-
gehender Individuen. Bei vielen Arten, so namentlich bei den
augenlosen und schlecht sehenden, wie Lasius fuliginosus, ist aus-
schließlich der erste Modus im Gebrauch, andere Arten gehen nach
Belieben bald scharenweise, bald einzeln vom Neste aus (Formica,
Polyergus, Lasius niger), noch andere immer nur vereinzelt (Cata-
glyphis). Die psychobiologischen Grundlagen beider Orientierungs-
arten sind z. T. wesentlich verschieden.
1. Die Massenorientierung.
Dieselbe ist in der Regel (aber durchaus nicht immer) eine
Orientierung auf vorgezeichneter Bahn, welche zumeist
durch eine chemische Spur, seltener durch eigentliche von den
Ameisen angelegte gebahnte Straßen markiert wird. Uns inter-
essiert hier vor allem die Orientierung auf Geruchsspuren,
da diese Erscheinung trotz ihrer scheinbaren Einfachheit ein Pro-
blem in sich birgt, das bis vor kurzem noch aller Erklärungs-
versuche zu spotten schien. Es bietet sich dabei gewöhnlich folgendes
Bild: Man sieht auf einer Strecke von 5, 10, ja selbst 100 und
mehr Metern eine ununterbrochene Kette von Ameisen zwischen
Nest und Ziel (gewöhnlich ein Blattlausstrauch) hin- und herwandern;
dabei folgt jedes Tier, fortwährend den Boden mit den Fühlern ab-
tastend, genau seinem Vordertier, ohne auch nur einen Finger breit
vom Weg abzuweichen. Dass die Ameisen dabei in der Tat eine
auf dem Boden deponierte materielle Geruchsspur verfolgen, geht
aus einem einfachen Versuch hervor, den der Genfer Gelehrte
Ch. Bonnet schon vor mehr als 100 Jahren machte. Zieht man
232 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
nämlich mit dem Finger einen Strich quer über die Straße, so
stauen sich die Ameisen zu beiden Seiten desselben an; sie suchen
aufgeregt mit den Fühlern herum, bis endlich eine es wagt, das
Hindernis langsam, zögernd zu überschreiten, worauf die übrigen
folgen und der Verkehr sich allmählich wieder herstellt. Neuer-
dings (1911) hat übrigens Santschı durch aufmerksame Beobach-
tung mit der Lupe festgestellt, dass viele Ameisen ihre Spur
aktiv markieren, indem jedes Individuum von Zeit zu Zeit stehen
bleibt und ein winziges, wahrscheinlich den Analdrüsen entstammen-
des Sekrettröpfehen auf dem Boden deponiert. Über die Flüchtig-
keit, bezw. die Zähigkeit des Festhaftens des Spurgeruches gewann
ich selbst auf folgende Weise einige Anhaltspunkte: Ich ließ Ameisen
(Lasius niger) durch ein System kommunizierender Glasröhren wan-
dern, schaltete dann einzelne Röhren für eine bestimmte Zeit aus
und sodann wieder ein. Ich fand, dass der Spurgeruch der aus dem
Verkehr ausgeschalteten Röhre noch nach 2, 4 und 8 Stunden in fast
unverminderter Stärke anhaftete; auch durch Ausblasen mit dem
Munde, ja selbst durch 5 Minuten langes Auswaschen in kaltem
Wasser wurde er nicht völlig entfernt. Um eine vollständige Ver-
kehrsunterbrechung zu bewirken, musste ich das Lumen der Röhre
nach der Spülung mit Watte ausreiben!
Nach alledem sollte man denken, dass die Orientierung auf
Geruchsspuren ein sehr einfacher, vielleicht gar reflektorischer Vor-
gang sei. Nun hat aber Bethe (l. c.) im Jahre 1898 die merk-
würdige Entdeckung gemacht, dass die Ameisen nicht allein die
Spur als solche, sondern auch die beiden Richtungen derselben
anscheinend unmittelbar zu unterscheiden vermögen, und zwar
nicht etwa mit Hilfe zufälliger Nebenwahrnehmungen anderer Sinne
(z. B. Wahrnehmung der Lichtrichtung), sondern auf rein olfaktivem
Wege. Infolge dieser wichtigen Entdeckung Bethe’s gestaltete
sich die Frage der Orientierung auf Geruchsspuren zu einem der
schwierigsten und umstrittensten Probleme der Insektenpsychologie.
Bethe leitete eine Fährte von ZLasius niger, dıe zu einem Blatt-
lausstrauch führte, über drei aufeinanderfolgende schmale Brettchen,
a, b und
(Blattläuse) + | < c — | - b - | — a <| (Nest)
Drehte er nun eines dieser Brettchen (z. B. b) rasch um 180°,
(Bl.) os ze 5 .- (N.)
so entstand an den beiden Grenzen des Drehstückes jedesmal eine
sehr deutliche Verkehrsstörung, ähnlich wie im Bonnet’schen
Versuch, obschon ja durch das Drebungsmanöver die Spur als solche
nicht unterbrochen wurde. Dagegen bewirkte die bloße Vertauschung
Brun, Das Örientierungsproblem im. allgemeinen etc. 233
der Brettehen keine Verkehrsstörung, so lange dieselben nicht gleich-
zeitig auch gedreht wurden:
Nun legte Bethe die Brettehen b und e nebeneinander,
und zwar b nicht gedreht, ce um 180° gedreht:
RT SONENEIRE FAR b
(Bl.) DT > ine a -| + (N.)
Die Folge war natürlich einmal eine komplette Verkehrsunter-
brechung an der Stelle, wo e früher gelegen hatte, seitens der von
den Blattläusen heimkehrenden Ameisen. Die vom Nest her auf
dem Teilstück a ankommenden Ameisen hingegen gingen von a
sämtlich auf das nicht gedrehte Teilstück b über, suchten an dessen
Ende eine Weile nach der unterbrochenen Spur und wanderten
dann aufec wieder nach a zurück. Daselbst neue Verwirrung,
abermaliges Übergehen nach b, wiederum Zurückwandern auf ce
u.s. w., „wie in einem Circulus vitiosus gefangen“.
Aus diesen merkwürdigen Resultaten seiner Experimente glaubte
Bethe den Schluss ziehen zu müssen, dass die chemischen Duft-
teilchen der Ameisenspur eine polare Anordnung besitzen, so
zwar, dass alle in der Richtung vom Nest nach den Blattläusen
verlaufenden Spuren negativ polarisiert seien, alle in der umge-
kehrten Richtung (nestwärts) führenden dagegen positiv polarisiert.
Die olfaktive Rezeption dieser Polarisation sollte dann in den
Ameisen einen „Chemoreflex“ auslösen, welcher sie zwingen würde,
die verschiedenen Fährten stets nur im Sinne ihrer „Polarität“ zu
verfolgen.
Die Bethe’sche Polarisationshypothese hat indessen trotz ihrer
bestechenden Einfachheit bei den Kennern des Ameisenlebens eben-
sowenig Anklang gefunden, wie die übrigen nihilistischen An-
schauungen dieses Autors über das psychische Leben der Insekten.
Sie wurde insbesondere durch Wasmann?) als theoretisch wie
sachlich gleichermaßen unbegründet vollständig widerlegt. Auf
die scharfsinnige und gründliche Beweisführung Wasmann’s brauche
ich hier nicht näher einzugehen, da Bethe’s Polarisationslehre,
wie seine Reflextheorie überhaupt, längst von allen Forschern ver-
lassen ist und heute nur noch historisches Interesse besitzt. Nur
ein Hauptpunkt der Wasmann’schen Kritik sei hier wenigstens
angedeutet, die Tatsache nämlich, dass ja die Ameisen auf ıhren
Geruchsfährten stets in beiden Richtungen verkehren, so dass
somit eine beim Hinweg allenfalls entstandene Polarisation der
22) Wasmann, Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. II. Aufl. —
Schweizerbart’scher Verlag (E. Nägele), Stuttgart 1909.
234 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
„Hinspuren* durch die umgekehrt polarisierten „Rückspuren“ der
heimkehrenden Ameisen vorweg wieder aufgehoben würde; —
es sei denn, dass die beiden en stets säuberlich getrennt neben-
einander herlaufen würden. Das ist aber keineswegs der Fall;
vielmehr überkreuzen und überlagern sich auf dem sehr schmalen
Terrainstreifen natürlich Tausende von Hin- und Herspuren in
wirrem Durcheinander.
Wasmann’s Erklärung des Bethe’schen „Polarisationsphäno-
mens“ gipfelt in der Annahme, dass die Ameisen imstande seien,
die „Geruchsform“ ihrer Fußspuren zu unterscheiden. Die-
selbe müsste natürlich für die hin- und zurückführenden Spuren
verschieden sein (d. h. eine verschiedene Richtung haben), da die
Stellung der Füße in beiden Fällen eine entgegengesetzte ist. Nimmt
man nun außerdem noch an, dass dıe Hinspuren wahrscheinlich einen
gewissen Nestgeruch, die Rückspuren dagegen mehr einen Blatt-
Fig. 4. Schema zur Veranschaulichung der „Fußspurentheorie“ von
Wasmann: Das Mittelstück der Fährte N Z: a # y ö ist um 180° gedreht. Weiße
Keile: Die mit Nestgeruch behafteten „Hinspuren“. Schwarze Keile: Die nach
Futter duftenden „Rückspuren“. Die bei ab, bezw. cd vor dem Drehstück an-
kommenden Ameisen treffen dort plötzlich verkehrt stehende ‚„Geruchsformen“
(Hin- und Rückspurformen) an. — (Aus Brun, Raumorientierung der
Ameisen.)
lausgeruch an sich haben, so wären durch eine solche Kombination
zweier verschieden gerichteter Spurformen mit zwei verschiedenen
Geruchsqualitäten die beiden Richtungen der Fährte allerdings un-
mittelbar eindeutig erkennbar. Die Sache wäre dann nämlich, um
ein Gleichnis aus unserer Sinneswelt zu gebrauchen, ungefähr so,
wie wenn auf einer Landstraße alle von der Stadt nach dem Dorfe
wandernden Passanten mit roter Farbe angestrichene Schuhe an-
hätten und somit rote, dorfwärts gerichtete Fußabdrücke hinter-
lassen würden, alle in der umgekehrten Richtung wandernden Leute
dagegen blaue (Fig. 4).
Es ist ohne weiteres zuzugeben, dass diese „Fußspurentheorie*
Wasmann’s (wie wir sie nennen wollen) sämtliche von Bethe
beobachteten Erscheinungen in befriedigender Weise erklärt. Be-
denkt man aber anderseits, dass die Gehspur einer Ameise sechs-
füßig ist und dass auf einer vielbegangenen Fährte nicht zwei,
sondern Tausende von solchen sechsfüßigen Einzelspuren sich ın
wirrem Durcheinander überlagern, so wird man zugeben müssen,
dass der Wasmann’sche Erklärungsversuch doch zum mindesten
ein sehr gewagter und gekünstelter ist.
Brun, Das Orientierungsproblem im ‚allgemeinen etc. 235
Noch anders, wiewohl ebenfalls auf der Grundlage seiner topo-
chemischen Theorie, suchte Forel das Bethe’sche Phänomen zu
erklären. Im Gegensatz zu Wasmann verlegt er das Hauptgewicht
nicht auf die Spur selbst, sondern auf den benachbarten Raum
links und rechts neben der Spur und stellt sich vor, dass die
Ameisen bei häufiger Begehung einer bestimmten Fährte von den
sukzessive angetroffenen Gegenständen links und rechts der Spur
allmählich eine gewisse Summe assoziierter topochemischer
Engramme gewinnen werden. Sie werden, mit anderen Worten,
allmählich eine förmliche „Geruchskarte“ ihres Weges aufnehmen,
mit deren Hilfe sie sich jederzeit darüber orientieren können, was
links und rechts, was vorn und hinten ist und sie werden also,
wenn man nun plötzlich eine Teilstrecke des Terrains um 180°
dreht, offenbar „eine plötzliche Umkehrung des Raumes verspüren,
die sie notwendig desorientieren muss“, da jetzt die Reihenfolge
der links und rechts angetroffenen Geruchsformen sich nicht mehr
in Übereinstimmung befindet mit der in ihrem Gedächtnis engra-
phierten Sukzession.
Auch durch diese geistreiche Theorie wird m. E. das Zustande-
kommen des Bethe’schen Phänomens nicht in allen Fällen erklärt.
Denn wenn es auch zweifellos richtig ıst, dass die Ameisen auf
ihren Reisen von der sukzessive wechselnden allgemeinen Be-
schaffenheit des Bodens, über welchen sie gewandert sınd?), viel-
leicht auch von gewissen, besonders charakteristischen Örtlichkeiten
topochemische Engramme fixieren, so ist doch schwer einzusehen,
wie eine sukzessive Engraphie zahlreicher differenter Einzelengramme
auch unter den künstlich vereinfachten Bedingungen des Bethe’-
schen Versuchs zustande kommen soll, wo die Spur über drei
ganz gleichartige homogene Brettchen führte.
Diese kritischen Bedenken, die ich sowohl der Wasmann’schen
wie der Forel’schen Deutung des Spurdrehungsphänomens ent-
gegenhalten musste, veranlassten mich, die merkwürdige Erschei-
nung unter variablen Versuchsbedingungen nochmals nachzuprüfen
und genauer zu analysieren. Ich ging dabei von den folgenden
Überlegungen aus:
Falls die Ameisen wirklich, wie Wasmann annımmt, die Ge-
ruchsform ıhrer Fußspuren zu unterscheiden vermögen, so müssten
sie offenbar auch imstande sein, die beiden Richtungen ihrer Fährte
augenblicklich, vom Fleck weg, wo man sıe hinsetzt, zu er-
kennen, und zwar ganz gleichgültig, ob sie die betreffende Fährte
von früheren Gängen her „kennen“ oder nicht. Hätte dagegen
Forel recht, so wäre die Richtungsunterscheidung den Ameisen
natürlich nur auf solehen Fährten möglich, welche sie von früher
23) Ich werde hierfür weiter unten noch nähere Beweise anführen.
236 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc.
her kennen, nicht aber auf solchen, die sie früher nie begangen
haben (da sie ja keine Engramme von solchen besitzen). Aber
auch auf „bekannten Fährten“ wäre ıhnen die Entscheidung zwischen
den beiden Richtungen jedenfalls nicht sofort, vom Fleck weg, wo
man sie hinsetzt, möglich, sondern sie wären zweifellos genötigt,
durch kurzes Hin- und Herwandern in beiden Richtungen zu-
nächst den Gang der topochemischen Sukzession festzustellen.
Meine Versuche, die ich ın ihrer Gesamtheit als den „mne-
mischen Versuch“ bezeichnet habe, bestanden demnach im Prin-
zıp darin, dass ich Ameisen auf irgendeinen Punkt bald einer ihnen
im obigen Sinne „bekannten“, bald einer sicher unbekannten Fährte
setzte und nun beobachtete, ob und auf welche Weise sie eine
Fig. 5. (Aus Brun, Raumorientierung der Ameisen.)
Richtungsentscheidung zu treffen imstande waren. Zu diesem
Zwecke teilte ich eine Kolonie der glänzend schwarzen Lasius fuli-
ginosus (eine Art, die sich fast ausschließlich auf Geruchsfährten
bewegt) in zwei getrennte Abteilungen A und B. Die Abteilung A
kam in einen provisorischen Behälter, aus dem ich nach Be-
darf Ameisen und Brut entnehmen konnte. Die Abteilung B da-
gegen etablierte ich ın einem künstlichen Beobachtungsnest (N)
dessen gläserne Ausgangsröhre auf den Anfang einer 1 m langen
schmalen Papierbrücke mündete (Fig. 5). Diese Brücke verlief
quer über den Mittelpunkt eines nach meinen Angaben konstruierten
kreisrunden Experimentiertisches zu einer kleinen Plattform (Pl),
auf welcher ich den Ameisen nach Bedarf Honig reichte. Der zen-
trale Kreis des Tisches samt dem über ıhn führenden Brückenstück
konnte für sich gedreht werden.
Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 237
Um eine rein olfaktorische Orientierung zu haben, musste ich
natürlich alle übrigen Orientierungsmöglichkeiten durch geeignete
Maßnahmen sicher ausschließen, in erster Linie die optische Orien-
tierung. Dies geschah erstens dadurch, dass ich in einem Dunkel-
zelt arbeitete, dessen gleichmäßig schwarze Wände und Gewölbe
keinerlei visuelle Anhaltspunkte boten und zweitens durch „bipo-
lare“ Beleuchtung, indem ich statt einer Lichtquelle deren
zwei an genau symmetrischen Punkten links und rechts am Tische
(quer zur Achse der Brücke) aufstellte. Bei dieser Versuchsanord-
nung ist es klar, dass eine von der Mitte der Brücke abgehende
Ameise in beiden Augen streng symmetrische Lichteindrücke
empfangen muss, deren sinnliche Lokalisation sich gleichbleibt, ob
sie nun in der Richtung N oder in der entgegengesetzten Richtung
läuft; mit anderen Worten die Orientierung wird hinsichtlich der
sinnlichen Lokalisation der Lichtquelle zweideutig bestimmt sein
und keinerlei Indikation der relativen Richtungen gewähren.
Die Ameisen zögerten nicht, eine lebhaft begangene „Futter-
fährte* zu dem Honig auf P! zu etablieren. Nun führte ich die
oben angedeuteten Versuche wie folgt aus:
I. 1. Ich fing Ameisen, die eben, vom Honig gesättigt, nach
dem Nest zurückkehren wollten, bei Pl vermittelst eines Bleistifts
ab und ließ sie von dessen Spitze auf die Mitte der Brücken-
fährte absteigen, und zwar in der falschen Richtung, d. h. gegen
Pl. Resultat: Alle Ameisen behielten diese falsche Rich-
tung zunächst noch eine Strecke weit bei. Nach einer Weile
aber stutzten sie, schwankten ein- oder mehrmals, indem sie kurze
Schleifen nach beiden Richtungen beschrieben und kehrten dann
schließlich definitiv nestwärts um. Sie benahmen sich also genau
so, wie wir es nach der Forel’schen Hypothese erwartet hatten:
Als ob sie den Gang der topochemischen Sukzessionen feststellen
wollten.
2. Ich lasse die Ameisen näher beim Nest auf die Brücke ab-
steigen. Gleiches Resultat, doch erfolgt jetzt die Umkehr aus der
falschen Richtung viel früher als von der Mitte aus.
3. Abstieg von der Mitte in der Richtung N: Die im Ver-
such 1 beobachteten Schwankungen werden zumeist vermisst;
die Ameisen verfolgen die gute Richtung anfangs zögernd, dann
immer sicherer bis zum Nest.
II. Ich wiederholte die gleichen Versuche mit Ameisen aus der
Abteilung A, denen also die Brücke vollständig „unbekannt“ (im
Sinne Forel’s) sein musste. Um eine eindeutige Reaktion zu haben,
benutzte ich aber zu diesen Versuchen nur solche Ameisen, die
gerade eine Larve trugen, denn diese können selbstverständlich
nur ein Ziel haben: Das schützende Nest. Resultat: Diese
Ameisen benahmen sich genau ebenso wie die Ameisen B, d.h,
238 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etec.
auch sie erkannten, nach anfänglichem Falschgehen, regelmäßig
ihren Irrtum und korrigierten nach N. Folglich kann diese
olfaktorische Richtungsunterscheidung nicht auf
dem Vorhandensein einer topochemischen Engramm-
sukzession beruhen, wie es anfangs den Anschein hatte.
Aber auch Wasmann hat Unrecht, denn diese Richtungs-
unterscheidung erfolgte in keinem einzigen Falle un-
mittelbar vom Fleck weg, wo die Ameisen hingesetzt
wurden, sondern erst nach Zurücklegung einer gewissen
Wegstrecke und eventuell unter wiederholtem Schwan-
ken zwischen beiden Richtungen.
Iil. Nunmehr ersetzte ich den Honig auf der Plattform durch eine
große Menge Larven, welche die Ameisen sofort ins Nest abzuholen be-
gannen. Nach einigen Stunden war der Larventransport noch in vollem
Gange. Ich wiederholte die verschiedenen Varianten des mnemischen
Versuchs und war überrascht zu sehen, dass jetzt alle in der falschen
Richtung abgestiegenen Ameisen diese falsche Richtung bis zur
Plattform beibehielten, ohne unterwegs jemals zu schwanken oder
gar zu korrigieren, mit anderen Worten, dass auf Fährten, über
welche längere Zeit Brut getragen wurde, eine olfakto-
rische Richtungsindikation vollständig zu fehlen schien.
Das wurde noch deutlicher, als ich nun die Larven, anstatt von der
Plattform, von der Mitte der Fährte abholen ließ: Die vom Nest
her bei dem Larvenhaufen ankommenden Ameisen stutzten, stiegen
auf den Larven herum, ergriffen schließlich eine und wollten mit
ihr nach Hause eilen. Gut die Hälfte gingen aber nach der
falschen Seite ab, gelangten zur Plattform, wo sie lange nach
dem Nesteingang suchten und kehrten dann erst nestwärts um oder
verirrten sich gänzlich °%).
Nun brachte ich an der einen Seite der Brücke eine 5 mm
hohe Brüstung aus steifem Papier an, so zwar, dass die vom Nest
zur Plattform wandernden Ameisen dieses Geländer links hatten,
die heimkehrenden Ameisen dagegen zur Rechten. 3 Tage ließ ich
diese Versuchsanordnung bestehen und wiederholte sodann den Ver-
such des „Larvenabholens aus der Mitte“. Und siehe da! Diesmal
ging nur etwa ein Viertel bis ein Fünftel der Ameisen aus der
Mitte nach der falschen Seite ab und auch von diesen falsch ge-
gangenen korrigierten die meisten, sobald sıe zufällig mit dem
Fühler ans Geländer stießen. Sie stutzten dann, traversierten
schräg zur geländerfreien Seite hinüber, stutzten abermals und
kehrten um! Der merkwürdige Vorgang wiederholte sich so kon-
stant, dass ein Zufall vollkommen auszuschließen ist. Die Probe
24) Ich erinnere hier nochmals, dass sämtliche Versuche im Dunkelzelt unter
bipolarer Beleuchtung ausgeführt wurden.
Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 239
w
aufs Exempel erhielt ich übrigens sofort, als ich das Geländer mit
der Schere wieder abschnitt: Sofort gingen wieder 50%, der Ameisen
falsch und keine einzige stutzte unterwegs oder kehrte um. Dieser
Versuch beweist somit, dass die Ameisen die topoche-
mischen Eindrücke ıhrer linken Körperseite von den-
jenigen der rechten unterscheiden und dass sie auch ım-
stande sind, solche konstant einseitig lokalisierten
Eindrücke mit der entsprechenden Wegrichtung zu asso-
ziieren, bezw. die Wegrichtung daraus zu erkennen.
Diese verschiedenen Varianten des mnemischen Versuchs haben
uns über die Natur des Bethe’schen Phänomens eigentlich mehr
negative Aufklärung gebracht, neben einigen positiven Hinweisen.
Wir wissen jetzt, dass diese geheimnisvolle Richtungsindikation
nicht vom Fleck weg, sozusagen von Millimeter zu Millimeter, ent-
steht, dass sie (auf gleichförmig begrenzter Fährte) nicht auf dem
Vorhandensein einer topochemischen Engrammsukzession beruht,
dass sie näher beim Nest rascher zustande kommt als in der Mitte
der Fährte und endlich, dass sie auf Fährten, über welche längere
Zeit Brut getragen wurde, vollständig fehlt.
Zum Zwecke einer weiteren Aufklärung der Erscheinung
wiederholte ich nun auf meiner Brückenfährte auch die Bethe’-
schen Drehungsexperimente, und zwar einerseits auf der
„Futterfährte“, andererseits auf der „Brutfährte“, mit folgenden
Modifikationen: Ich legte auf das Nestende und auf das Platt-
formende der Brücke gleichbrete mobile Papierstreifen
von sukzessive zunehmender Länge. Nachdem sich der Ver-
kehr notgedrungen seit einigen Stunden über diese Hindernisse
wieder hergestellt hatte, drehte ich erstens jeden Streifen an Ort
und Stelle um 180° sodann vertauschte ich beide Streifen mit-
einander, bald um 180° gedreht, bald nicht gedreht. Es wurde
jedesmal an beiden Orten beobachtet, ob eime Verkehrsstörung ein-
trat oder nicht und der Grad derselben zahlenmäßig (nach den
Reaktionen der 12 ersten bei den Drehstücken ankommenden Ameisen)
festgestellt, wobei ich vier verschiedene Grade des Stutzens unter-
schied. So erhielt ich eine fortlaufende Serie zahlenmäßiger Be-
lege, aus deren Vergleichung im wesentlichen folgendes her-
vorgeht:
1. Es zeigte sich, wie im mnemischen Versuch, dass das
Bethe’sche Phänomen auf der „Brutfährte“ vollständig
negativ ist, indem alle Ameisen sowohl die an Ort und Stelle
gedrehten als die miteinander vertauschten Streifen stets passierten,
ohne ım geringsten zu stutzen.
2. Dagegen ıst das Phänomen auf der Futterfährte aller-
dings durchweg positiv, jedoch mit folgenden wichtigen Besonder-
heiten: |
240 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
a) Im Gegensatz zu Bethe’s Angaben kam eine starke Re-
aktion auch dann zustande, wenn der Neststreifen mit dem Platt-
formstreifen ohne Drehung vertauscht wurde ?°).
b) Die Reaktion nımmt zu mit zunehmender Länge des ge-
drehten Spurabschnittes;
c) sie fällt stärker aus nach Vertauschung der (gedrehten) Teil-
stücke als nach bloßer Drehung derselben an Ort und Stelle;
d) sie ıst am Nestende der Fährte um das Vielfache intensiver
als am Futterende;
e) und endlich reagieren die vom Nest zum Futter wandernden
Ameisen an beiden Orten stets viel intensiver als die heimkehren-
den Ameisen.
M.H.! Alle diese Tatsachen lassen sich m. E. in befriedigender
Weise nur durch die Annahme erklären, dass der Geruchskom-
plex der Ameisenspur im Verlaufe seiner Kontinuität ein
sukzessives Intensitätsgefälle gewisser Komponenten
aufweist, und zwar wahrscheinlich nach beiden Rich-
tungen: Beim Ausgehen vom Neste verschleppen Tausende von
Ameisen den Nestgeruch an den Füßen und Fühlern in sukzessive
abnehmender Intensität ın der Richtung des Zieles, und umgekehrt
verschleppen die heimkehrenden Ameisen den Honiggeruch in
abnehmender Stärke nestwärts. Die Fährte wird also ın der Nähe
des Nestes starken Nestgeruch und keinen oder nur schwachen
Honiggeruch aufweisen, während in der Nähe des Zieles das Um-
gekehrte der Fall sein wird. Dreht man nun sagen wir in der
Nähe des Nestes — ein Teilstück der Fährte um 180°, so werden
die vom Nest her bei demselben ankommenden Ameisen plötzlich
eine starke Intensitätsschwankung wahrnehmen, die natürlich
um so stärker ist, je länger das gedrehte Teilstück ıst. Betreten
sie aber das Drehstück trotzdem, so werden sie bei weiterer Ver-
folgung der Fährte anstatt zunehmenden Honiggeruchs wieder zu-
nehmenden Nestgeruch verspüren, was sie vollends desorien-
tieren muss. In der Nähe des Zieles liegen die Verhältnisse ähnlich
mit Bezug auf den Honiggeruch, doch dürfte dieser letztere sich
der Fährte mit viel geringerer Intensität mitteilen, als der Geruch
des Nestes, in dem sich die Ameisen den größten Teil des Tages
über aufhalten. Auch werden die Ameisen in der Nähe des Zieles
nicht mehr in dem Maße fähig sein, auf kleinste Intensitätsschwan-
kungen zu reagieren wie beim Nest, teils wegen direkter Ermüdung
der Geruchsorgane, teils weil sie, nach Zurücklegung des größten
Teiles des Weges, ihrer Sache nunmehr sicherer geworden sind.
So erklärt sich die viel geringere Reaktion der Ameisen in der
25) Dieser Widerspruch mit Bethe’s Resultaten dürfte sich so erklären, dass
bei meinen Versuchen die beiden Teilstücke viel weiter auseinanderlagen als in den
3ethe’schen Experimenten.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 341
Nähe des Zieles, verglichen mit der Reaktion beim Nesteingang.
In noch höherem Maße wird das zuletzt erwähnte — mnemische —
"Moment sich bei den heimkehrenden Ameisen ‚geltend machen,
denn diese alle haben ja die gesamte Strecke schon einmal beim
Hinweg durchmessen und dürften daher ım Besitze gewisser aktueller
Engramme sowohl von der allgemeinen topochemischen Beschaffen-
heit der Fährte als von deren Länge sein. Sie haben es daher
nicht mehr nötig, die Spur so sklavisch mit den Antennen zu ver-
folgen wie beim Hinwege und so werden ihnen feinere Intensitäts-
schwankungen ın der Zusammensetzung des Spurgeruches leicht
entgehen. Daher die geringe Reaktion der heimkehrenden Ameisen
auf die Spurdrehung.
Wesentlich anders legen die Verhältnisse auf der „Brut-
fährte*. Hier wird der Zielgeruch (in diesem Falle also der
Larvengeruch) nicht bloß ın Gestalt spärlicher Geruchspartikel auf
die Spur verschleppt, sondern die Fährte wırd, infolge des Trans-
portes der Larven, mit diesem Zielgeruch ın gleichmäßiger
und originärer Stärke gleichsam bestrichen. Die Fährte
wird daher in allen ihren Abschnitten allmählich einen vollkommen
homogenen Brutgeruch annehmen, welcher den Nestgeruch um so
eher übertäuben wird, als dieser letztere, infolge der Gegenwart von
vielen tausend Larven ım Neste, im wesentlichen wohl selbst einen
„Brutgeruch“ darstellt und welcher weder ın der einen noch ın
der anderen Richtung ein merkliches Intensitätsgefälle darbieten
wird. —
Damit haben wır das geheimnisvolle Spurdrehungsphänomen,
wie ich glaube, ın einfacher und befriedigender Weise erklärt, —
ohne Herbeiziehung eines physiologisch unfassbaren, mystischen
Prinzips, wie es die Bethe’sche „Polarisation“ ım Grunde ist und
ohne andererseits den Ameisen irgendwelche außerordentlichen sınn-
lichen oder psychischen Fähigkeiten zuzuschreiben. Glauben Sie aber
nicht, dass die Frage der Orientierung auf Geruchsfährten damit
erschöpft sei; — der olfaktorısche Faktor ıst nur eine, allerdings
sehr wesentliche Komponente dieses verwickelten Mechanismus,
welche nötigenfalls für sich allein zur Indikation der relativen Rich-
tungen ausreicht. Die übrigen Faktoren, welche hier noch eine
Rolle spielen, werden wir bei der Orientierung auf Einzelwande-
rung kennen lernen, deren experimenteller Analyse wir uns nun-
mehr zuwenden wollen.
2. Die Orientierung auf Einzelwanderung.
Die Rolle des Geruchssinnes bei der Orientierung der Ameisen
wurde früher ım allgemeinen überschätzt, obschon man längst wusste,
dass es sogar gewisse Formen der Massenorientierung gibt, bei
welchen dieser Sinn von sekundärer Bedeutung zu sein scheint.
XXXV. 16
342 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
So versagt z. B. der Bonnet’sche Fingerversuch auf den Heerstraßen
der roten Waldameise (Formica rufa) vollkommen. Bei der gleichen
Art blendete Forel die Fazettenaugen, indem er sie mit schwarzem
Lack überzog; er fand, dass die so behandelten Tiere die größte
Mühe hatten, die Ameisenstraße zu verfolgen und alle Augenblicke
seitwärts abirrten. Forel?®) sowie Fabre?’) berichten ferner über-
einstimmend, dass die von ihren Raubzügen heimkehrende Armee
der Amazonenameise (Polyergus rufescens) durch Abschwemmen des
Bodens mit dem Wasserstrahle in der Einhaltung ihrer Richtung
keineswegs beeinträchtigt wird. Auch Miss Fielde°®), die Ameisen
auf der Heimkehr durch Unterwassersetzen des Bodens zum
Schwimmen zwang, konstatierte die gleiche Erscheinung. Was-
mann (l. ce.) wies in seiner Kritik der Bethe’schen Polarisations-
theorie unter anderm auch auf die Saisonumzüge der Formica san-
guinea hin, welche keineswegs auf einer schmalen Fährte erfolgen.
Alle diese Autoren kamen zu dem Schlusse, dass, zum mindesten bei
den genannten Arten, auch der Gesichtssinn, bezw. ein gewisses
Maß von visuellem Ortsgedächtnis, bei der Orientierung wesent-
lich beteiligt seı.
Man wusste ferner längst,
Nenn! )_ x en dass"Ameisen? Schr Xof Jauch
einzeln vom Nest ausgehen
R x1 und dass sie dabei oft so-
gar recht weite Wanderungen
Fig. 6. unternehmen; man setzte aber
ohne weiteres voraus, dass
diese Einzelgänger auf ihrer eigenen Hinspur zum Neste zurück-
finden. Diese durch nichts begründete Annahme wurde dann durch
den französischen Psychologen H. Pi@eron?’) zum ersten Male
experimentell widerlegt.
Pieron fing einzeln wandernde Ameisen auf der Heimkehr
zum Nest bei irgendeinem Punkt & ab und versetzte sie mehrere
Meter seitwärts, auf einen Punkt x, (Fig. 6):
Die so transportierten Ameisen setzen ihre Reise ruhig fort,
jedoch nicht mehr in der Richtung des Nestes, sondern in einer
Richtung, welche der vor dem Transport eingehaltenen
genau parallel ıst und noch ungefähr so weit, als der
Distanz («—N) entspricht, die sie, ohne Transport, noch
bis zum Neste hätten zurücklegen müssen. Dann beginnen
26) Forel, Fourmis de la Suisse, Geneve 1874.
27) Fabre, Souvenirs entvmologiques Il; Paris, Delagrave 1870.
28) Fielde, Experiments with ants induced to swim. Proc. Acad. Nat.
Sc. Philadelphia 1903.
29) Pieron, Du röle du sens musculaire dans l’orientation des Fourmis.
zull, Inst. gen. Psychol. 1904.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 345
sie wirre „konzentrische Kurven“ zu beschreiben, als ob sie das
Nest suchen wollten. Mit anderen Worten: Die Ameisen verhalten
sich nach dem seitlichen Transport genau so, als ob sie einen
inneren Kompass hätten, an dem sie die absolute Richtung ihrer
Orientierung ablesen könnten und als ob sie einen Schrittmesser
(Podometer) besäßen, der ihnen die noch zurückzulegende Distanz
in Streckendifferenzen anzeigen würde.
Von dieser interessanten Erscheinung ausgehend hat dann der
algerische Ingenieur V. Cornetz°®) die Einzelwanderung bei Ameisen
eingehend studiert. Er bediente sich dabei der graphischen
Methode, indem er die von den Ameisen beschriebenen Kurven
jeweilen dicht hinter den Tieren im Terrain markierte, sodann aufs
Genaueste ausmaß und in verkleinertem Maßstab in einen geo-
metrischen Plan einzeichnete. Er erhielt so überaus exakte Bilder
der gesamten Reise mit allen Einzelheiten ihres Verlaufs. Das
erste, was Cornetz feststellte, war die Tatsache, dass die Einzel-
wanderer nicht auf einer Geruchsspur gehen, denn man
kann den ganzen Boden vor ihnen her ausgiebig mit dem Besen
bearbeiten, ohne dass sie davon im geringsten Notiz nehmen. Die
Reise ist kein regelloses Umherirren, sondern sie lässt gewöhnlich
eine bestimmte Hauptrichtung erkennen, zu welcher das Tier
nach vorübergehenden seitlichen Abschweifungen immer wieder
mit bemerkenswerter Genauigkeit zurückkehrt. Die Rückkehr
zum Nest erfolgt niemals auf der „Hinspur“, sie verläuft
jedoch in der Nähe derselben und ist ihr im großen ganzen parallel.
Selten kommt es vor, dass eine Ameise ım Verlaufe der Reise
nacheinander zwei (oder drei) verschiedene Hauptrichtungen ein-
schlägt, die dann meist senkrecht aufeinander stehen. Beı der
Rückkehr wird das so entstandene Dreieck oder Polygon nie direkt
vermittelst der Diagonale geschlossen, sondern die verschiedenen
Hauptachsen werden sukzessive in der umgekehrten Reihenfolge
und auf ungefähr gleiche Distanzen wieder aufgenommen. Hat sich
die Ameise dem Nest wieder bis auf eine gewisse (wechselnde)
Distanz genähert, so verlässt sie ın der Regel die meist etwas
fehlerhafte Hauptrichtung plötzlich an irgendeinem Punkte und
korrigiert genauer nach N; meist schießt sie jedoch etwas am Ziele
vorbei, wodurch eine neue Korrektur nötig wırd; der gleiche Vor-
gang kann sich noch einige Male wiederholen, so dass die Ameise
das Nest in immer engeren konzentrischen Kurven umkreist, bis
sie schließlich genau den Nesteingang trifft. Interessant ist dabei,
dass diese Korrekturen von den betreffenden Punkten aus (aber
nur von diesen!) immer in der gleichen Richtung erfolgen: Ver-
30) Cornetz, Trajets de fourmis et retours au nid. Me&moires de l’Institut
gen. Psychol. 1910.
16*
44 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc.
27
setzt man beispielsweise eine Ameise, die von Y nach Z (Fig. 7)
korrigiert hat, wieder nach Y zurück, so läuft sie wieder nach Z,
bringt man sie aber auf irgendeinen Punkt der Strecke zwischen
Y—Z, so läuft sie in einer beliebigen anderen Richtung?!).
Was den Pıeron’schen Parallellauf betrifft, so wıll Cornetz
denselben selbst im tiefsten Waldesschatten, sowie nach Transport
aus der Sonne in den Schatten, oder umgekehrt, beobachtet haben.
Dagegen versagt dıe Erscheinung meist vollständig, wenn der Trans-
port auf einen dem früheren ganz unähnlichen Boden (z. B. von
Sandboden auf eine Wiese) erfolgt, — m. E. ein Beweis, dass
die Ameisen auf ihren Wanderungen die allgemeine
Bodenbeschaffenheit engraphieren. Nach primärem Trans-
port vom Nest weg fand Cornetz die Ameisen stets vollständig
desorientiert, mit Ausnahme eines einzigen Falles, der sich folgender-
maßen verhielt: Eine Ameisenfährte überquerte in schräger Rich-
tung eine Landstraße; das Nest befand sich unter einem Randstein
des Trottoirs. Als Cornetz einige Tage später den Ort wieder
.N aufsuchte, war diese Fährte einge-
Zn ES WR gangen. Er nahm nun einige Ameisen
Y direkt beim Nesteingang und setzte
rn sie mitten auf die Landstraße, einige
Meter seitlich von der früheren Fährte.
Die Tiere liefen sofort zum Randstein zurück und zwar in einer Rich-
tung, welche der alten Fährte genau parallel war, und am Rand-
stein angekommen bogen sie nach links ab, genau wie auch jene
Fährte verlaufen war. —
So tüchtig und gewissenhaft sich Cornetz als Beobachter er-
wiesen hat, so ratlos ließen ıhn die von ıhm beobachteten Tatsachen
bezüglich ihrer Deutung. Der Pieron’sche Parallellauf und die
Konstanz der Reiserichtung sind für ıhn Rätsel, die uns zur An-
nahme eines uns noch ganz unbekannten Richtungssinnes zwingen
sollen. Und so stellt Cornetz denn allen Ernstes die folgenden
erstaunlichen Behauptungen auf:
Die Orientierung der einzeln wandernden Ameise sei
ım Prinzip gänzlich unabhängig von irgendwelchen sınn-
lichen Anhaltspunkten in der Außenwelt, — sie erfolge
vielmehr kraft eines unbekannten, absoluten, inneren
Richtungssinnes, einer Richtungsangabe, welche während
der Hinreise ım Sensorium des Tieres entstehe und ıhm
erlaube, eine früher einmal innegehaltene absolute Rich-
tung des Raumes jederzeit (selbst nach Tagen) wieder
aufzunehmen.
31) Cornetz, La connaissancee du monde environnant son gite pour une
fourmi d’espece sup£rieure. Revue des Idees 1912.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 945
Diese Lehre, die schon erkenntnistheoretisch völlig unhaltbar
ist, wurde in neuester Zeit von Dr. Santschi°?), einem in Tunis
lebenden Myrmekologen, aufs heftigste angegriffen und durch glän-
zende Gegenexperimente vollständig widerlegt.
Für Santschi stand es von vornherein fest, dass jede orien-
tierte Lokomotion sich auf irgendwelche in der Außenwelt wirkende
Reizquelle beziehen muss. Wenn also eine Ameise nach seitlichem
Transport von einem Punkte x nach x, vom letzteren Ort aus ohne
weiteres ihre frühere Richtung wieder aufnimmt, so kann es hier-
für logischerweise nur eine Erklärung geben: Nämlich die, dass der
bei x wirkende tropische Reizkomplex auch bei x, in genau der
nämlichen räumlichen Beziehung (zum sinnlichen Rezeptor des
Tieres) gegenwärtig ist. Ein solcher allgegenwärtiger und an jedem
beliebigen Ort aus der gleichen Richtung fallender tropischer Reiz
ist z. B. das Licht, speziell das Licht der Sonne. Sollten sich
nicht die einzeln wandernden Ameisen nach dem Lichte orientieren?
Alles, was wir über die Anatomie und Physiologie des Insekten-
auges wissen, scheint Santschi zugunsten dieser Hypothese zu
sprechen:
Wir haben gesehen, dass die Fazettenaugen hauptsächlich für
das Sehen von Bewegungen, d.h. der relativen Ortsverände-
rungen des Netzhautbildes eingerichtet sind. Wenn dies
richtig ist, so scheinen sie aber auch umgekehrt geeignet, bei gerad-
liniger Fortbewegung des eigenen Körpers, große, entfernte stabile
Objekte oder entfernte direkte Lichtquellen ın ungemein
exakter Weise räumlich zu lokalisieren. Da nämlich die
schmalkonischen Ommatidien nur den mehr oder minder senkrecht
einfallenden Strahlen den Zutritt zur lichtempfindenden Sinnesfläche
gestatten, alle schrägen Strahlen dagegen in ihren pigmentumhüllten
Wänden absorbieren, so wird sich eine solche Lichtquelle jeweilen
nur in wenigen Fazetten abbilden, und zwar wird diese Lokalisation
— bei geradliniger Fortbewegung — konstant die nämliche sein,
dank der unendlichen Entfernung der Lichtquelle. Mit anderen
Worten: um eine bestimmte gerade Richtung einzuhalten, hat das
Tier nur dafür zu sorgen, dass das Sonnenbild konstant in die
nämlichen Fazetten fällt. Und wenn es sich ferner bei der Rück-
kehr nun so zur Lichtquelle einstellt, dass deren Bild jetzt ebenso
konstant die diametral entgegengesetzten (korrespondierenden)
Fazetten des andern Auges trifft, so ıst klar, dass sein Kückweg dem
Hinweg parallel sein wird und es somit ziemlich genau zum Aus-
gangspunkte zurückführen muss. Und nun formuliert Santschi
aus diesen Prämissen seine geistreiche Theorie wie folgt:
32) Santschi, Comment s’orientent les fourmis. Revue Suisse de Zoo-
logie 21, 1913.
246 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
Die Fazettenaugen der Ameisen sind gewissermaßen
Lichtkompasse, welche den Tieren mit Hilfe einer exak-
ten sinnlichen Lokalısation der Lichtquelle und — bei
der Rückkehr — vermittelst sinnlicher Reversion dieses
lokalisierten Lichteindruckes auf diametral symme-
trische Sinnesflächen eine geradlinige Richtungseinhal-
tung und eine sichere Rückkehr zum Ausgangspunkte
ermöglichen. Der Pıieron’sche Parallellauf aber ist nichts
anderes als eine virtuelle Orientierung nach der Licht-
quelle.
Unter den zahlreichen experimentellen Tatsachen, durch welche
Santschi die Richtigkeit seiner „Lichtkompasstheorie“ be-
legt, will ich hier nur seine Spiegelexperimente®®), als die be-
weiskräftigsten, hervorheben:
Bei einzeln heimkehrenden Ameisen beschattete Santschı das
Terrain durch einen großen Schirm und projizierte sodann das Bild
der Sonne vermittelst eines großen Spiegels auf die andere Seite.
Der Erfolg war jedesmal der, dass die Tiere sofort umkehrten und
so lange in der entgegengesetzten Richtung (also jetzt gerade vom
Neste weg) liefen, als Santschi die falsche Sonne einwirken ließ.
Drehte Santschi den Spiegel so, dass die falsche Projektion der
Sonne nur 90° betrug, so wichen die Ameisen dementsprechend
auch nur in einem rechten Winkel aus ihrer Richtung ab. Der
Spiegelversuch ergab Santschi selbst auf Ameisenstraßen und mir
sogar auf Geruchsfährten (bei Zasius fuliginosus) noch positive
Resultate, — ein Umstand, der beweist, dass die Lichtorientierung
selbst hier noch der ausschlaggebende Indikator der relativen Rich-
tung ist!
Santschi ist übrigens nicht der erste, der die Orientierung nach
dem Lichte bei Ameisen nachgewiesen hat; er hat sie aber physio-
logisch näher begründet. Lubbock°*) (nachmals Lord Avebury)
hatte nämlich schon vor mehr als 30 Jahren gezeigt, dass Ameisen
augenblicklich auf ihrem Weg umkehren, wenn man die relative
räumliche Lokalisation der Lichtquelle um 180° ändert, sei es
durch Umstellung des Lichtes auf die andere Seite, sei es durch
Drehung der Unterlage bei feststehendem Licht. Die Ameisen ant-
worten dann sofort mit einer entsprechenden Gegendrehung im
umgekehrten Sinne, welche ausbleibt, wenn man die Lichtquelle in
geeigneter Weise verdeckt oder wenn die Lichtquelle die Drehung
mitmacht. Hätte Bethe diesen letzteren Umstand beachtet, so
hätte er nicht, ın gänzlicher Missverstehung der Experimente Lub-
bock’s, aus der Erscheinung einen „Drehreflex“ gemacht. Gegen
33) Revue Suisse de Zoologie 19, 1911.
34) Ants, bees and wasps. — London 1881.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 937
29
einen solchen spricht auch die Tatsache, dass blinde Ameisenarten
auf Drehungen der Unterlage niemals mit einer Gegendrehung
reagieren.
Auf noch anderem Wege gelang es mir selbst, bei Ameisen
die Tatsache der Orientierung nach der Sonne nachzuweisen
und zugleich zu zeigen, wie exakt der eben geschilderte Mechanis-
mus der sinnlichen Reversion des Lichteindrucks arbeitet. Es war
mir aufgefallen, dass die Rückkurve der von mir vermittelst der
Cornetz’schen Methode verfolgten Einzelwanderer von der
Hinweglinie meist um einen kleinen Winkel nach rechts ab-
wich. Ich ging nun so vor, dass mA
= = > = RG Da L
ich eine Ameise, die — fast gerad- no u Zu2
linig der Sonne entgegen — über 7
einen mit Sand bestreuten Spiel-
platz wanderte, an einem Punkte x
fixierte, indem ich eine kleine
runde Schachtel über ihr ın den r
Sand stülpte. Es war genau 3 Uhr
nachmittags. Ich ließ die Ameise ‚30
genau 2 Stunden gefangen. Als ich .
um 5 Uhr das Schächtelchen weg- /
nahm, saß die Ameise unbeweglich X
im Zentrum des kleinen Kreises. Sie
drehte sich langsam um und wan- o
derte wiederum fast geradlinig über 5"pm
den Sandplatz zurück, in der Rich- arm
tung des Beetrandes, an dem sich fig. 88 Nachweis der Orien-
ihr Nest befand. Doch wich ıhre tierung nach der Sonne durch
Rückweglinie von der Hin- den „Fixierversuch“. (Nach
kurve um 30° nach rechts ab, Brun, Raumorientierung der
E Ameisen.)
d.h. um genau so viele Bogen-
grade, als dieSonne während der 2Stunden am Firmament
nach links gewandert war (Fig. 8). Ich wiederholte den Ver-
such, indem ich den Zeitraum der Fixierung variierte: Der Ab-
weichungswinkel der Rückkurveentsprach in allen Fällen
dem betreffenden Sonnenwinkel, mit einem Fehler von meist
nur !/,—1 Bogengrad (nur in einem Falle betrug er 6 Bogengrade).
— Dass die Ameisen die Zeit ihrer Gefangenschaft und die Tat-
sache, dass die Sonne inzwischen am Firmament weiter wandert,
nieht in Rechnung bringen, ist nicht verwunderlich; — es wäre im
Gegenteil wunderbar, wenn sie diesen logischen Schluss machen
würden!
Ich denke, diese Beobachtungen dürften vollkommen genügen,
um die Richtigkeit der Lichtkompasstheorie von Santschi darzu-
tun. Bedarf es da noch positiver Beweise gegen die Cornetz’sche
248 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
Lehre von der Existenz eines (erkenntnistheoretisch unmöglichen
und physiologisch undenkbaren) absoluten Richtungssinnes? Ich
bin indessen im Falle, auch solche positive Gegenbeweise anzu-
führen, und zwar haben wir dieselben bereits kennen gelernt. Sie
erinnern sich an jene Brückenfährte, auf welcher wir das Bethe’sche
Polarisationsphänomen analysierten. Wir hatten damals die Mög-
lichkeit der Lichtorientierung vermittelst der Methode der bipolaren
Beleuchtung vollständig ausgeschaltet. Trotzdem waren die Ameisen
zur Not noch imstande, die beiden Richtungen ihres Weges zu
unterscheiden, da ihnen das „Wärmer- und Kälterwerden“ des Nest-
geruchs noch immer eine gewisse Richtungsangabe vermittelte. Als
‘wir ihnen aber, durch Verwandlung der Futterfährte ın eine Brut-
fährte auch diese letzte Möglichkeit genommen hatten und nun
Larven von der Mitte der Brücke abholen ließen, da zeigte es sich,
dass die Ameisen vollständig dem Zufall ausgeliefert waren, ob sie
in der Richtung des Nestes oder in der entgegengesetzten Richtung
aus der Mitte abgingen, denn 50% gingen eben falsch. Dieses
Falschgehen von 50% aller Ameisen nach Ausschaltung
aller äußeren sinnlichen Orientierungszeichen beweist,
dass etwas ähnliches wie ein absoluter innerer Rich-
tungssinn nicht existiert.
Andererseits versagt aber mein „Fixierversuch“* gerade
bei den mit den besten Augen ausgestatteten und auch psychisch
höherstehenden Arten der Gattung Formica meist vollständig,
indem die Tiere nach der Fixierung ihre frühere Richtung ohne
merkbare Abweichung wieder aufnehmen. Auch sonst deutet
manches darauf hin, dass diese Ameisen sich auf ihren Einzel-
gängen meist in viel freierer Weise orientieren als dies mit dem
Lichtkompassmechanismus von Santschi vereinbar wäre. Es
gelang mir hier auch verhältnismäßig selten, einen typischen
Pieron’schen Parallellauf zu erzeugen, namentlich dann nicht,
wenn der seitliche Transport nur einige Meter betrug, indem die
Ameisen dann nicht selten die seitliche Abweichung durch ent-
sprechendes Traversieren prompt ausglichen. Kurz, man hat den
Eindruck, dass die Fernorientierung hier größtenteils durch diffe-
renzierte visuelle Komplexe vermittelt wird, vielleicht durch
-die mehr oder weniger verschwommene Wahrnehmung gewisser
entfernter großer Objekte (Bäume, Häuser o. dgl.), mit deren Stand-
ort die räumliche Lage des Nestes assoziiert wird. Zugunsten dieser
Annahme sprechen auch die Resultate gewisser anderer Experi-
mente, die ich — ursprünglich, um den Einfluss kinästhetischer
Winkelregistrierungen zu studieren — bei Formica sangutnea VOr-
nahm. Dieselben bestanden darin, dass ich eine Ameise vom Nest
fortjagte und durch Lenken mit den Händen zwang, auf dem oben
erwähnten freien Sandplatz einen in bestimmter Weise kurvierten
Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 349
Weg zurückzulegen, den ich vorher in den Sand gezeichnet hatte.
Zu meiner Überraschung kehrten die Ameisen nach Absolvierung
eines solchen „Zwangslaufes“ stets ohne weiteres und auf der
direktesten Linie zum Neste zurück, obwohl der Endpunkt, wo
ich sie freigab, oft recht weit, 20—34 m, vom Nest entfernt war.
Und zwar erfolgte die Rückkehr nach rechtwinkligem (zwei-
achsigem) Zwangslauf merkwürdigerweise nicht mittelst sukzes-
siver Reversion der beiden Schenkel des Weges, sondern gegen die
Cornetz’sche Regel, in der Diagonale, also durch direkte
Schließung des Polygons (Fig. 9). Nun ließ ich die Ameisen
große Kreisbögen oder in anderen Fällen sehr komplizierte viel-
winklige Kurven mit zahlreichen Gegenrichtungen beschreiben; die
Rückkehr geschah in den ersten Fällen prompt in der Sekante, in
den zweiten Fällen in
der ungefähren Resul-
tante der Hinkurve, also
wiederum ziemlich di-
rekt in der Richtung des
Nestes. Wurden die Ameı-
sen vor Ausführung des
Zwangslaufes, direkt vom
Nest auf den Endpunkt
der Kurve transportiert,
so zeigten sie sich voll- x
ständig desorientiert; — Fig.9. Das „Zwangslaufexperiment“. Zwei-
ein Beweis, dass das allge Ze ms Nr (gestrichelte Linie).
eireffönde Bichtimes Rückkehr in der Diagonale (ausgezogene Linie).
: oO (Nach Brun, Die Raumorientierung der
engramm tatsächlich wäh- Ameisen.)
rend des Zwangslaufes
erworben wurde. Nun blendete ich mehreren Ameisen die Fazetten-
augen nach Forel’s Methode und ließ sie dann einen einfachen zwei-
achsigen Zwangslauf ausführen: Sie waren absolut unfähig zur Heim-
kehr, nur ein einziges Tier machte einen mühsamen Versuch, den
zweiten Schenkel der Reise zu revertieren. Folglich kann der
Diagonallauf nicht etwa auf komplizierter Assoziation kinetischer
Winkelengramme beruhen! Und endlich ließ ich eine Ameise einen
zweiachsigen Zwangslauf auf sehr große Distanz ausführen, einen
Weg, dessen zweiter Schenkel weit über jenen freien Sandplatz
hinausführte. Der Erfolg war der, dass das Tier bei der Rückkehr
zunächst nicht die Diagonale einschlug, sondern den zweiten Schenkel
des Weges revertierte und erst nach Wiederankunft auf dem
freien Platz plötzlich in der Richtung des Nestes korrigierte.
Und nun zur Frage: Ist bei Ameisen auch ein echtes, aus
sukzessiv assoziierten Engrammen aufgebautes individuelles Orts-
gedächtnis, wie es bekanntlich bei Bienen in einwandfreier Weise
250 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
festgestellt werden konnte, nachweisbar? Unsere bisherigen Beob-
achtungen scheinen nicht dafür zu sprechen, sie zeigen höchstens,
dass einige psychisch hochstehende Arten imstande sind, im Laufe
einer aktuellen Reise gewisse visuelle Richtungszeichen zu engra-
phieren, mit welchen sie die Lage des Nestes simultan assozileren;
doch schienen sie nicht mehr fähig, im weiteren an diesen Rich-
tungskomplex nun auch die Örtlichkeit, welche den Endpunkt ihrer
Reise bildete, zu assoziieren und somit einen sukzessiv asso-
zuerten Engrammkomplex a—b—-ec zu fixieren, — ein Vorgang,
welcher allein den Namen eines echten Ortsgedächtnisses verdient.
Auch Cornetz hat die Existeuz eines solchen ohne weiteres ver-
neint, gestützt auf seine Erfahrung, dass Ameisen nach Transport
vom Nest weg sich in allen Fällen vollständig desorientiert zeigen.
Demgegenüber verfüge ich aber über eine ganze Reihe
von Beobachtungen bei Formica, in welchen diese Ameisen
sich nach dem besagten primären Transport auf 30 m Ent-
fernung fast augenblicklich auf dem kürzesten Wege
nach dem Nest reorientierten. Allerdings hatte ich meine
Ameisen nicht wahllos an irgendeinen beliebigen Ort x versetzt,
sondern auf eine Örtlichkeit, die von der betreffenden
Kolonie früher einmal nachweislich sehr häufig besucht
worden war, und von der somit noch am ehesten zu er-
warten war, dass zahlreiche Individuen individuelle
Engramme von derselben besaßen. Natürlich führte ich aber
die Experimente jeweilen erst dann aus, nachdem dieser Verkehr
seit Wochen gänzlich eingestellt war und wandte auch dann
noch alle Kautelen an, um die Möglichkeit, dass die Tiere vielleicht
doch eine noch vorhandene Geruchsspur verfolgten, mit Sicherheit
ausschließen zu können.
Es ıst somit diesen Tieren ein individuelles, auf suk-
zessiv assoziierten Richtungsengrammen aufgebautes
echtes Ortsgedächtnis unbedingt — wenn auch in be-
scheidenem Umfange — zuzuschreiben. Wie wir uns diesen
Mechanismus im einzelnen vorzustellen haben, darüber kann ich
mich vorläufig nur vermutend äußern. Wahrscheinlich wird der
Engrammkomplex der betreffenden entfernten Örtlichkeit zunächst
auf topochemischem Wege ekphoriert; hierauf stellen sich die
weiteren, vermutlich in erster Linie visuellen, Richtungsengramme
ein, welche diese Örtlichkeit mit einer zweiten intermediären oder
mit dem Neste assoziativ verknüpfen. Die diesen Engrammen ent-
sprechenden (homophonen) Komplexe in der Außenwelt (bestimmte
Baumgruppen, das verschwommen perzipierte Bild einer weißen
Hauswand u. s. w.) werden aufgesucht und nun wird dieser, aus
drei, event. noch mehr Gliedern bestehende Richtungsengramm-
komplex sukzessive wieder abgewickelt. —
-
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete., 251
Haben wir jetzt alle ÖOrientierungsmittel, über welche die
Ameisen möglicherweise verfügen, erschöpft? Keineswegs! Noch
haben wir eine wichtige Gruppe — die kinästhetischen Rich-
tungszeichen — kaum erst erwähnt. Allerdings ist die Frage
der kinästhetischen Orientierung bei Ameisen noch sehr mangelhaft
studiert und auch die wenigen bisher vorliegenden Angaben der
Autoren sind m. E. nicht einwandfrei. Man hat sich lange darüber
gestritten, ob Insekten imstande seien, die Schwerkraft zu
empfinden und man glaubte im allgemeinen diese Frage verneinen
zu müssen im Hinblick auf das ungemein geringe Körpergewicht
der Insekten, das bei der relativ ungeheuren Muskelkraft, welche
diese Tiere bekanntlich entwickeln, gar nicht in Betracht komme.
Demgegenüber gelang es mir, den Nachweis zu erbringen, dass
Ameisen nicht allein fähig sind, schon mäßige Terrain-
steigungen auf rein kinästhetischem Wege wahrzu-
nehmen, sondern dass sie zur Not — d.h. bei Ausschluss
aller übrigen Richtungszeichen — auch imstande sind,
sich auf Grund dieses einzigen dürftigen kinästhetischen
Engramms allein noch einigermaßen zu orientieren.
Meine Versuchsanordnung war folgende: Ich befestigte am
Rande meines großen Experimentiertisches ein künstliches Nest
mit einer kleinen Kolonie von F. rufa. Die Ausgangsröhre des
Nestes mündete auf die Tischplatte. Dieser Tisch ist so konstruiert,
dass seine Platte in allen Ebenen des Raumes drehbar ist und
zwar sind alle Bewegungsachsen genau zentriert. Bei diesen Experi-
menten nun war die Tischplatte in der Ausgangsstellung um
20° nach der Nestseite geneigt, derart, dass der Nesteingang die
tiefste Stelle bildete. Die Tiere mussten von hier zum Honig, der
sich genau im Zentrum des Tisches in einem runden Näpfchen
befand, ansteigen. Durch bipolare Beleuchtung, die in der Trans-
versalebene des Tisches zu beiden Seiten desselben angebracht war,
wurde für Ausschaltung der Lichtorientierung gesorgt und das ganze
System befand sich im Zentrum eines Dunkelzeltes. Ich wartete
nun jeweilen, bis eine Ameise am Honig saß und kehrte dann
die Neigung des Tisches geräuschlos in die entgegen-
gesetzte um, so dass sich das Nest jetzt oben befand. Die Tiere
wollten, nachdem sie genug gefressen hatten, natürlich nach Hause;
aber da war guter Rat teuer! Die Ameisen schwankten zunächst
eine geraume Zeit unentschlossen zwischen beiden Richtungen hin
und her, indem sie nach jeder Seite nur einige Zentimeter zurück-
legten und immer wieder zum Honig zurückkehrten. (Man beachte
hier die Differenz mit den Lasius unserer Brückenspur, die gewöhn-
lich ohne weiteres aufs Geratewohl in einer Richtung davonrannten;
— die Formica dagegen schienen sich offenbar eines Dilemmas
bewusst zu sein.) Endlich entschlossen sie sich aber doch für eine
359 Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter ete.
Richtung, und zwar gingen alle ohne Ausnahme abwärts, ziem-
lich genau nach dem tiefsten Punkt, wo sie lange Zeit
eng begrenzte Kurven beschrieben, ganz als ob sie den
verschwundenen Nesteingang suchten! Sie hatten somit in
der Tat eine virtuelle Orientierung nach der Schwerkraft
ausgeführt!
Damit will ich meine Ausführungen schließen. Die Aufgabe,
das verwickelte Thema im knappen Rahmen einer Stunde vorzu-
führen, gestattete mir nicht, auf zahlreiche interessante Einzelfragen
näher einzugehen. Ich denke aber, Sie werden nach allem, was
Sie eben gehört haben, doch die Überzeugung gewonnen haben,
dass die Fernorientierung der Ameisen ein ungemein
komplizierter psychophysiologischer Vorgang ist, bei
welchem je nach den vorwaltenden Umständen und je
nach der Organısation der betreffenden Art, Erfahrungen
der verschiedensten Sinnesgebiete: topochemische, topo-
graphische, visuelle, kınästhetische Eindrücke bald für
sich allein, häufiger aber kombiniert zur individuellen
Engraphie und Ekphorie gelangen. Wir haben es in der
Hand, in jedem Einzelfalle die Art der Mitbeteiligung jedes einzelnen
dieser Faktoren durch geeignete Versuchsanordnungen festzustellen
und so allmählich zu einer befriedigenden Analyse des ganzen kom-
plexen Mechanismus fortzuschreiten.
Dank der Anwendung solcher ım streng physiologischen Sinne
exakter Versuchsanordnungen in Verbindung mit der neutralen
Terminologie von Semon sind wir nunmehr auch ein- für allemal
der Versuchung enthoben, unsüber vergleichend-psychologische Fragen
in unfruchtbaren Spekulationen zu verlieren; die vergleichende
Psychologie ist zur exakten Wissenschaft geworden, zur
vergleichenden Physiologie der individuellen Mneme.
Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter
aus eigenen Mitteln ersetzen?
Von €. Emery (Bologna).
Anfang November 1910 erhielt ich aus Porticı eine Anzahl
Arbeiterinnen und viele kleine Larven von Messor barbarus minor
Er. Andr& aus einem Nest; kein Weibchen war vorhanden.
Ich setzte die Ameisen in ein Janet-Nest und hielt es, während des
Winters, in meinem geheizten Studierzimmer. Die Larven ent-
wickelten sich sehr langsam; die erste Puppe sah ich am 6. Juni
1911, die ersten Arbeiterinnen erst Mitte Juli. Eine Larve wurde
gewaltig groß; daraus entwickelte sich am 11. August ein geflügeltes
Weibchen.
Am 3. März hatte ich einen Klumpen von ungefähr 30 Eiern
bemerkt, die jedenfalls von den Arbeiterinnen gelegt waren; andere
Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter ete. 353
Eier kamen dann und wann hinzu. Die Eier der Arbeiterinnen
entwickelten sich und die Larven, dıe daraus ausschlüpften, wuchsen
verhältnismäßig rasch. Einmal groß geworden, wurden sie aber
sehr verschieden von den gewöhnlichen Larven, d. h. von den Ar-
beiterinnen- und Weıibchen-Larven. Sie schwollen an, wurden sozu-
sagen hydropisch; ‚die meisten wurden von den Arbeiterinnen auf-
gefressen oder an andere Larven verfüttert; eine einzige gelangte
endlich zum Puppenstadium und lieferte Ende September ein Männ-
chen, leider mit geschrumpften Flügeln. Im Oktober sah ich
mehrere hydropische Larven, welche sich zu Männchen-Puppen
umwandelten, aber gefressen oder verfüttert wurden; keine wurde
zur lmago!').
Ich weıß nicht, ob das Weibchen, das anscheinend normal ent-
wickelt war (es hatte nur ein verkrüppeltes Bein) und unterdessen
seine Flügel zum Teil verloren hatte, mit dem Männchen kopuliert
hatte. Ich glaube nicht, dass das Weibchen bis zu seinem Tod
Eier gelegt hat; es lebte bis zum 25. Juni 1912.
Diese Beobachtung ist deswegen interessant, weil sie vermuten
lässt, dass gewisse Ameisen, falls ihre Königin durch irgendwelchen
Zufall stirbt und sie junge Larven haben, nicht nur ein junges
Weibchen erziehen, sondern fast gleichzeitig aus den parthenogene-
tischen Eiern der Arbeiterinnen Männchen bekommen können.
Letztere mögen mit den Weibehen ım Nest kopulieren und die-
selben befruchten. So würde eine echte befruchtete Königin zu-
stande gebracht werden.
Wasmann berichtet?), dass P. E. Deckelmeyer beim Um-
wälzen eines Steines bei Barro in Portugal einen merkwürdigen
Fund machte. Ein starkes Nest von Pheidole pallidula enthielt,
außer Arbeiterinnen und Soldaten, einige Männchen-Puppen und
5 sonderbare Individuen (2 ausgefärbte, 2 unausgefärbte und eine
ganz weiße Puppe), die Wasmann als ergatoide Weibchen deutet;
sie waren durch das Vorhandensein einer Stirnocelle, sowie eines
langen Hinterleibes ausgezeichnet. Kein geflügeltes Weibchen und
keine Königin war vorhanden.
Wasmann nimmt an, die Männchen und die ergatoiden Weib-
chen seien Schmarotzerameisen einer arbeiterinnenlosen Art (Phei-
dole symbiotica Wasm.), die im Nest von Ph. pallidula haust. Er
ist in seiner Annahme bestärkt durch kleine Unterschiede in den
Fühlern der Männchen-Puppen von Ph. symbiotica gegen Ph. palli-
dula. Die .Fühler sind nämlich schlanker, das erste Geißelglied
weniger verdickt und das Endglied ist länger (doppelt so lang wie
das vorletzte).
l) Vergl. Rend. Accad. Se. Bologna, Anno 1911—12, p. 108.
2) Diese Zeitschrift, Bd. 29, p. 693; Bd. 30, p. 515 (1909—1910).
254 Nöller, Die Übertragungsweise der Rattentrypanosomen.
Die Fühler des Männchens von Pk. pallidula sind aber ın
ihrem Bau ziemlich veränderlich; ich finde nämlich Charaktere,
wie die, welche von Wasmann bei Ph. symbiotica beschrieben
wurden, bei einem Männchen von var. Zristis For. aus Tunesien
und bei Männchen aus Portugal, die mit normal geflügelten Weib-
chen gefangen wurden.
Der Bau der Männchen beweist also nichts für die Anschauung
Wasmann’s, aber er beweist auch nichts dagegen.
Das von Wasmann abgebildete ergatoide Weibchen bietet eine
auffallende Ähnlichkeit mit den Individuen von Ph. absurda For. aus
Costa Rica, die ich damals ebenfalls als ergatoide Weibchen beschrieben
und abgebildet habe und die sich nachträglich als mit Mermis infi-
zierte Weibchen (oder Soldaten) entpuppt haben. Diesen Verdacht
teilte ich Herrn Wasmann mit. Er hatte die Güte, eines seiner
Exenplare ın Zedernöl zu legen und dadurch durchsichtig zu machen,
um, falls der vermutete Wurm vorhanden wäre, ıhn unter dem
Mikroskop zu erkennen. Das Resultat war vollständig negativ; die
ergatoiden Weibchen von Ph. symbiotica enthielten keinen Mermis.
Wasmann’s Ansicht, dass die ergatoiden Weibchen und die
Männchen, die sich in demselben Nest vorfanden, einer besonderen
parasitischen arbeiterinnenlosen Ameise angehören, ıst ganz gut
annehmbar, aber sie ıst durchaus nicht bewiesen.
Ich möchte eine andere Erklärung resp. Hypothese äußern.
Ph. pallidula hat ın jedem Nest, wie ich beobachtet habe, stets nur
eine Königin; wenn sıe stirbt und nicht ersetzt wird, ıst das Volk
weisellos. Ich vermute, dass das Nest von Barro im Winter
oder im Beginn des Frühlings weisellos wurde. Die
ergatoiden Weibchen würden aus dem Rest von Larven
der toten Königin stammer, welche nicht jung genug
waren um zu normalen, geflügelten Weibchen gezüchtet
zu werden. Die Larven der Männchen dagegen würden
sich aus parthenogenetischen Eiern der Soldaten ent-
wickelt haben. '
Die hypothetische Erklärung, die ich vorschlage, ist ungefähr
dieselbe, die in meinem künstlichen Nest sıch als Tatsache ereignete,
aber mit einem Unterschied: dass ım Fall von Messor das Weib-
chen normal geflügelt ist, im Fall von Ph. symbiotiea die Weibchen
ergatoid sind. Ich habe versucht, durch meine Vermutung den
Grund des Unterschiedes klarzulegen.
Wilhelm Nöller: Die Übertragungsweise der
Rattentrypanosomen.
Jena 1914, Gustav Fischer, gr. 8, 33 S., S Textfig. u. 2 Tafeln.
Als Broschüre sind hier zwei Abhandlungen vereinigt, die 1912
und 1914 im Archiv für Protistenkunde veröffentlicht worden sind.
Besonders wichtig ist zunächst die Technik des Verfassers: er be-
Nöller, Die Übertragungsweise der Rattentrypanosomen. 355
schreibt genau, wie es ıhm gelang, in Nachahmung des Verfahrens
der Flohzirkusleute, Flöhe, und zwar vorzugsweise Hundeflöhe, in
ein Drahtgestell zu fesseln, in diesem regelmäßig an Versuchstieren
zu füttern und sie so einzeln wochenlang in Gefangenschaft zu
halten. Auch über die Präparation der Flöhe zur mikroskopischen
Untersuchung und über die zweckmäßige Fesselung von Ratten für
solche Versuche finden sich genaue Angaben.
Diese technischen Fortschritte haben es ermöglicht, sichere Er-
gebnisse zu gewinnen über die Bedeutung der Flöhe für die Über-
tragung von Trypanosomen; sie werden sich auch auf andere, meist
oder zuweilen durch Flöhe übertragene Infektionskrankheiten an-
wenden lassen. Ein Seitenzweig der Forschungen N.s betrifft die
Flagellaten als Darmparasiten der Flöhe: mehr oder weniger aus-
führliche Angaben über Leptomonas Aenocephali Fantham, eine
noch unbenannte Leptomonas aus Ceratophyllus gallinae und colum-
bae, Legerella parva N., Nosema pulicis N., Malpighiella refringens
Minchin sind in der Arbeit enthalten.
Die Hauptergebnisse sind, dass Trypanosoma Lewisi zunächst ım
Flohmagen eine intrazelluläre Entwickelung und Vermehrung durch-
macht, wie schon Minchin und Thomson beobachtet hatten, dann
aber die jungen Flagellaten sich im Enddarme frei an dem Epithel fest-
heften und sich hier (nicht bei allen infizierten Flöhen) derart vermehren,
dass sie ein Hindernis für den Kot darstellen und nach mehreren Tagen,
während oder nach einem neuen Saugakt, in großen Mengen mit
dem Kot entleert werden. Die Ratten erwerben die Infektion durch
das Ablecken der trypanosomenhaltigen Flohfäces. Wahrscheinlich
kann auch Verspritzen der Fäces auf Schleimhäute (wie die Augen-
bindehaut) oder Einreiben derselben in die Stichwunde die Infektion
übertragen. Ein direktes Einimpfen durch den Flohstich, infolge
einer Überwanderung der Trypanosomen durch das Cölom der
Flöhe in Speicheldrüsen oder infolge Regurgitierens von Magen-
inhalt kommt nicht vor oder nur ganz ausnahmsweise. Diese Ver-
mehrung der Trypanosomen im Floh scheint aber ın der Regel nur
beim Saugen auf einer ziemlich frisch infizierten Ratte einzutreten.
Flöhe, die an vor längerer Zeit infizierten, chronisch kranken
Ratten saugen, werden nicht infektiös.
Das Ergebnis, dass die Flöhe nach Ablauf einer nichtinfektiösen
Periode leicht durch ihre Fäces infizieren, erscheint dem Verfasser
für die phylogenetische Ableitung der Blutflagellaten interessant.
Er sıeht darin den einfachsten Weg, auf dem Insektenflagellaten
zu Blutparasiten der Wirbeltiere werden konnten. Mit den Floh-
fäces ausgestoßene Trypanosomen seien auf den Schleimhäuten des
Säugetierwirts in günstige Lebensbedingungen geraten und seien
dann in die Blutbahn eingedrungen, von der aus sie wiederum den
blutsaugenden Insektenwirt infizieren konnten.
Die Versuche v. Prowazek’s über die Übertragung des Tryp.
Lewisi durch die Rattenlaus, Hämatopinus spinulosus Burm., kann
Verfasser, wie schon andere Forscher, ım ganzen bestätigen. Er
glaubt aber doch „die Entwickelungsformen“ in der Laus nicht als
solche im spezifischen Hauptwirt, sondern als Degenerations- oder
256 Lindau. Kryptogamenflora für Anfänger.
Kulturformen deuten zu sollen. Sein Hauptargument ist, dass die
infizierten Läuse nur kurze Zeit, allerhöchstens 20 Tage infektions-
tüchtig bleiben und sich m ihnen eine Steigerung der Infektions-
tüchtigkeit der Trypanosomen durchaus nicht zeige, die dagegen im
Kote der infizierten Flöhe sehr deutlich sei. Auch bei den infi-
Ben Läusen finden sich die Trypanosomen im Kot; den von
„. Prowazek beobachteten Übertritt in die Leibeshöhle der Läuse
ee N. immer auf Verletzungen (beim Fangen der Läuse) zurück-
führen zu müssen.
Seiner Arbeit schließt N. eine versuchsweise Einteilung der
Trypanosomen nach ihrer Übertragungsweise an; dieser Versuch
soll hauptsächlich zu einer genaueren Beachtung der letzteren bei-
tragen, denn selbstverständlich will der Verfasser Morphologie und
Tierpathogenität i in ihrer systematischen Bedeutung nicht erschüttern.
Die Frage, ob ein Trypanosoma in zwei Blutsaugern, die ganz ver-
schiedenen Tiergruppen angehören, beidemal eine echte Entwicke-
lung durchmachen könne, sieht er für noch nicht entschieden an.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis bis Ende 1913 schließt die
Abhandlung. W.R.
G. Lindau, Kryptogamenflora für Anfänger.
Bd. IV,2. Die Algen. 8, 200 S. mit 437 Fig. Berlin 1914, J. Springer.
Der vorliegende Band der Kryptogamenflora enthält einige
besonders schwierige Familien, z. B. die Desmidiaceen und Oedo-
goniaceen, in denen es für den Anfänger schwer ist, sich zurecht-
zufinden. Um so notwendiger ist eine Anordnüng der Bestimmungs-
tabellen, die praktische Zwecke verfolgt, ohne die wissenschaftliche
Grundlage vermissen zu lassen. Das dürfte gut gelungen sein.
Nur erscheint es dem Ref. zweifelhaft, ob es gut ist, die heute
als Mesotaeniaceen zusammengefassten Gattungen, die eine recht
natürliche Gruppe bilden, wieder unter die Desmidiaceen einzuordnen
und die Gattungeu Penium und Closterium zwischen sie einzuschieben,
Wer physiologisch und ökologisch zu denken gewöhnt ist,
kann das Bändchen nicht durchbl: ättern ohne den Wunsch zu hegen,
dass recht viele dieser hier aufgeführten, z. T. recht sonderbaren,
fast wie durch eine Laune der Natur geschaffenen Formen hinsicht-
lich ihrer Bedürfnisse und Standortsverhältnisse auf Grund von
Beobachtungen und Züchtungsversuchen erforscht werden möchten.
Es sind das Aufgaben, zu denen gar keine großen Mittel gehören,
die größtenteils selbst ohne eigentliches Laboratorium in Angrift
genommen werden können. Einige Glasgefäße und Salze sowie ein
Destillierapparat zur Herstellung reinen Wassers genügen neben
dem natürlich unentbehrlichen Mikroskop. Und welche Fülle von
Anregungen und Ergebnissen, die erst in ihrer Gesamtheit volle
Früchte tragen werden, erwarten den, der die nötige Geduld hat.
Möge die Lindau’sche Flora in diesem Sinne anregend wirken!
E. G. Pringsheim.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
DESK, Goebel und... ‚Dr.’R& Hertwie
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem
Berg 14, einsenden zu wollen.
Bd. XXXV. 20. Juli 1915.
E7TT
Inhalt: Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln gegen Tierfraß und
ihre Lösung. — Toenniessen, Uber Vererbung und Variabilität bei Bakterien. — War-
ming's Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie. — v. Buttel-Reepen, Leben und
Wesen der Bienen. — Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre
Ziele, III. 4. I. Allgemeine Biologie.
Die Frage von den natürlichen Pfianzenschutzmitteln
gegen Tierfrals und ihre Lösung.
Erörtert in kritischer Besprechung von W. Liebmann’s Arbeit
„Die Schutzeinrichtungen der Samen und Früchte gegen unbefugten
Tierfraß“.
Von Franz Heikertinger in Wien.
Die nachfolgende Abhandlung bildet die Ergänzung einer
anderen, die im Vorjahre unter dem Titel „Über die beschränkte
Wirksamkeit der natürlichen Schutzmittel der Pflanzen
gegen Tierfraß“ ın dieser Zeitschrift erschien. Wie dort
E. Stahl’s Studie „Pflanzen und Schnecken“, so bildet hier die ım
Untertitel genannte Arbeit Liebmann’s!) Ausgangspunkt und Grund-
lage der Darlegungen.
1) Jenaische Zeitschr. f. Naturwissensch., Bd. 46, S. 445—510, Jahrg. 1910,
und Bd. 50, 8. 775—838, Jahrg. 1913. — Liebmann hat seine Untersuchungs-
ergebnisse überdies in populärer Form in einer selbständigen Broschüre „Die Be-
ziehungen der Früchte und Samen zur Tierwelt“ (Leipzig 1914, Verl.
Quelle & Meyer) veröffentlicht. Da dieselbe im wesentlichen nur ein Auszug aus
seiner erstgenannten Publikation ist, habe ich sie im folgenden nicht besonders be-
rücksichtigt.
XXXV. 17
258 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
Was meine seinerzeit?) zum Ausdrucke gebrachte Auffassung
der Dinge anbelangt, so finde ich auch im gegenwärtigen Falle
nicht nur keinen Anlaß, von meinem — übrigens völlig theorien-
losen — Standpunkte abzugehen, sondern glaube im Gegenteile
mit Vorliegendem einen neuen Beweis für die Richtigkeit desselben
erbracht zu haben. Das Urteil hierüber will ich allerdings dem
Leser überlassen, den ich um nichts als um Vorurteilslosigkeit bitte.
Er möge sich von manchem, das er früher gelesen oder vielleicht
sogar geschrieben hat, frei und unabhängig machen.
Einigen Einwänden, die meinen früheren Artikeln gegenüber
gemacht wurden, bin ich hier erläuternd begegnet und glaube alles
in allem die Lösung der so hoffnungslos scheinenden Frage wenn
nicht gegeben, so doch angebahnt zu haben.
Was die Arbeit Liebmann’s selbst anbelangt, so fühle ich
mich verpflichtet, ausdrücklich zu erwähnen, dass dieselbe, sofern
positive, experimentell gewonnene Feststellungen in Betracht kommen,
außerordentlich hochwertig ist. Seine Untersuchungen über den
Geschmackssinn der Vögel sind von weittragender Bedeutung und
ich werde mir gestatten, mich bei anderer Gelegenheit auf sie zu
berufen. Dass Liebmann zu (meines Erachtens) falschen Schluss-
folgerungen gelangte, war lediglich die Folge falscher Voraus-
setzungen, war das Dogma von dem unbedingten Vorhandensein
natürlicher Pflanzenschutzmittel, von dem er ausging.
Nochmals stelle ich fest: Hier wie in meinen eingangs genannten
Abhandlungen handelt es sich mir nicht um Verfechtung einer vor-
gefassten Meinung, einer Theorie, sondern lediglich um ein ein-
faches, unbefangenes Ergründen der wahren Zusammenhänge der
Dinge. Und was an scharfen Worten fallen sollte, gilt keiner
Person, sondern nur einer Sache, die ich als Irrtum mit voller
Kraft bekämpfen zu müssen glaube.
I. Die Grundlagen der Schutz- und Anloekungsmitteltheorie.
Der Standpunkt, auf dem Liebmann von vornherein steht,
ist derjenige der typischen Schutzmitteltheorie.
Ich zitiere aus der Einleitung zu seiner Abhandlung:
(S. 445.) „... Es ıst jedoch bekannt, dass sämtlichen Pflanzen,
auch scheinbar ganz wehrlosen, irgendwelche Einrichtungen zu Ge-
bote stehen, mittels deren sie die wichtigsten tierischen Feinde
abhalten können; eine Pflanze ohne jedes Schutzmittel wäre ganz
2) „Über die beschränkte Wirksamkeit der natürlichen Schutz-
mittel der Pflanzen gegen Tierfraß. Kine Kritik von Stahl’s biologischer
Studie ‚Pflanzen und Schnecken‘ im besonderen und ein zoologischer Ausblick auf
die Frage im allgemeinen.“ Biol. Centralbl. XXXIV, S. 8S1—-108; 1914. — „Gibt
es natürliche Schutzmittel der Rinden unserer Holzgewächse gegen
Tierfraß? Ein Beitrag zur Frage des ‚Kampfes ums Dasein‘ zwischen Pflanze
und Tier.“ Naturwiss. Zeitschr. f. Forst- und Landwirtsch. XII, S. 97”—113, 1914.
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 959
undenkbar, weil sie sofort ihres guten Geschmackes und ihrer
leichten Erreichbarkeit halber von den Tieren ausgerottet werden
würde. Keine von diesen Einrichtungen ist so vollkommen, dass
sie alle Feinde abschrecken könnte; meist geht der Schutz nur so
weit, dass die Erhaltung des Individuums gerade gesichert ist.“
Nach dieser Schutzmitteltheorie sind die „Schutzmittel“ also
das arterhaltende Prinzip im Daseinskampfe der Pflanze gegen das
Tier. Welcher Art diese Schutzmittel sind, ıst bekannt genug.
Wir haben chemische in Gestalt von abwehrendem Geruch oder
Geschmack oder von Giften, wir haben mechanische in Gestalt von
harter Oberhaut, von Haaren, Stacheln, Dornen u. s. f. — Es ist ja
ın den letzten Jahrzehnten genug darüber geschrieben worden.
Im Falle der Schutzmittel der Früchte, die den Gegenstand
der folgenden Abhandlung bilden sollen, kompliziert sich die Frage
jedoch ein wenig. Neben hartschaligen, schutzfarbenen, trockenen
Früchten, die in jeder Hinsicht kampfbereit der Tierwelt gegen-
überzustehen scheinen, finden sich auch weiche, angenehm riechende
und schmeckende Früchte von auffälliger Färbung. Wie bestehen
diese im Kampfe?
Die Frage ist scheinbar leicht zu lösen. Diese schönen, wohl-
riechenden und wohlschmeckenden Früchte haben im Innern relativ
kleine, harte Samen. Die Tiere nun, die diese weichen Früchte
fressen, kümmern sich um die Samen nicht; diese letzteren werden
entweder zurückgelassen oder mitgefressen und gehen im letzteren
Falle meist unverdaut und ohne Beeinträchtigung ihrer Keimfähig-
keit durch das Tier. Die fleischige Frucht bedarf also keiner Schutz-
mittel, da ihr Untergang nicht zugleich auch die Samen trifft und
mithin die Existenz der Pflanzenart nicht gefährdet. Der nächste
Schritt auf dem Wege dieser Überlegungen war die Erkenntnis,
dass die Pflanzen durch das Besen derartiger Früchte
sogar Nutzen davontragen, indem sie durch die Tiere weiter ver-
breitet werden — und weiters der nächste Schritt war die An-
nahme, dass die Pflanzen überhaupt nur darum fleischige, grell-
farbige, wohlschmeckende Früchte ausgebildet haben, um sich diesen
Verbreitungsvorteil durch Tiere zu sichern. In mehr oder minder
teleologischer Fassung finden wir diese Annahme, von manchem
Autor zur Gewissheit gestempelt, allenthalben wieder. Streng
selektionistisch, also kausal-mechanistisch, den Weg des Werdens
solcher Eigenschaften zu verfolgen, daran denkt kaum jemand.
Nicht einmal die zur Klarheit des Ganzen so unbedingt notwendige
reine, selektionistische Stilisierung findet stets Anwendung. Die
Stilisierung treibt vielfach die üppigsten Blüten teleologischer, also
die wirklichen Verhältnisse völlig verschleiernder Redewendungen.
Um nur ein Beispiel gleich aus der hier besprochenen Arbeit
zu geben:
me:
260 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
(S. 447.) „... Jedoch auch für pflanzliche Gebilde ist es unter
Umständen vorteilhaft, an einen anderen Ort zu gelangen, wenn
es sich nämlich um die Verbreitung der Samen und Früchte handelt.
Manche Pflanzen haben sıch nun die größere Beweglichkeit ihrer
tierischen Feinde, ın unserem Falle also der Vögel und Säugetiere,
zu nutze gemacht um diesen Zweck zu erreichen.. .?).*
„Sich etwas zu nutze machen“ „um einen Zweck zu erreichen“,
einen Zweck, der wie hier noch dazu den Interessen des Individuums
an sich völlig fern und ın weiter Zukunft liegt, das wären Bewusst-
seinshandlungen so komplizierter Natur, dass selbst der weitestgehende
Pflanzenseelenverteidiger sie für einen beerentragenden Strauch
nicht in Anspruch nehmen wird. Ich weiß wohl, dass der. Autor
es nicht in diesem Sinne gemeint hat; aber bei Dingen, bei denen
es wie hier lediglich auf die Auffassung ankommt, ist es unbe-
dingtes Erfordernis, dass die Auffassung des Autors in der Stili-
sierung klar und eindeutig zum Ausdruck komme. Nachlässigkeiten
in der Stilisierung oder unüberlegte Redeblumen rächen sich schon
am Autor selbst, indem sie unbewusst die Klarheit seiner Vor-
stellungen und dadurch die Exaktheit seiner Schlüsse beeinträch-
tigen; sie veranlassen vollends aber erst die oft recht wenig
kritischen Leser, die ganze Sache von einer schiefen Seite aufzu-
fassen. Und dann schießen von solcher Basıs aus die kühnsten,
unbedachtesten Schlussfolgerungen empor.
Gewisse Früchte haben also angeblich — wie der oft ge-
brauchte Ausdruck lautet: — „Anlockungsmittel ausgebildet“, um
sich die endozoische Verbreitung zu sichern.
Das ıst der Stand der Sache von den Pflanzen aus gesehen.
Von den Tieren ausgehend, sagt die Schutzmitteltheorie folgender-
maßen:
Es gibt Tiere, die Samen fressen und damit den Arterhaltungs-
kampf der bezüglichen Pflanzen erschweren. Ein solcher Tierfraß
ist für die Pflanzen sozusagen unerwünscht. Kerner*) sprach noch
von „unberufenen* Gästen, Liebmann spricht bereits von einem
„unbefugten“ Vogelfraß. Das Adjektivum „unbefugt“ bringt die
zunehmende Selbstsicherheit der Theorie zum Ausdrucke.
Es gibt aber anderseits auch Tiere, die große, fleischige Früchte
fressen und deren Samen endozoisch verbreiten — und das ist der
„befugte“ Tierfraß.
Der „unbefugte“ Tierfraß wird seitens der Pflanze durch „Schutz-
mittel“ erschwert, der „befugte* durch „Anlockungsmittel“ begünstigt.
Das ist, kurz gesagt, der Gedankengang der Theorie.
3) Sperrdruck von mir.
4) A. Kerner, Die Schutzmittel der Blüten gegen unberufene
Gäste. Festschr. z. 25jähr. Best. d. k. k. zool.-botan. Ges. Wien, 1876, S. 189ff.
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 261
Ohne mich hier über die Berechtigung der Ausdrücke „befugt“
und „unbefugt“ und ihre begrifflichen Grundlagen zu verbreiten,
möchte ich nur kurz erwähnen, dass ich dieselben selbst vom
Standpunkte der Schutzmitteltheorie aus ziemlich unglücklich ge-
wählt finde.
Meiner ablehnenden Haltung gegenüber der Schutzmitteltheorie
überhaupt habe ich an den angegebenen Orten genügend Ausdruck
gegeben. Es erübrigt mir daher nur noch eine kurze Darlegung
jener Prinzipien, die ich an Stelle dieser Theorie als wirklich maß-
gebend für die dauernde Arterhaltung im Pflanzen- wie auch im
Tierreiche anerkenne und die ich als Ersatz für die abgelehnte
Schutzmitteltheorie bieten will. Nach einem kurzen Streiflicht auf
diese theoretische Grundlage möchte ich den Erklärungswert der
von mir aufgestellten Sätze an Liebmann’s Arbeit praktisch er-
proben.
11. Die Prinzipien der Arterhaltung.
Da ich die Schutzmitteltheorie als Prinzip der Arterhaltung
ablehne, obliegt mir die Pflicht, die Tatsache der Arterhaltung ın
ihren natürlichen Bedingungen klar darzulegen und die wirklichen
Prinzipien dieser Arterhaltung offen zur kritischen Beurteilung vor-
zuführen.
Ohne in den Fehler zu verfallen, einer Theorie wieder eine
Theorie entgegenzustellen und so den Teufel durch Beelzebub aus-
treiben zu wollen, möchte ich nur mit etlichen wenigen Erfahrungs-
sätzen arbeiten, die so einfach, so selbstverständlich, so alltäglich
und naiv sind, dass sie des üblichen Arsenals der Theorien, der
zusammengesuchten „Belege“, gar nicht bedürfen. Es macht fast
den Eindruck, als wären sie der Wissenschaft allzu alltäglich, allzu
einfach gewesen. Nur so lässt es sich denken, dass man an der
verblüffend einfachen Lösung der ganzen Frage bis zur Stunde
vorübergegangen ist.
Drei Sätze sind es, die ich als klare Richtpunkte aufstellen
möchte:
1. Den Satz vom erschwinglichen Tribute oder der zu-
reichenden Überproduktion.
2. Den Satz von der@eschmacksspezialisation der
Tiere.
3. Den Satz von der Bevorzugung des Zusagenderen.
Diese Sätze wollen weder neu noch originell, sie wollen nichts
als klar und einleuchtend sein. Mit diesen Sätzen möchte ich nun
— wie gesagt —- moderne Theorien ersetzen und auf der solcher-
gestalt neu geschaffenen Basis zu arbeiten versuchen.
1. Für die Theorie vom „Kampfe ums Dasein“ setze
ich die Lehre vom ständigen, ersehwinglichen Tribute und
der zureiehenden Überproduktion.
262 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc.
Jede Organismenart zahlt schutz- und kampflos ihren Tribut
an andere. Die Art als solche kämpft nicht, bedarf darum auch
keines mechanischen oder chemischen Schutzes und sucht auch
keinen. Was zu kämpfen oder zu entrinnen sucht, ist nur das
Individuum für sich; es sucht rein persönlich nicht unter den
Tribut zu geraten. Das mag als „Auslese“ wirken, das Artbild
modifizieren, aber mit der Herausbildung eines „Schutzes“ der Art
hat es nichts zu tun. Denn der Tribut wird trotz aller Modi-
fikationen bei Heller und Pfennig von der Art eingetrieben. Und
die Art kann ihn leisten, denn dieser Tribut ist keine Geißel,
sondern nur ein wohltätiger Regulator, der die Art von dem Über-
schuss der Nachkommenschaft befreit, der von jeder Generation
erzeugt wird und der keinen Lebensraum und keine Erhaltungs-
möglichkeiten fände. Dieser Überschuss soll ja sozusagen gar
nicht geschützt sein, er soll ja untergehen, er muss untergehen,
damit das Gleichgewicht im Naturleben erhalten bleibt. Das ist
doch der erste Satz, mit dem Darwin’s Selektionstheorie beginnt,
auf dem sıe fußt.
Wir haben also eine Auslese, die ein Artbild ändern mag,
wir haben aber keinen Schutz, weil die ausgelesenen Formen von
ihren natürlichen Feinden noch genau so gut gefunden und ge-
fressen werden wie einst die Urform und weil dieser Tribut als
Ablenkung des Überschusses heute wie damals im „Naturwillen“
liegt.
Als Arterhaltungsproblem betrachtet, stellt sich die Sache so:
Organismen, die nicht dauernd eine Nachkommenschaft erzeugten,
welche zahlreich genug war, um den Ausfall zu decken (den Tribut
zu erschwingen) und sich außerdem noch fortzupflanzen — solche
Organismen traten vom Schauplatz ab. Übrig konnte nur dasjenige
bleiben, bei dem die Produktion stets größer war als der
Konsum durch feindliche Mächte. Die absoluten Ziffern
beider sind vollständig gleichgültig — die hinreichend hohe aktive
Bilanz ist das einzig Wesentliche. Das ist der Satz von der
„zureichenden Überproduktion“.
Welche Faktoren sichern nun diese Bilanz?
Ich denke, es gibt nur eine ehrliche Antwort hierauf: Wir
wissen heute nicht das mindeste Sichere darüber. Die
ökologischen Lebensbedingnisse jeder einzelnen Art sind so unend-
lich kompliziert, so verworren ineinandergewoben und so ver-
schleiert, und wir wissen so beschämend wenig davon, dass es ge-
radezu naiv erscheint, aus tausend untrennbar ineinandergreifenden
Faktoren einen beliebigen herauszureissen und dem staunenden
Leser zu sagen: „Nun will ich dir einmal zeigen, wie von dem da
alles abhängt!“
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 26:
Welche Anmaßung, welches Verkennen der Wege und Auf-
gaben der Wissenschaft liegt doch in solchem Beginnen! Und
welch krause Irrwege muss ein solcher Gedankengang im weiteren
Verfolge einschlagen, wie viele muss er irreführen, die ihm ver-
trauend folgen!
Was wir tun können ist: Teil um Teil vornehmen und einzeln
erforschen. Und was die Betrachtungsweise anbelangt, so darf sıe
weder final noch kausal, sondern muss einzig konditional sein. Wir
dürfen nie auf ein Ganzes schließen, das sich aus hundert ver-
schiedenartigen Faktoren zusammensetzt — wenn wir nur einen
einzigen Faktor notdürftig kennen. Das lehrt uns die Mathe-
matik, das Musterbild exakter Wissenschaft. Welcher Mathematiker
würde den verstehen, der aus einem gegebenen Produkte von hundert
Faktoren den Wert eines einzigen Faktors herausrechnen wollte,
wenn ihm die neunundneunzig anderen unbekannt sind?!
Um ein Beispiel zu geben: Ich habe jahrelange Mühe der Er-
forschung der Nährpflanzen meiner erwählten Spezialgruppe, der
Haltieinen, gewidmet, habe ein nach Möglichkeit klares Bild von
ihnen erhalten und weiß, dass jede Art nur auf ganz bestimmten
Pflanzenarten lebt.
Warum aber lebt jede Halticinenart nur auf gewissen Pflanzen-
arten? Nichts erschien (und erscheint mir heute noch) zweck-
loser, unverständlicher als ein „Warum?“ an solcher Stelle. Wer
diese Frage im Ernste stellt, ist entweder ein Kind oder der allzu-
eifrige Diener einer Theorie. Aber damit kommen wir bereits zum
nächsten Punkte.
2. Für die Theorie von den „natürlichen Schutz-
mitteln der Pflanzen gegen Tierfraß“ setze ich die Tat-
sache der Gesehmacksspezialisation der Tierwelt. An anderer
Stelle habe ich die Frage bereits eingehend behandelt, stelle daher
hier nur kurz fest: Nicht mechanische und chemische Schutzmittel
schützen eine Pflanze, sondern der angeborene Geschmackssinn der
Tiere. Jedes Tier greift normal nur einen bestimmten Kreis von
Organismen als Nahrung an, unbekümmert um „Schutz“, und
kümmert sich um alle anderen Pflanzen, ob „geschützt“ oder „un-
geschützt“, überhanpt nicht, greift sie gar nicht an. Im ersten
Falle, bei der Normalnahrung, ist ein „Schutz“ logisch undenkbar.
Im zweiten Falle ist er unnütz, denn wo regulär kein Angriff er-
folgt, ist auch kein „Schutz“ nötig.
Eine Kiefernraupe verschmäht das schutzlose, saftige, weiche Salat-
blatt und will starrsinnig die harte, harzig-bittere Kiefernadel. „Sie frisst
keinen Salat“ sagt der gemeine Mann ruhig und denkt mit Recht
nie. daran, „warum“ sie ihn nicht frisst. Das sind eben Geschmacks-
geheimnisse, deren jedes Tier sein besonderes hat und für die es
weder eine Erklärung noch einen einheitlichen Maßstab von „gut“
264 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc.
oder „schlecht“ schmeckend gibt, weil der Geschmack jedes Tieres
ein anderer ist. Man hat die „Spezialisten“ — die Monophagen
und Oligophagen meiner Auffassung’) — als Ausnahme hingestellt®).
Das ist ım tiefsten Grunde unrichtig. Engere oder weitere Spe-
zıalısation ist allgemeime Regel ın der Tierernährung und wirkliche
„Omnivoren“ gibt es wohl überhaupt nicht.
Durch die Tatsache der Geschmacksspezialisation in der Tier-
welt nun werden die Angriffe verteilt — auf jeden Organismus
fällt nur eine gewisse Anzahl von Feinden. Und die Tatsache der
effektiven Existenz eines Organısmus beweist, dass er imstande
war, bis zur Stunde alle seine natürlichen Feinde zu befriedigen
und mit dem verbleibenden Reste von Individuen seine Art fort-
zupflanzen. Die „geschütztesten“ Pflanzen aber haben durchschnitt-
lich nicht weniger Feinde als die „ungeschütztesten“. Man werfe
einen Blick in die lebendige Natur hinaus oder nehme — wenn
dies etwas umständlich scheint — den alten, aber immer noch
mustergültigen Kaltenbach’) zur Hand. So veraltet er auch ist,
diese Tatsache geht klar aus ihm hervor.
3. Zur Erklärung des anscheinend tierabwehrenden
Charakters der heutigen Pflanzenwelt setze ich die Lehre
von der Bevorzugung des Zusagenderen.
Ein Gleichnis wird den einfachen Gedanken am besten ver-
mitteln.
Auf einem Markte werden zu einem Einheitspreise Äpfel feil-
geboten. Die Frauen kommen, wählen aus, kaufen. Die schönsten
Äpfel gehen zuerst ab. In den späten Vormittagsstunden wird die
(Qualität des Vorhandenen (im Vergleiche zum ursprünglichen Ge-
samtangebot) bereits erheblich gesunken sein. Die Äpfel mit
„käuferabwehrenden“ Eigenschaften wiegen auffällig vor. Sind diese
Äpfel nun „geschützt“? Sicherlich nicht. Die Käufer, die nun
kommen, passen sich der verschlechterten Qualität an und wählen
unter dem Vorhandenen weiter aus. Gegen Mittag sind nur wenige
Reste mehr, das „Käuferabwehrendste“, vorhanden. Aber dieses
ist nun „geschützt“?! Mit nichten. Das gibt die Äpfelfrau den
Jungen, die sich um ihren Standplatz drücken, und macht ihnen
immer noch eine Freude damit.
Das aber ıst die simple Lösung der Frage von dem tier-
abwehrenden Habıtus der heutigen Pflanzenwelt: Unter sonst
gleichen Verhältnissen werden Pflanzen, die an einem Orte von
einer dominierenden Tierart bevorzugt werden, am stärksten leiden.
5) Vergl. meinen Artikel über die Standpflanze (Wien. Entom. Zeit. XXXI,
S. 207 £f., 1912); ferner „Zoologische Fragen im Pflanzenschutz“ (Centralbl.
f. Bakt., Paras. etc., II. Abt., 40. Bd., 8. 233 f., 1914).
6) Stahl, Ludwig u.a.
‘) Die Pflanzenfeinde aus der Klasse der Insekten. Stuttgart 1874.
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 265
Wir können uns unbedenklich vorstellen, dass eine Anzahl Pflanzen
einer dauernden Bevorzugung schließlich sogar erlag. Man wird
sagen, dieser Satz von der Bevorzugung des Zusagenderen sei nichts
als das einfache Selektionsprinzip. Und man hat recht, insoferne
es sich um nichts anderes als um eine „Auslese“ allein handelt.
Wenn es sich jedoch um den Begriff „Selektion“ handelt, wie er
heute zur Erklärung aller erdenklichen Dinge angewendet wird, so
muss ich ihn rundweg ablehnen.
Denn es wird uns ferne liegen, alle anscheinend tierabwehren-
den Eigenschaften solchergestalt mit Auslese erklären zu wollen.
Ein großer Teil davon wäre sicherlich ohne tierische Auslese ım
gleichen Ausmaße vorhanden wie mit derselben; es sind eben
Struktureigentümlichkeiten, die von selbst entstehen und die gar
keinen Selektionswert zu haben brauchen, um erhalten zu bleiben.
Wieviele von den solchergestalt richtungslos entstandenen Merk-
malen ohne Selektion da wären, vermag niemand auch nur an-
nähernd zu beurteilen. Doch nehmen wir für den vorliegenden
Fall eine Wirksamkeit der Auslese ım weitestmöglichen Ausmaße an.
Es wird sich nun lediglich darum handeln, festzustellen, was
jetzt geschah. Waren die nun übrigbleibenden Pflanzen durch ihre
missliebigen Eigenschaften „geschützt* ?
Sie waren es in keiner Weise. Nachdem das Bevorzugte ver-
schwunden war, musste das minder Bevorzugte heran. Und mangels
des Besseren ıst das Gute auch stets willkommen und ersetzt
ersteres vollständig. Den Beweis liefert uns ein einziger Blick ın
die Natur: da wimmelt es von „Schutzmitteln“ — nach Versiche-
rung der Schutzmitteltheoretiker ıst ja keine einzige Pflanze ganz
ohne „Schutzmittel“, weil sie dann sofort unterliegen würde °) —
und da wimmelt es aber auch gleichzeitig von phytophagen Tier-
arten, die mit einem Appetit, den keine Theorie hinwegzuleugnen
vermag, in dieser „geschützten“ Pflanzenwelt fressend wüten.
Stahl’) sagt selbst, dass es „denn auch wohl keine einzige Pflanze
gibt, welche der Tierwelt nicht ihren Tribut zu zahlen hätte“. Die
sonderbare Ausflucht, die „Schutzmittel“. seien nur „bedingt“ wirk-
sam, schützten nur gegen einige, nicht aber gegen alle Tiere, ıst
leicht zu widerlegen. Man fasse jene Tiere, gegen die die „Schutz-
mittel“ angeblich wirksam sind, nur einmal zoologisch kritisch ıns
Auge und man wird leicht nachweisen können, dass diese Tiere
ihre Normalnahrung ganz anderswo finden, einer anderen, vielleicht
noch kräftiger „geschützten“ Nahrung von Natur aus angepasst
sind, dieselbe schonungslos vernichten und darum die angeblich
8) Stahl, Liebmann u. a.
9) Pflanzen und Schnecken. ‚Jenaische Zeitschr. f. Naturw. u. Med. XXII,
INCH. SNV..Bep.ıD. 2,
266 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc.
„geschützte“ Pflanze normal gar nicht benötigen und daher auch
gar nicht angreifen.
Jedes phytophage Tier besitzt seine angestammte Normalnahrung
normal in Fülle, mehr verlangt es gar nicht. Diese den Bedarf in
der Natur vollauf deckende Normalnahrung aber ist dem Tiere
gegenüber absolut ungeschützt — bezw. nur durch ihre Masse „ge-
schützt“ —, wird in Unmengen vernichtet. In Spezialfällen mag
ja das Leben einer Pflanze einmal von ihrer Bedornung oder ihrem
scharfen Safte abhängen, wenn nämlich den ortsbewohnenden Tieren
ihre Normalnährpflanzen ausgehen. Aber das ist eben ein Zufall
und kein Naturprinzip.
Wir Zoologen vermögen angesichts des unermesslichen, ver-
nichtenden Tierfraßes an einen wirksamen bewaffneten Schutz der
Pflanzenwelt gegen Tiere nicht zu glauben. Gerne aber wollen wir
an eine hier und dort wirksam gewesene „Auslese“ glauben, die
das am meisten Begehrte verschwinden machte und das minder
Bevorzugte — aber darum keineswegs Verschmähte oder gar „Ge-
schützte* übrig ließ. Dieses minder Bevorzugte gibt nun der
heutigen Pflanzenwelt ihren anscheinend tierabwehrenden Zug, mit
dem sich die heutige Tierwelt aber, wie das Naturleben zeigt, in
vollem Umfange abgefunden hat und der den Pflanzen nunmehr
nicht das mindeste nützt.
Ich habe das Wort „Auslese“ gebraucht und habe gezeigt,
wie weit man mit meiner Auffassung der Dinge an die Lehre
Darwin’s, soweit sie das Walten einer im ausmerzenden Sinne
wirksamen Selektion betrifft, heran kann. Wir können deren Grund-
lagen anerkennen, bis das Wort „Schutz“ fällt — dann scheiden
sich die Wege. Die Auslese erzeugt minder begehrenswert scheinende
Formen — einen wirksamen Schutz gegen wirkliche Feinde aber er-
zeugt sie nicht, weil die feindliche Tierwelt jeden Schutz durch stete
unvermerkte Gegenanpassung zu nichte macht. Wohl kaum ein
Tier der Erde ist durch dieses allmähliche Verschwinden des von
ihm Bevorzugten und das Vortreten des von ihm minder Bevor-
zugten zugrunde gegangen. Wohl aber kann ein durch seinen Ge-
schmackssinn (ohne Rücksicht auf Schutz, der ja bei Spezialisten
gänzlich außer Betracht fällt) angepasster Spezialist bei Ver-
schwinden seiner Pflanze mit verschwinden.
Das sind die Gedankengänge, die ich dem Leser zur reiflichen
Erwägung vorführen möchte.
Und nun will ich mich der Kritik des experimentell-sachlichen
Teiles des Liebmann’schen Artikels zuwenden. An ıhm soll
das soeben Entwickelte die Probe auf seinen Erklärungswert be-
stehen.
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 267
II. Der Gesehmackssinn der Vögel und die Wirksamkeit der
„chemischen Schutzmittel“.
Die Einleitung zu dem Artikel Liebmann’s gibt neben einer
Darlegung der leitenden Gesichtspunkte der Arbeit einen allge-
meinen Überblick über den Verdauungsapparat und die Sinnes-
organe der Vögel, soweit letztere in Beziehung zur Nahrungsauf-
nahme stehen.
Der Autor kommt zu dem sehr interessanten, für die Abwehr-
und Anlockungstheorie indes doch vielleicht ein wenig unbequemen
Schlusse, dass bei den Vögeln zum Auffinden der Nahrung das
Auge die wichtigste Rolle spielt, dagegen Geruchs- und Geschmacks-
sinn nur eine ganz untergeordnete. Das Innere der Mundhöhle
samt der Zunge der Vögel ist hart und verhornt, Speichel wird
sehr wenig abgesondert. Für die geringe Empfindlichkeit des Ver-
dauungstraktes spricht schon die Tatsache, dass Sand und Steinchen
ihm nichts anhaben, sondern von den Tieren vielfach freiwillig
aufgenommen werden.
Ein sprechendes Beispiel für die ganz unerwartet große Ge-
schmacksstumpfheit der Vögel geben die Experimente, die der Autor
mit verschiedenen Vogelarten (vgl. S. 486ff.) anstellte. Ich zitiere
kurz hieraus.
(S. 487 ff.; Tannin.) „... Alle Vögel fraßen die gerbsäure-
haltige!‘) Nahrung vollständig auf; kein einziger ließ etwa nach
dem ersten Bissen ab, was er getan haben würde, wenn er ihm
schlecht schmeckte.“
„Kein Vogel erlitt irgendwelchen sichtbaren Schaden durch
diese Experimente, trotzdem teilweise ganz beträchtliche Quantitäten
Tannin vertilgt worden waren.“
(S. 4389—490; Zitronensäure.) „... wirkt in solchen Kon-
zentrationen, wie sie in den folgenden Versuchen angewandt wurden,
sehr scharf und ätzend.“
Gequetschter Hanf und Ameisenpuppen, die 6 Stunden in einer
etwa 7prozent. Lösung von Zitronensäure gelegen waren, wurden
von drei Meisenarten, Stieglitz und Dompfaff, bezw. drei Meisen-
arten, Kleiber und Rotkehlchen, „scheinbar gern“ verzehrt; zurück-
gelassen wurden nur die Hanfschalen.
„Endlich bekamen alle Vögel als Trinkwasser eine etwa
2!/,prozent. Zitronensäurelösung; sie verweigerten dieselbe durchaus
nicht.“
(S. 490; Ameisensäure.) „Ferner warf ich Mehlwürmer in
reine Ameisensäure hinein; die Kohlmeise holte mit dem Schnabel
die sich lebhaft krümmenden Tiere heraus und fraß sie ohne wei-
teres mit Behagen stückweise auf.“
10) D. h. künstlich mit Tannin vermischte Nahrung.
268 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
(S. 490; Pıkrinsäure.) „Einen äußerst widerlichen Geschmack
zeigt die Pikrinsäure, welche auch noch giftig ist. Selbst ın mini-
malen Mengen genossen schmeckt sie entsetzlich ... Deshalb
scheint sie zu Experimenten über den Geschmack besonders ge-
eignet, wenn man sie auch, soviel mir bekannt, bis jetzt im Pflanzen-
reiche noch nicht nachgewiesen hat.“
„In einer etwa 3prozent. Lösung von dieser Säure wurde
„Wealdfutter“ !!) eine Nacht über hen gelassen... Die aufge-
nommene Nahrungsmenge blieb beträchtlich Finer der normalen
zurück !?). Immerhin aber hatten beide Vögel (Kohlmeise und Grün-
fink) so viel verzehrt, dass Schnabel und Exkremente hochgelb
gefärbt waren... Mehlwürmer, mit einem dünnen Pikrinsäurebrei
bestrichen, wurden von der Meise anstandslos vertilgt. Irgendeinen
sichtbaren Nachteil trugen die Tiere nicht davon.“
(S. 492; Kaliumbioxalat, Sauerkleesalz.) „Da es sehr scharf
schmeckt und außerdem giftig ist, scheint es als Schutzmittel sehr
geeignet zu sein.“
In einer bei Zimmertemperatur gesättigten Lösung dieses Salzes
wurden Ameisenpuppen und gequetschte Hanfkörner mehrere Stunden
lang eingeweicht. Erstere wurden hierauf an drei Meisenarten,
letztere an diese und an Stieglitz und Dompfaff verfüttert. „Alle
Tiere nahmen wiederholt davon, als ob es gewöhnliches Futter
wäre; hätte es ihnen zu schlecht geschmeckt, so würden sie gleich
nach dem ersten Versuche von ıhrem Vorhaben abgelassen haben.“
Die Versuche wurden noch mit größeren Salzmengen vorge-
nommen. „Schädliche Folgen traten nirgends ein, trotz der Giftig-
keit für andere Tiere.“
Lediglich der Milchsaft von Euphorbia Myrsinites konnte den
Versuchstieren das Futter verekeln.
Zusammenfassend sagt der Autor selbst (S. 494):
„Was geht nun aus diesen Versuchen hervor? Jedenfalls so
viel, dass der Geschmackssinn der Vögel nur sehr wenig
ausgeprägt ist, wenn auch nicht behauptet werden kann,
dass er vollständig fehlt. In solchen Quantitäten, wie sie hier
verwandt wurden, kommen chemische Substanzen ın Samen und
Früchten kaum vor... Man kann also nicht erwarten, dass irgend-
welche Substanzen, die als chemische Schutzeinrichtungen ange-
sehen werden können, auf Vögel irgendwie einwirken .. .*
Ich habe den Worten des Autors nichts zuzufügen. Seine
Worte besagen klar: Es gibt keine wirksamen chemischen
natürlichen Schutzmittel der Pflanzen gegen Vogelfraß.
1) Käufliche Nahrung der Körnerfresser, der Hauptsache nach Samen von
„Picea excelsa, Phalaris canariensis, Panicum miliaceum, Brassica-Arten, Can-
nabis sativa, Linum usitatissimum, Dipsacus laciniata und Lactuca sativa“.
12) Hier spielt möglicherweise die durch die Pikrinsäure verursach te auffallende
intensive elbfärbung des Futters mit.
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 269
Wir halten diese Konstatierung schon hier fest und legen da-
mit die gesamten „chemischen Schutzmittel* gegen Vogelfraß ebenso
berechtigt als gänzlich unwirksam ad acta, wie wir seinerzeit die
„chemischen Schutzmittel“ der Rinden unserer Holzgewächse gegen
Säugetierfraß ad acta gelegt haben'?). Und in beiden Fällen habe
ich den Nachweis allein mit den eigenen Worten der Autoren, die
doch ausgezogen waren, um die Wirksamkeit der Schutzmittel
nachzuweisen, führen können. Beiden Autoren muss voll und ganz
eines zugestanden werden — die unbedingte wissenschaftliche Wahr-
haftigkeit, mit der sie die Ergebnisse ihrer Experimente darlegen,
auch dann, wenn sie ihrer Theorie entgegenlaufen. Nur diese
Wahrhaftigkeit, dieses Nichtsverschweigen hat den Nachweis er-
möglıcht.
Seinen eigenen Untersuchungen fügt der Autor noch die Er-
wähnung gleichsinniger Forschungsergebnisse anderer an. Man hat
überhaupt erst im Jahre 1904 Geschmacksorgane in der Mundhöhle
— nicht auf der Zunge! — der Vögel nachgewiesen; diese Sinnes-
organe stehen jedoch hinter jenen der Säugetiere weit zurück.
Dr. O. Heinroth (zitiert auf S. 497) schreibt: „... Wäre der
Geschmack für den Vogel wirklich sehr wichtig, so würden Beeren,
Mehlwürmer, Eicheln und andere festschalige Futtermittel nicht
unzerstückelt verschluckt werden, wie dies bekanntlich doch meist
geschieht.“
Und auf S. 498 sagt der Autor:
„Bei den Körnerfressern aber, die ihre Nahrung zerbeißen, ist
ein Schmecken deshalb nicht möglich, weil nur nasse oder einge-
speichelte Substanzen mittels des Geschmackssinnes wahrgenommen
werden können; die fleischigen Früchte und Tierchen jedoch, die
diese Bedingung erfüllen, werden von Körnerfressern verschmäht,
von Weichfressern dagegen unzerkleinert verschluckt, wobei eine
Einwirkung auf den Geschmack auch nicht stattfindet.“
IV. Die „.Abwehrmittel** gegen Körnerfresser.
Auf S. 449ff. bespricht der Autor die Einteilung der Vögel in
„Körnerfresser“ und „Weichfresser*“.
Die Körnerfresser besitzen einen kurzen, starken Schnabel,
einen sehr kräftigen Muskelmagen und nähren ‚sich von hartem
Futter, vorwiegend Körnern und harten Früchten, die sie zumeist
mit dein Schnabel zerstückeln und mit dem Muskelmagen zermahlen.
Die Weichfresser besitzen einen längeren, dünneren, zum
Hervorholen von kleinen Tieren, nicht aber zum Zerkleinern ge-
eigneten Schnabel, einen muskelschwachen Magen und nähren sich
13) Vergl. meine eingangs zitierte kritische Abhandlung über die Arbeit
A. Räuber’.
370 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
in erster Linie von Insekten, Würmern u. dgl., in zweiter von
fleischigen Früchten, also durchwegs von weicheren Objekten, die
sie in der Regel unzerstückelt hinunterschlucken.
Mit dem Blicke des Unbefangenen sehen wir hier zweierlei.
1. Fall. — Vögel, die vorwiegend von Samen leben. Wenn
sie davon leben, zerstören sie zweifellos die Samen. Und wenn
sie davon leben, können die Samen ihnen gegenüber nicht „ge-
schützt“ sein. Also: „unbefugter“ Fraß, d. ı. reine Vernichtung,
Fehlen wirksamer Schutzmittel, Weiterbestand der Pflanze
durch Überproduktion gesichert.
2. Fall. — Vögel, die normal von Kleintieren, ausnahmsweise
— oder sagen wir fallweise — von fleischigen Früchten leben '*).
Der Befall der Fleischfrüchte ist wohl weit nıinder belangreich als
der Samenbefall im vorigen Falle. da dort eine Normalnahrung,
hier aber nur eine Eventualnahrung vorliegt. Es ist absolut nicht
einzusehen, warum für diesen sicherlich viel schwächeren Befall
der ım vorigen Falle wirksam gewesene allgemein gültige Modus
der Arterhaltung nicht hinreichen sollte — warum dem Zufalle,
dass hier die Samen keimfähig durchgehen, eine prinzipielle Be-
deutung zugemessen werden soll. Dieser Zufall mag die Zahl der
Individuen dieser Sträucher vermehren — für die Sicherstellung
der Artexistenz aber genügt, wie im vorigen Falle, so auch hier,
ganz gewiss die einfache Überproduktion an Samen. Ich wenig-
stens sehe nicht ein, warum das, was dort weit heftigeren Angriffen
standhielt, hier für den schwächeren Befall nicht genügen sollte.
Niemand kann beweisen, dass — einzelne ganz spezialisierte Fälle
extremer Anpassungen ausgenommen!) — der sogen. „befugte“
Fraß für das Bestehen der Pflanzenarten notwendig ist. Und
um die Notwendigkeit allein handelt es sich doch. Eine ein-
fache Förderung mag das Vegetationsbild beeinflussen, ist aber
prinzipiell bedeutungslos.
Wir haben eine so ungeheure Fülle von Pflanzen, die ohne
„befugten“ Fraß auskommen, ja die sogar „unbefugt“ aufs äußerste
14) Erst im Herbst (früher reifen die Früchte in der Regel nicht) nehmen die
Weichfresser neben der Kerbtiernahrung auch fleischige Früchte an.
15) An anderer Stelle möchte ich mich ausführlicher über solche Fälle — ein
Beispiel für dieselben ist die Mistel — äußern. Hier sei nur kurz erwähnt, dass
die völlige Abhängigkeit einer Pflanze von der Verbreitung durch Tiere nichts Pri-
märes, nichts Prinzipielles an sich haben kann, sondern nichts ist als ein Zufall.
Primär kann sie nicht sein, denn ehe ein Vogel eine Frucht fraß und dadurch ver-
breitete, musste diese Frucht doch gewachsen sein und die Pflanze musste ohne
Vogel bereits Erdalter hindurch gelebt und sich fortgepflanzt und verbreitet haben.
Der Vogel hat ihre Verbreitung darum nicht gesichert, sondern nur modifiziert,
von sich abhängig und damit in gewissem Sinne sogar unsicher gemacht. Das ist
kein Prinzip, sondern dasjenige, was wir — ohne uns vor dem deutschen Worte zu
scheuen — „Zufall“ nennen,
Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 274
geplündert werden und die doch gemeiner, häufiger und weiter ver-
breitet sind als viele „befugt“ gefressene, eine solche Fülle, dass
wir nicht begreifen können, warum gerade die wenigen „befugt“
gefressenen unbedingt auf diesen Fraß angewiesen sein sollten,
weshalb gerade bei ihnen die Natur ein neues Erhaltungsprinzip
nötig gehabt haben sollte.
Überlegungen solcher Art indes liegen abseits vom Wege des
Autors der rezensierten Arbeit.
Ein kurzer Blick auf den Weg, den er gekommen, lässt uns
seinen Standpunkt verständlich erscheinen.
Er kommt aus der Schule der Selektion.
In Pflanzen- und Tierwelt tobt der Daseinskampf; die Pflanze
kämpft so gut wie das Tier. Hätte sie keine Waffen, so ginge sie
unter. Jede Pflanze muss demnach Waffen haben. Sein Thema
lautet: Suchet die Abwehrmittel der Pflanzen und zeiget ihre Wirk-
samkeit im einzelnen.
Die Körnerfresser vernichten nun die Samen gewisser Pflanzen.
Um nicht unterzugehen, müssen diese Pflanzen an Früchten und
Samen „Abwehrmittel“ gegen die Körnerfresser ausbilden.
Anders liegt der Fall bei den Weichfressern. Die Weichfresser
vernichten mit ihrem Fraß keine Samen, sie verbreiten solche ım
Gegenteile.. Um Vorteile zu haben, um im Daseinskampfe zu be-
stehen, haben nun diese Pflanzen die Weichfresser in ıhren Dienst
gestellt, sie haben an den Früchten „Anlockungsmittel“ für diese
ausgebildet.
Es ist nicht zu leugnen, dass die Sache in dieser Form nicht
nur interessant, sondern auch völlig plausibel klingt. Wenn man
nämlich den Detailgang der einzelnen hierzu notwendigen selek-
tiven — (an anderes als an Selektion kann ja hier nicht gedacht
werden) — Vorgänge nicht weiter verfolg. Dann kann man
ohne weiteres an den Nachweis der „Anlockungsmittel“ einerseits,
der „Schutzmittel“ anderseits gehen. Man kann sicher sein, auf
jeder Seite übergenug zu finden, das sich derart deuten lässt.
Der kritische Geist aber sollte sich vorerst wohl doch noch
einige Gedanken machen. Er sollte vorerst doch überlegen, ob
dasjenige, was weiter oben über die beschränkte Wirksamkeit von
Schutzmitteln ausgeführt wurde, nicht vielleicht auch hier Geltung
habe. Die „Schutzmittel“ wären ja hochwertvoll, wenn wir es nur
mit körnerfressenwollenden Vögeln zu tun hätten. So aber haben
wir es mit tatsächlich körnerfressenden zu tun — und die
fressen die Körner wirklich und kümmern sich nicht im mindesten
um die vielen „Abwehrmittel“, die wir Menschen mit einigem Eifer
an den Körnern ausfindig machen. Was aber die Wirksamkeit der
„Abwehrmittel“ gegenüber den „anderen“ Vögeln anbelangt, so
sind diese „anderen“ Vögel eben keine Körnerfresser oder doch
372 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
keine, die von solehen Körnern leben. Sie brauchen und suchen
unsere Körner gar nicht, sondern suchen und fressen andere Körner,
die vielleicht noch viel hübschere „Abwehrmittel“ besitzen als
unsere.
Die Körner also werden gefressen — ob mit oder ohne „Schutz-
mittel“ ıst gleichgültig. Dass die Pflanze darum nicht ausstirbt,
verdankt sie also nicht den an maßgebender Stelle ganz unwirk-
samen „Abwehrmitteln“, sondern der einfachen Tatsache, dass sie
so viel Samen produziert, dass außer den von Vögeln (und anderen
Tieren) gefressenen immer noch genug zur Fortpflanzung des Ge-
wächses übrig bleiben.
Was aber die anscheinend abwehrenden Eigenschaften dieser
Früchte und Samen anbelangt, so ıst beispielsweise ihre Harthäutig-
keit meines Erachtens gar nichts so Verwunderliches und ohne
weiteres auch ohne tierische Selektion leicht verständlich. Ein Same
muss den Winter überdauern, muss Kälte, Hitze, Feuchtigkeit,
mechanische und chemische Einflüsse u. s. w. überstehen — wie
sollte er anders sein als hart und trockenhäutig?! Sind nicht
auch die Tiereier harthäutig?! Und gewiss würden wır auch an
den Tiereiern alle möglichen Zierraten und Anhängsel finden, wie
an den Samen, wenn das Tierei nicht den Eileiter passieren müsste.
Ich erinnere nur an die Skulptur und Form mancher Schmetter-
lingseier. Der Ausbildung aller möglichen Anhänge an den Samen
aber steht so wenig entgegen, wie den bizarrsten Ausbildungen an
Pflanzenblättern und Blüten.
Und sind trockenhäutige Pflanzenteile, z. B. Hüllschuppen,
Rinden u. s. w. nicht in der Regel auch unscheinlich gefärbt?!
Bräunlich ist eben die Hauptfarbe trockenhäutiger Gewebe nicht
nur ım Pflanzenreich, sondern auch im Tierreich (z. B. Orthopteren-
flügel ete.). Braucht man da unbedingt eine tierische Selektion
zur „Erklärung“?
Aber gesetzt auch, wir liebten die Selektion so sehr, dass wir
sie auch hier um keinen Preis missen möchten, — an einen „Schutz“
und eine „Abwehr“ ıst immer noch kein Gedanke.
Die Selektion arbeitete einfach so, dass das Bevorzugte all-
mählich unterging und das minder Bevorzugte — eben die Dinge
in ıhrer heutigen, anscheinend abwehrenden Form — übrig blieb.
Wird dies nicht gefressen? Ein Blick auf die Körnerfresser zeigt
uns, dass es genau so gut gefunden und gefressen wird, wie einst
das minder Selektierte, Einladendere, von dem die Vorfahren unserer
Vögel (vielleicht) lebten. Die Gestalt mag sich zum minder Ein-
ladenden geändert haben — ein „Schutz“ ist hieraus in keiner
Weise erwachsen, denn die heutigen Vögel sind eben wieder den
heutigen Früchten angepasst und fressen sie.
Heikertineer, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 97:
> X zhu
Diese Überlegungen — für uns alles Wiederholungen von
weiter oben bereits Dargelegtem — haben für uns etwas so über-
raschend Einfaches, Natürliches, Zwingendes, dass uns der Eifer,
mit dem die Wissenschaft „Schutzmittel“ sucht, seltsam verwunder-
lich berührt.
Und seltsam verwunderlich sind uns viele Vermutungen und
Schlüsse, die der Autor ım zweiten Teile seiner Arbeit, der von
den nichtfleischigen, mit „Abwehrmitteln“ gegen Körnerfresser ver-
sehenen Früchten und Samen handelt, äußert. Ich überlasse es
dem nunmehr aufmerksam gemachten Leser, diese Dinge kritisch
dort nachzulesen. An dieser Stelle würde ihre Erörterung zu weit
führen.
Dass aber das ım voraus gegebene Thema „Selektion“ und
„Sehutzmittel“ auch die Logik beeinflusst, mag nur an etlichen
Proben dargelegt werden.
S. 776. — „Die nichtfleischigen Samen und Früchte sind
also nicht an den Tierfraß. speziell Vogelfraß, angepasst und
müssen lästige Feinde fernzuhalten suchen. Wie aber schon am
Anfang der Arbeit hervorgehoben wurde, bieten alle Schutzein-
richtungen nur einen relativen, keinen absoluten Schutz. Man
darf sich deshalb nicht wundern, wenn man durch Beobachtungen
findet, dass große Mengen nichtfleischiger Samen und Früchte, be-
sonders kleinere, den körnerfressenden Vögeln als willkommene
Speise dienen. Diese Tatsache ist für die Landwirtschaft
von weittragendster Bedeutung, weil auf diese Art zahl-
lose Unkrautsamen vernichtet werden...!P).“
Größere Bedeutung für die Landwirtschaft dürfte vielleicht
doch der Fraß an Kultursämereien beanspruchen. Übrigens ist die
Tatsache der Vernichtung „zahlloser Unkrautsamen“ ein etwas ein-
seitiger Trost und sicher keine Empfehlung für die Wirksamkeit
von Schutzmitteln. Denn der Vogelfraß unterscheidet ja nicht
kritisch Kultursämereien und Unkrautsamen, sondern trifft rück-
sichtslos beide.
S. 782. — „Eine Familie, die von Vögeln besonders gern
heimgesucht wird, ist die der Compositen; daher zeigt ge-
rade diese Familie die verschiedensten Organe zum
Schutze gegen solchen unbefugten Vogelfraß!*).“
Der Schluss ist etwas seltsam; ein Unbefangener könnte kaum
anders sagen als: Je mehr Schutzorgane da sind, desto weniger
gerne werden wohl die Pflanzen von Vögeln heimgesucht. Der
Autor verwechselt unbewusst das supponierte Heimsuchen wollen
mit dem effektiven Heimsuchen; letzteres kann nur ein Beweis
16) Sperrdruck von mir.
XXXV. 18
974 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc.
dafür sein, dass die Pflanzen den Vögeln zusagen, also keine wirk-
samen Schutzmittel gegen dieselben besitzen.
Mehr als einmal geht der Autor an der einfachen Lösung des
Problems durch den Satz von der zureichenden Überproduktion vor-
bei, ohne sie aufzugreifen.
S. 789. — „... Taraxacum und die übrigen Früchte fielen
allen verwendeten Tieren (Dompfaff, Stieglitz, Meisenarten) verhält-
nismäßig leicht zum Opfer; auch in der Natur werden sie massen-
haft von Körnerfressern vertilgt ... Trotzdem weiß jeder, dass
gerade die genannten Pflanzen zu unseren gemeinsten Unkräutern
gehören. Das liegt daran, dass die Früchte von der Pflanze
in großen Mengen erzeugt werden...“
S. 798. — „... Die Pflanze (es ist von den Früchten von
Dipsacus laciniatus die Rede) entgeht der Vernichtung dank
ihrer massenhaften Erzeugung. Jeder Körnerfresser verzehrt
sie gern, weshalb sie in dem für diese Tiere bestimmten, käuflichen
Futter enthalten zu sein pflegen.“
Auch an anderen Orten ist dieser klare Gedanke ausgedrückt,
leider aber unangewandt geblieben.
Der Autor ist indes ın allen Fällen streng gerecht und führt
auch jene Fälle, die seinen Voraussetzungen widersprechen, ge-
wissenhaft auf.
S. 805. — „Nach allen hier angestellten Erörterungen dürfte
soviel sicher sein, dass den meisten ätherischen Ölen der Umbelli-
feren neben etwaigen anderen Funktionen die des sehr wirksamen
Schutzes gegen unbefugten Vogelfraß zukommt...“
Und hierzu S. 806. — „Ob die ätherischen Öle der Früchte
ihren stammesgeschichtlichen Ursprung lediglich der auslesenden
Wirksamkeit der Vögel verdanken, erscheint einigermaßen fraglich,
da auch alle anderen Teile der Doldengewächse von äthe-
rischen Ölen durchtränkt sind'!*),“
Es, wäre in diesem Falle zweifellos recht erzwungen, wollte
man den Ölgehalt speziell der Samen mittels Selektion durch Vögel
erklären.
Auch an der Tatsache der Geschmacksspezialisation der Tiere
mit ihren unerforschlichen, im Tierbau und nicht ım Pflanzenbau
begründeten Geheimnissen gleitet der Autor vorüber.
S. 807. — (Es ist die Rede von den Samen der Papeliona-
ceen. Der Autor findet es begreiflich, dass die Vögel den großen,
festen Hülsen mancher Arten nicht beikommen können; ebenso
können sie manche besonders harte Samen nicht zerbeißen.) „Ganz
neu und unerwartet ist jedoch die Tatsache, dass die übrigen
(kleineren) reifen Samen und sämtliche halbreifen verweigert wurden,
obgleich sıe leicht zu bewältigen sind und weder besonders scharf
riechen noch schmecken, wenigstens unseren Sınnesorganen nach
Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 275
zu urteilen. Auch durch Aussehen und Form unterscheiden sie
sich nicht wesentlich von anderen Samen und Früchten; daher
wurden sie ja von den Tieren auch zunächst probiert und erst
dann verschmäht.“
Die Schutzmitteltheorie erklärt solche Tatsachen nicht. Sie
lässt das Thema einfach fallen. Im Satze von der Spezialisation
der Tiere jedoch liegt die natürliche, ungezwungene Erklärung für
alle Ablehnungen.
S. 810. — „Manche Forscher, besonders Focke und Buch-
wald, vertreten die sonderbare Ansicht, dass die Ausbreitung der
Leguminosen-Samen durch umkommende Vögel erfolgt, so bei
Erbsen, Bohnen und anderen Hülsengewächsen mit nahrhaften
Samen. Weil viele Vögel ıhre Nahrung vor der eigentlichen Ver-
dauung eine Zeitlang im Kropfe behalten, soll die Möglichkeit ge-
geben sein, dass bei gestorbenen Tieren die Samen von hier aus
ins Freie gelangen und dort keimen. Focke selbst hat einen
solchen Fall beobachtet, glaubt aber wegen der Zufälligkeit dieser
Verbreitungsart nicht, dass sie häufiger vorkommt; Buchwald
jedoch hält sie für wichtiger.“
Ich denke doch, es wird niemand behaupten, dass auf diesem
etwas gar zu seltsamen Wege eine Selektion wırksam sei. Man
sollte kaum vermuten, dass derlei abgequälte Erklärungen im Ernste
abgehandelt werden.
S. 814. — „Chenopodium glaucum wurde vom Dompfaff
angenommen, vom Stieglitz aber zurückgewiesen'*).
Das Chenopodiaceen-Beet ist als Futterplatz bei Sperlingen recht
beliebt.“
Noch klarer sprechen folgende Stellen dafür, dass die Ab-
weisung auf Grund der Geschmacksspezialisation von vornherein,
ehe noch ein Schutzmittel wırksam sein konnte, erfolgt.
S. 825. — „Schwartz beobachtete oft, dass die Versuchstiere
manche Samen schon beim bloßen Anblick verschmähten, ohne sie
erst gekostet zu haben.“
„Vögel, welche von den gewöhnlichen ‚Körnern‘ leben, werden
alle Samen, die nicht die Normalform eines ‚Kornes‘ haben, un-
beachtet lassen!°), weil sie sie nicht als genießbar erkennen.“
Was ist dies wohl anders als die Bestätigung der weiter oben
aufgestellten Behauptung, dass ein Tier nur seine Normalnahrung
suche und annehme, alles andere aber gar nicht beachte?!
„Auch Samen, die von der für jede Vogelart normalen Größe
abwichen, fanden keine Berücksichtigung ''). Die klein-
schnäbligen Körnerfresser kümmerten sich nicht im geringsten um
die großen Samen der Eichen und Zirbelkiefer... Der Kreuz-
schnabel verweigerte von Anfang an alle Samen, welche nicht
größer waren als ein Hirsekorn .. .“
18*
376 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
„Oft ist auch die Normalfarbe der Sämereien von ausschlag-
gebender Bedeutung.“ (Der Kreuzschnabel bevorzugte dunkelbraune
Körner, die Koniferensamen ähnelten, ließ dagegen hellgelbe liegen;
Stieglitz und Hänfling wiesen lange Zeit trotz Hungers ein sonst
gern gefressenes Futter zurück, als es blau gefärbt worden war.
Auch durch Pikrinsäure hochgelb gefärbtes Futter wurde ohne
Kostprobe verschmäht.)
Diese Versuchsergebnisse zeigen klar, wie hoch die Ernährungs-
spezialisation der Tiere gediehen ist und wie verfehlt es ist, alle
möglichen Tiere mit allen möglichen Pflanzen einfach zusammen-
zustellen und nun mit menschlichem Raten und Deuten ergründen
zu wollen, wodurch das eine vor den anderen „geschützt“ ist.
Als erste, wichtigste gegebene Tatsache muss die Ernährungs-
spezialisation jeder einzelnen Tierart untersucht und kritisch in
Rechnung gestellt werden, und zwar dies ehe überhaupt mit
einem Fütterungsversuch auch nur begonnen wird. Jedem
Tier darf nur die seinem natürlichen Geschmack entsprechende
Spezialnahrung vorgelegt werden, sonst ist der Versuch ebenso
wertlos, wie wenn man einem Menschen Gras und Regenwürmer
vorlegen würde und untersuchen wollte, wodurch diese beiden vor
ihm „geschützt“ sind. Sie sind sicher nicht „geschützt“, und er
nimmt sie dennoch nicht an — einfach weil er sie nicht mag, weil
sie nicht zu seiner normalen Nahrung gehören.
S. 827. — „In Übereinstimmung mit der guten Ausbil-
dung des Vogelauges'°) sind Schutzfarben äußerst wichtig, weil
sie die Körner vor den Blicken der Vögel verbergen'*).“
Dementgegen möchte ich folgendes festlegen:
Wenn ein scharfäugiges Tier — und die Scharfsichtigkeit
stoßender Raubvögel, nächtlich jagender Eulen u. dgl. ist zuweilen
eine für uns Menschen nahezu unfassbare — wenn ein scharfäugiges
Tier sucht, dann findet es die Samen auch nach der Form alleın
und bedarf der Hilfe der Färbung nicht.
Wir nehmen ja auch im Grün der Wiese jede bestimmte Blatt-
form wahr, wenn wir danach suchen, und wir sehen die unreifen
Äpfel im gleichfarbigen Laub’ ganz gut, wenn wir überhaupt auf
den Baum blicken. Unansehnliche Färbung mag einen Gegenstand
vor einem achtlos Vorübergehenden verbergen, vor einem unab-
lässig danach suchenden Spezialisten aber sicherlich nicht.
S. 827. — „Selbstverständlich ist keine der genannten Schutz-
einrichtungen vollkommen zuverlässig. Besonders die kleinen Samen
und Früchte haben viel unter Vogelfraß zu leiden, aber
diese Tatsache ist von größter Bedeutung einerseits für
die Erhaltung unserer Körnerfresser im Winter... und
anderseits für die Vernichtung zahlreicher Unkraut-
samen!P).“
Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 277
Ich möchte niemanden kränken — aber dieser Satz erscheint
mir wie ein Bocksprung der Logik. Die Samen sind geschützt —
aber wie gut ist es, dass sie nicht geschützt sind, weil dadurch
die Körnerfresser ım Winter die nötige Nahrung finden und Un-
kräuter vernichtet werden.
Auch aus dem Anhange zur Arbeit des Autors — worin etliche
Einrichtungen besprochen werden, die „ohne weiteres als Schutz-
mittel gegen Tierfraß erkennbar sınd“ (S. 833), gegen Vögel aber
nichts nützen, daher „anderen Tieren“ gegenüber wirksam sein
müssen — ließe sich leicht eine Lese bedauerlicher Erzwungen-
heiten herausgreifen.
Nur etliche Beispiele.
Auf S. 833 spricht der Autor von den Borstenhaaren im Innern
der Rosenfrüchte.
„Über die Funktionen dieser Haare ist meines Wissens bis
jetzt nichts bekannt. Nach eingehender Untersuchung der Frage
glaube ich ihre Bedeutung darin gefunden zu haben, dass
sie als Schutzeinrichtung gegen Mäuse wirken"), welche
unbefugterweise den harten Kernen (nicht dem Fleische!) der
Hagebutten nachstellen.“
Ich kann mir mit aller redlichen Mühe nicht vergegenwärtigen,
wie sich ein Unbefangener ernstlich das Entstehen der Borsten-
haare in den Rosenfrüchten im Wege einer Selektion durch Mäuse
vorstellt. Man halte sich vorurteilsfrei das Walten der Auslese
vor Augen — und man wird nicht begreifen, wozu solche abge-
quälte Unbedingtdeutungen nur ersonnen werden. Gedient ist doch
niemandem damit, am allermindesten der Wissenschaft.
Auf S. 834 wırd die Tannirhaltigkeit der peripheren Schichten
mancher Samenschalen besprochen; gegen Vögel wirkt sie nicht,
da diese die Früchte unzerkleinert verschlingen.
„Die Bedeutung der geschilderten Einrichtungen erhellt viel-
mehr aus Erfahrungen, die jedermann selbst schon gemacht hat.
Wenn man beim Verzehren von Johannis-, Stachel- oder Wein-
beeren zufällig einmal auf einen Kern beißt, nımmt man sofort
einen intensiv bitteren und zusammenziehenden Geschmack wahr
und hütet sich deshalb, ein zweites Mal einen Kern zu verletzen. —
Ebenso dürfte es den Säugetieren beim Vertilgen solcher
und ähnlicher Fleischfrüchte ergehen'®. Auf diese Art
wird die drohende Vernichtung!‘) der Kerne durch Säugetiere
vermieden...“
Zerbeißen wir und die Säugetiere (welche?) die Weinbeeren-
kerne wirklich darum nicht, weil sie bitter sind? Und würden
wir wirklich alle zerbeißen, wenn sie nicht bitter wären? Wurden
wirklich alle nicht bitteren zerbissen und starben aus — nur so ist
doch Selektion denkbar? Ich glaube, es kümmert sich kein Wein-
278 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc.
trauben fressendes Tier um die Kerne dieser Früchte; es spuckt sie aus
oder verschluckt sie, gleichgültig, ob sie bitter sind oder nicht,
worauf sie sicher vielfach, wie beim Menschen, unverdaut den Darm
passieren. Dass in diesem Falle irgendwo eine „drohende Ver-
nichtung“, die durch Bitterwerden abgewehrt wird, gesehen werden
könnte, wird jedem Unbefangenen befremdlich scheinen.
Noch ein Beispiel für Annahmen und Beweise, die sich um
sich selbst drehen.
S. 835. — „Bei den unreifen Fleischfrüchten ist der Wert
dieser Eigenschaften des Fruchtfleisches (es handelt sich um den
Gehalt an schlechtschmeckenden oder giftigen Stoffen) völlig klar.
Es darf nicht verzehrt werden, weil die Samen noch nicht die
nötige Ausbildung erfahren haben. Schwieriger liegen die Verhält-
nisse bei denjenigen reifen Früchten, welche den schlechten Ge-
schmack bewahrt haben. Vielleicht soll der unbefugte Fraß ge-
wisser Tiere verhindert werden, die das Fleisch stückchenweise
vertilgen, ohne dabei die Kerne zu verbreiten; z. B. wäre an manche
gefräßige Schneckenarten, mehrere Raupen, Würmer und einige
kleinere Säugetiere zu denken. Die widerlich schmeckenden Arten
haben vor den angenehmen den Vorteil, dass sie von solchen Tieren
nicht angegangen werden können und trotzdem für Vögel genießbar
bleiben. Allerdings ist dann ebensogut der befugte Fraß der Säuge-
tiere unmöglich; wenn wir aber bedenken, dass schlecht schmeckende
Fleischfrüchte gewöhnlich an Standorten wachsen, die nur für Vögel
leicht erreichbar, für Säugetiere aber unzugänglich sind, so scheint
dieser Einwand wesentlich gemildert zu sein.“
Wohl nicht zu mildern ist indessen der Einwand, dass wir mit
solehen Betrachtungen nicht vorwärts kommen können, sondern
nur ım Kreise gehen.
Lassen wir es bei diesen Proben — deren wir ungezählte
herausgreifen könnten — bewenden und zitieren wir, was der Autor
zusammenfassend über die vorangegangenen Versuche, die unreife
und halbreife Samen zum Gegenstande hatten, sagt.
S. 320. — „Als Schutzmittel gegen unbefugten Vogelfraß ist
die chemische Beschaffenheit also kaum zu deuten. Diese Fest-
stellung ist insofern wichtig, als die chemischen Eigenschaften der
reifenden Früchte wiederholt als Schutzeinrichtung gegen Vögel
angesprochen wurden und gegenüber anderen Tieren!) (Säuge-
tieren, Schnecken, Raupen) tatsächlich auch wirksam sind.“
Hier — beim Versagen der chemischen Schutzmittel — stellen
sich wieder die typischen „anderen Tiere“ der Schutzmitteltheorie
ein, um die Theorie zu retten.
Was die reifen Samen anbelangt, so fasst sich bei diesen
der Autor experimentell kürzer.
Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 279
S. 821. — „Größere Samen und (nichtfleischige!) Früchte aller
Familien sind ıhrer gelblichen oder bräunlichen Farbe halber schlecht
sichtbar und bieten wegen ihrer Härte dem Schnabel der Körner-
fresser manche unüberwindliche Schwierigkeiten. — Kleine Samen
und Früchte besitzen ebenfalls eine Schutzfarbe, sind aber oft nach-
giebig und müssen massenhaft gebildet werden, damit eine
genügende Anzahl am Leben bleibt. Von großer Bedeutung
sind auch gute Verbreitungseinrichtungen . .. u. S. w.
Das ist alles, restlos alles, was uns von den „Schutzeinrich-
tungen“ der nichtfleischigen Samen und Früchte gegen „unbefugten“
Vogelfraß geblieben ist.
Die chemischen Schutzmittel — Geruch, Geschmack, Giftig-
keit — haben uns bei genauem Hinsehen vollkommen im Stiche
gelassen. Nicht nur uns Zweifler, sondern auch den Forscher, der
auszog, ihre Wirksamkeit zu erweisen. Auch die mechanischen
Waffen — Haare, Stacheln und andere dräuende Gebilde — sind
laut experimentell gewonnener Erfahrung desselben Forschers ın
Anbetracht der Unempfindlichkeit der Mundhöhle der Vögel nicht
als wirksame „Sehutzmittel“ anzusprechen.
Bleibt uns nichts, nichts als die dürftigen Eigenschaften einer
unansehnlichen Färbung und — nicht einmal für alle — einer
harten Samenschale.
Beide gewinnen uns wohl kaum mehr ab als ein zweifelndes
Lächeln.
Was die unansehnliche Färbung anbelangt, so denke ich da
an die Spechte und Spechtmeisen, die ich im benachbarten Wald-
parke des kaiserlichen Lustschlosses Schönbrunn so oft beobachtete.
Ihre Nahrung ist nicht unansehnlich gefärbt — sie ist überhaupt
unsichtbar. Sie ist verdeckt unter Baumrinde u. dgl. — und die
Vögel finden sie doch!
Wenn alle Tiere verhungern müssten, deren Nahrung nicht
greli und auffällig gefärbt vor ihnen liegt — dann könnten wir
den Umfang unserer Zoologiebücher wohl gewaltig reduzieren.
Nein — jedes Tier weiß seine Normalnahrung zu finden, sie
mag grellfarbig, schutzfarben oder überhaupt nicht sichtbar, ver-
borgen in Holz oder Erde sein. Es hat ja den ganzen Tag nichts
zu tun als seine Nahrung zu suchen. Überdies sehen und kennen
ja die körnerfressenden Vögel schon von weitem die Pflanzen, deren
Samen ihnen zur Nahrung dienen. Diese Samen unter den ihnen
bekannten Pflanzen aufzupicken, haben sie Scharfblick und Zeit
genug.
Überdies beweist ein naiver Blick in die Natur: die unansehn-
liche Färbung der Samen ist kein Hindernis, dass nicht ungemessene
Vogelscharen diese Samen wirklich zu finden und von ihnen zu
leben wüssten.
280 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
Und gleiches gilt von der harten Samenschale. Die Samen
werden gefressen trotz der harten Schale und wenn ein Same wirk-
lich einmal für einen Vogel zu hart ist, so ist dies eben Zufall.
Einen Vorteil gegenüber den anderen, gefressenen Samen aber hat
der harte Same nicht, denn die Pflanzen mit weicheren Samen sind
genau so existenzfähig wie die hartsamigen — und einzig und allein
nur darum handelt es sich doch. Zudem sagt der Autor selbst,
dass viele dieser Samen „nachgiebig“ seien.
Nein — wir sind mit der ganzen Schutzmittelhistorie — man
verzeihe das drastische Wort — Karussell gefahren und steigen
nun, etwas schwindlig noch, ab. Und zum Absteigen reicht uns
der Autor, der unsere Kreisfahrt geführt, unabsichtlich und unbe-
wusst, selber dıe Hand.
Er weiß es wohl nicht, dass er mit den Worten, die er dieser
Schutzmittelzusammenstellung anfügte, das ganze Problem gelöst hat.
y„:.. Sie müssen massenhaft gebildet werden, damit
eine genügende Anzahl am Leben bleibt.
Das ıst alles, das ganze Um und Auf der Lösung des Pro-
blems — es ist der Satz von der „zureichenden Überpro-
duktion“, den ich weiter vorne aufgestellt habe.
Die „Schutzeinrichtungen“ aber sind endgültig versunken.
* *
*
Und nun noch ein letztes Wort.
Was verliert die Deszendenzlehre, wenn ihr die Schutzmittel-
theorie genommen wird?
Ich denke, wohl nichts.
Dass es Dinge gibt, die man nicht mit Selektion erklären kann,
hat die heutige Wissenschaft längst zur Kenntnis genommen. Dass
es ein Substanzproblem gibt, eine unlösbare Frage nach dem Wesen
der Materie und der Energien, und dass die unendliche Formen-
und Farbenfülle der Natur ein Teil dieses unlösbaren Problems
der Materie ist und bleiben wird -—— das konnte die biologische
Wissenschaft wohl nur vorübergehend vergessen. Formen und
Farben ohne Bedeutung weist uns das Mineralreich zur Genüge.
Und der „Kampf ums Dasein“ darf kein Schlagwort sein, das
uns blind für alles andere macht. Es ist nicht wahr: Die Pflanze
kämpft gar nicht mit dem Tier, sondern sie zahlt kampflos einen
Tribut. Und sıe kann ıhn zahlen, weil sie neben dem Tribut noch
Individuen genug hat, die ihre Art in gleicher Fülle fortpflanzen.
Und wenn wir die letzten Ursachen hereinziehen, die den
Kampf der Theorien einst entfacht, die Ursache, warum die Selek-
tionstheorie einst geschaffen wurde — nämlich das eifrige Ver-
teidigen und Begründen der damals jungen, stark bekämpften Des-
zendenztheorie — dann müssen wir uns wohl fragen, ob der Lärm
4
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 351
mit dem Selektionsproblem nicht heute schon etwas überlebt, zu
spät, im Grunde schon zwecklos ist.
Denn die Deszendenztheorie, die damals verteidigt werden
musste mit allen Mitteln, sie ıst heute die unbeschränkte Herrscherin
im Reiche der biologischen Wissenschaften. Wir brauchen nicht
mehr zu fürchten, sie zu verlieren, auch wenn wir an die Allmacht
der Selektion niımmermehr glauben wollen, auch wenn wir den
Kampf ums Dasein in etwas anderem Lichte sehen als die nächst-
vordere Forschergeneration.
Wir dürfen uns frei fühlen und unbeschwert — das was an
echten Werten die Naturwissenschaft des letzten Halbjahrhunderts
errungen, die neue Blüte seit Darwin, das kann uns nicht mehr
genommen werden und das nehmen auch wir ıhr nicht. Auch dann
nicht, wenn wir manchen Auswüchsen der Selektionstheorie ent-
gegentreten, auch dann nicht, wenn wir hinter Fragen, die beant-
wortet schienen, wieder das alte, peinliche Fragezeichen setzen.
Auch Zurückgehen kann ein Fortschritt sein, wenn es das
Zurückgehen von einem Irrtum war. Und ein Fragezeichen an
richtiger Stelle kaun tieferes Wissen sein als eine irrige Antwort.
Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Ein Beitrag zur Entwicklungslehre.
Zusammenfassende Darstellung der eigenen experimen-
tellen Untersuchungen.
Von Dr. Erich Toenniessen,
Privatdozent für innere Medizin, Oberarzt der medizinischen Klinik.
Aus der medizinischen Klinik zu Erlangen (Direktor: Geh. Hofrat Penzoldt).
Robert Koch hatte ım Jahre 1878 durch Anwendung neuer
Methoden den Beweis erbracht, dass das Reich der Mikroben aus
verschiedenen Arten besteht, die ın ihren Eigenschaften konstant,
artfest sind. Die Lehre von der Beständigkeit der verschiedenen
Bakterienarten wurde durch ihn begründet und gelangte zunächst
zur uneingeschränkten Geltung. Bald aber zeigte sich durch An-
wendung der gleichen Methoden, dass innerhalb der Artfestigkeit
eine sehr weitgehende Variabilität besteht. Eine außerordentliche
Zahl von Arbeiten beschäftigte sich mit dieser Frage; nur einige
seien angeführt, um den Gang der Forschung kurz darzulegen.
G. Hauser war wohl der erste, der Variabilitätserscheinungen ein-
wandfrei nachwies (1885) und eine Bresche in das starre Dogma
legte. Später beschäftigte sich Kruse ausführlicher mit den Er-
scheinungen der Variabilität und stellte in weitergehendem Maße
Versuche über die Vererbung der erzielten Abänderungen an (1891).
Neisser und Massini führten den von de Vries (1901) geschaffenen
Begriff der Mutation in die Bakteriologie ein (1905) und gaben die
289 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität Dei Bakterien.
Anregung zu mehreren Arbeiten auf diesem etwas enger begrenzten
Gebiete. Die Gesichtspunkte der allgemeinen, in ihrem jetzigen
Stande noch sehr jungen Vererbungslehre wurden jedoch erst ın
den letzten Jahren auf die Bakterien angewendet. Dies geschah
hauptsächlich durch Beijerinck, Baerthlein, Eisenberg und
den Verfasser.
Die Bakterien sind in mancher Beziehung sehr geeignet zu
Vererbungs- und Variabilitätsversuchen. Zunächst sind sie leicht
als erblich-einheitliches Material, als „reine Linie“ zu gewinnen.
Die Generationen folgen sehr rasch aufeinander, so dass in kurzer
Zeit eine große Zahl von Generationen überblickt werden kann.
Die Lebensbedingungen sind sehr einfach: die Bakterien sind daher
die am leichtesten zu züchtenden Lebewesen, an denen sich die
Einwirkung äußerer bekannter Reize durch die Erscheinungen der
Variabilität und Vererbung beobachten lässt. Man kann verhältnis-
mäßig intensive Einflüsse zur Herbeiführung der Variationen an-
wenden, ohne dass die Vitalität geschädigt wird. Dass die Bakterien
wegen ihres einfachen morphologischen Verhaltens und der an-
scheinenden Einfachheit ihrer sonstigen sichtbaren Eigenschaften
sich schlecht zur Beobachtung von Variabilitätserscheinungen eignen,
wie schon behauptet wurde, ist nicht zutreffend; im Gegenteil sind
sie zu sehr auffallenden und vielseitigen Abänderungen befähigt.
Der Verfasser wurde durch eine zunächst unwillkommene Be-
obachtung veranlasst, sich an dieser Forschung zu beteiligen. Bei
dem Versuch, den im folgenden erwähnten pathogenen Bakterien-
stamm rein zu gewinnen, fanden sich bei der Kultivierung auf dem
Schrägagar stets wieder Teile des Bakterienrasens, welche sich in
ihrem Aussehen von dem übrigen weitaus größeren und typischen
unterschieden und sich aus morphologisch stark abweichenden Indi-
viduen zusammensetzten. Diese atypischen Teile wurden zunächst
für eine Verunreinigung der Kultur gehalten, obwohl sie auch nach
den Tierpassagen immer wieder auftraten, bis sich endlich ergab,
dass sie unter bestimmten Bedingungen ganz gesetzmäßig aus dem
Typus entstanden. Es handelte sich also um eine Variation und
zwar, wie Variabilitäts- und Vererbungsversuche ergaben, um eine
Mutation. Im Laufe der ziemlich langwierigen Versuche wurden
noch zwei andere Variationsformen Bereit, Die Ergebnisse sind
in mehreren Mitteilungen beschrieben. Als ich : einzelnen
Varıationsformen nen genau untersuchte, fand ich, dass
jede neu aufgefundene Variation auch für die vorher gewonnenen
Resultate neue Gesichtspunkte ergab und dass die Eigentümlich-
keiten der einzelnen Variationsformen erst durch ihre Gegensätze
zu den anderen Variationen klar erkannt werden können. Aus
diesem Grunde scheint mir eine zusammenfassende Darstellung
meiner Befunde nicht überflüssig.
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien, 98
U
Allgemein-biologische Grundbegriffe.
Einige allgemein-biologische Grundbegriffe seien insoweit vor-
ausgeschickt, als sie für die Beurteilung der experimentell aufge-
fundenen Tatsachen ın Betracht kommen. Es ist dies notwendig,
um meine Auffassung der Befunde zu begründen und auch um die
angewendete Nomenklatur klarzustellen. Die Nomenklatur der Ver-
erbungsforschung ist leider durchaus nicht einheitlich. Wenn ich
außerdem auch auf einige Fragen kurz eingegangen bin, die zu
meinen Befunden nicht in unmittelbarster Beziehung stehen, so ge-
schah dies einerseits, weil ich eine kurze kritische Zusammenstellung
dieser Fragen in Beziehung zu neuen Befunden schon durch die in
der Vererbungslehre herrschende Divergenz der Meinungen für ge-
nügend begründet halte, andererseits weıl sich bei dem Durchdenken
meiner Befunde auch einige z. T. neue Anregungen allgemein-bio-
logischer Art ergeben haben.
Der Artbegriff. Die „reine Linie“. Die Vererbungs-
forschung befasst sich mit den Gesetzen der Beständigkeit und Ver-
änderlichkeit der Arten, ıhre Folgerungen haben den Artbegriff zum
Gegenstand. Bei dem Versuch, sich über den Artbegriff eine klare
Vorstellung zu bilden, hat man zwei Gesichtspunkte zu berück-
sichtigen. Die Systematik fasst auf Grund der unmittelbaren Be-
obachtung den Artbegriff morphologisch-physiologisch und bezeichnet
— wobei ich mich besonders an Plate’s Definition halte — als
Art jede Vielheit von Individuen, die ın ihren sichtbaren Eigen-
schaften innerhalb eines gewissen Spielraumes gleich sind, sich
untereinander fortpflanzen und deren Nachkommen wiederum in
einem gewissen Spielraum die gleichen Eigenschaften wie die Eltern
besitzen. Dagegen ist der Begriff der „natürlichen Art“ ein gene-
tıscher und ın der Deszendenztheorie begründet. Wir nehmen an,
dass die jetzigen Arten sich aus anderen Arten, sogen. Vorstufen,
entwickelt haben und zwar, dass verwandte Arten aus gemeinsamen
Vorstufen entstanden sind. Wir bezeichnen demnach als natür-
liche Art jede Generationsfolge von Individuen, die sich früher
oder später von einer solchen gemeinsamen Vorstufe abgespalten
und eine selbständige Entwicklungsrichtung eingeschlagen hat — oder
kürzer gesagt: eine genetische Einheit von Individuen. Es ist ohne
weiteres einleuchtend, dass als Endprodukte der phylogenetischen
Entwicklung unter dem Einfluss ähnlicher Außenbedingungen vıele
äußerst ähnliche natürliche Arten entstehen konnten, welche ın
morphologisch-physiologischer Beziehung kaum zu trennen sind und
demgemäß nur eine einzige systematische Art bilden. Die syste-
matische Art schließt also, wie besonders de Vries und Johannsen
betont haben, ein Gemenge natürlicher Arten ein. Sie stellt eine
Kollektivart dar, deren Abgrenzung gegen andere Arten ohne eine
gewisse Willkür gar nicht möglich ist.
284 Toenniessen, Uber Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Bei sexuell sich fortpflanzenden Arten wird der Artbegriff noch
weiter kompliziert durch die Möglichkeit der Kreuzung mit ver-
wandten natürlichen Arten; die Generationsfolge bleibt also nicht
einheitlich in sich geschlossen und es kommt dadurch zur Ent-
stehung komplizierter Polyhybride. Der Artbegriff lässt sich hier
also auch durch Verwendung deszendenztheoretischer Gesichtspunkte
nicht scharf umgrenzen (Plate), so dass er bei vielen höheren Arten
nur systematisch, etwa nach der Definition Plate’s noch am
schärfsten zu präzisieren ist.
Bei den asexuellen Arten, wie den Bakterien, lässt sich da-
gegen der Begriff der natürlichen Art aufrecht erhalten: denn bei
diesen ist eine Kreuzung verwandter Arten unmöglich und die
natürlichen Arten bleiben vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an in
sich geschlossen.
Die Erkenntnis, dass die Arten der Systematik zum mindesten
ein Gemenge vieler natürlicher Arten, bei den sexuellen Arten oft
sogar eine außerordentlich komplizierte Kreuzung natürlicher Arten
enthalten, ist für die Methodik der experimentellen Variabilitäts-
forschung von fundamentaler Bedeutung. Denn es ist klar, dass
wir zum Studium der Veränderlichkeit einer Art erblich einheit-
liches Material verwenden müssen, da sonst eine anscheinend experi-
mentell erzielte Veränderung durch Eigenschaften einer anderen
beigemischten Art (bei Bakterien durch eine sogen. „Verunreinigung“
der Kultur) oder bei den Polyhybriden der höheren Arten auf un-
gleicher Vererbung einer Kombination von Eigenschaften (den
Mendel’schen Gesetzen entsprechend) beruhen kann. Die erste
Aufgabe vor Anstellung von Versuchen ist also die Gewinnung
erblich einheitlichen Materials. Wie dies bei höheren Arten erreicht
wird, braucht hier nicht erörtert zu werden. Bei Bakterien er-
halten wir erblich einheitliches Material relativ einfach dadurch,
dass wir uns eine Reinkultur herstellen. Dies gelingt durch das
Burri’sche Tuscheverfahren oder mit genügender Sicherheit durch
wiederholte Plattenisolierungen (Eisenberg, Baerthlein). Eine
solche Kultur entspricht dem von Johannsen aufgestellten Be-
griff der „reinen Linie“: „eine reine Linie ist der Inbegriff aller
Individuen, welche von einem einzelnen, absolut selbstbefruchtenden,
homozygotischen Individuum abstammen.*
Bei den höheren Arten (speziell beim Menschen) ist das Ar-
beiten mit reinen Linien selten bezw. nie möglich, da es sich meist
um komplizierte Polyhybride handelt. Die nach Einwirkung eines
bekannten äußeren Reizes eintretende Variation ist also nicht nur
von dem bekannten Reiz, sondern auch von unbekannten inneren
Faktoren (Variation durch mendelnde Eigenschaften) abhängig. Bei
reinen Linien ist dagegen die Variation eindeutig durch den äußeren
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 985
Reiz bestimmt. Demnach ıst das Verhalten reiner Linien „die
erste Grundlage für die Erblichkeitslehre* (Johannsen).
Selbstverständlich sind die bei Bakterien zu beobachtenden
Gesetzmäßigkeiten nicht ohne weiteres auf die höheren Tiere zu
übertragen; immerhin können sie zu neuen Fragestellungen und
Gesichtspunkten führen, wenn die vergleichend-physiologische Me-
thode mit richtiger Kritik geübt wird.
Vererbung und Variabilität. Die Vererbungsforschung
nimmt an, dass die Artmerkmale durch irgend eine, allen Indi-
viduen der Art gemeinsame, innere Ursache fixiert sind und bei
der Fortpflanzung von den Eltern durch die gleiche Ursache auf
die Nachkommen übertragen, vererbt werden. Diese Vererbung
geschieht bei den sexuellen Lebewesen durch Vermittlung der Keim-
zellen, bei den asexuellen durch das Soma der Eltern unmittelbar
— jedoch nur anscheinend, wie sich aus folgendem ergeben wird —
oder ganz allgemein gesagt: durch eine „Vererbungssubstanz“.
Nägeli hat für diese Substanz die Bezeichnung ldioplasma einge-
führt. Weismann hat ım Anschluss an den von ihm geschaffenen
Unterschied zwischen Soma und Keimzellen die Vererbungssubstanz
Keimplasma genannt und zunächst angenommen, dass das Keim-
plasma nur in den Keimzellen vorhanden sei. Auf der Kontinuität
des Keimplasmas beruht nach W eis mann die Beständigkeit der Arten.
Auf Grund neuerer Befunde müssen wir jedoch annehmen, dass
zwischen den sexuellen Lebewesen mit differenzierten Keimzellen
und den asexuellen ohne differenzierte Keimzellen, z. B. den Bak-
terıien, hinsichtlich der Zusammensetzung aus Soma und Keim-
plasma ein prinzipieller Unterschied nicht vorliegt. Denn erstens
besitzen die sexuellen Lebewesen neben ihrer differenzierten Keim-
bahn auch ın ihren Körperzellen, d. h. in ihrem Soma Keimplasma
(Roux, 13), so dass man ein generatives und somatisches Keim-
plasma unterscheiden muss (wie zuletzt auch Weismann zuge-
geben hat); andererseits kommt, wie neuere Untersuchungen be-
sonders Swellengrebel’s zeigen, auch bei den Bakterien (zunächst
bei Sporenbildnern, nämlich Milzbrand, nachgewiesen) für die Fort-
pflanzung nicht das ganze Soma der Elternzelle ın Betracht, sondern
nur ein vom Oytoplasma und dem zentralen Chromatinfaden sich
abtrennender Teil, und zwar wird ein Teil der Vererbungssubstanz
zur Sporenbildung verwendet — er ist gewissermaßen morpho-
logisch differenziertes Keimplasma — ein anderer Teil bleibt ım
Soma zurück und kann durch Teilung des Somas zur Vererbung
führen; er ist das Analogon zum somatischen Keimplasma der Lebe-
wesen mit differenzierter Keimbahn. Es handelt sich demnach nur
um einen graduellen Unterschied, der darin besteht, „dass der ma-
terielle Zusammenhang zwischen zeugenden und erzeugten Indi-
viduen bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung viel inniger ist
286 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
und viel länger dauert als bei der geschlechtlichen“ (Haeckel, 3).
Auf Grund des Vorstehenden könnte man auch bei den Bakterien
den Begriff des Keimplasmas den Vererbungsvorgängen unbedenk-
lich zugrunde legen. Ich möchte jedoch der Bezeichnung Idio-
plasma den Vorzug geben: denn das Wort Idioplasma ist eine ein-
heitliche Bezeichnung für die Vererbungssubstanz und betont außer-
dem die Arteigentümlichkeit der Vererbungssubstanz.
Das Idioplasma enthält die Artmerkmale nicht als solche fertig
ausgebildet, sondern in irgendeiner anderen Weise ursächlich fixiert.
Wir nehmen an, dass die Artmerkmale als „Anlagen“ in der Ver-
erbungssubstanz enthalten sind, und zwar, dass den einzelnen Art-
merkmalen bestimmte Anlagen entsprechen. Der Begründer dieser
Theorie ist Darwin (Pangenesistheorie). Durch die Mendel’schen
Forschungen hat die Darwin’sche Theorie sehr an Wahrschein-
lichkeit gewonnen und wir können es jetzt als eine Grundanschauunng
für die Vererbungsforschung betrachten, dass die einzelnen Art-
merkmale bestimmten Anlagen entsprechen und also die Vererbungs-
substanz aus emzelnen Erbeinheiten zusammengesetzt ist. Diese
besitzen unter Umständen eine beträchtliche Selbständigkeit und
können bei Kreuzungen sogar selbständig abgespalten werden.
Natürlich können wir uns keine bestimmte Vorstellung über die
Struktur dieser Anlagen machen: aber die Annahme substantiell
bedingter Erbeinheiten erscheint begründet. Lediglich eine „Fähig-
keit“ der Vererbungssubstanz zur Bildung der Artmerkmale anzu-
nehmen ist etwas selbstverständliches und keine Erklärung, wie
auch Plate sagt. Im Laufe der Forschung sind für diesen Begriff
mehrere Namen geprägt worden: Gene (Johannsen), Erbeinheiten
(Baur), Faktoren (Plate), Pangene (Darwin, de Vries), Deter-
minanten (Weismann), Anlagen (O. Hertwig).
Unter gleichbleibenden Bedingungen zeigen die Artmerkmale
große Beständigkeit. Da die Artmerkmale bei der Ontogenese aus
den Anlagen in ıhrer späteren Form schon gebildet werden, bevor
sie durch adäquate äußere Reize hervorgerufen sein können
(O. Hertwig), so folgt, dass die Umwandlung der Anlagen in die
Artmerkmale aus inneren Gründen geschieht, nämlich aus dem Ver-
mögen, sich in der für die Art charakteristischen Weise zu ent-
wickeln. Dieses Beharrungsvermögen der Anlagen muss
als die Ursache der Vererbung angesehen werden.
Durch Einwirkung äußerer Reize kann aber die Entwicklung
der Anlagen beeinflusst werden, sobald die Stärke des einwirkenden
Reizes das Beharrungsvermögen der Anlagen übertrifft. Hierbei
sind adäquate Beziehungen vorhanden. Die Anlagen besitzen dem-
nach die Fähigkeit, auf äußere Reize zu reagieren. Diese Re-
aktıonsfähigkeit des Idıioplasmas auf äußere Reize ist die
Ursache für die Variabilität.
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 987
Dies ist noch näher zu erörtern. Zunächst der Begriff der Ursache. Um den
Begriff der Ursache ist in den letzten Jahren ein besonders lebhafter Streit ent-
brannt. Den Ursachenbegriff ganz zu eliminieren, wie es die Anhänger des „Kon-
ditionismus“ tun und einen Vorgang lediglich als einen Komplex von Bedingungen
zu erklären, halte ich nicht für richtig. Bedingungen ermöglichen einen Vorgang
nur, höchstens modifizieren sie ihn: „wirkende Bedingungen sind sprachlich und
sachlich ein Unding‘“ wie Martius (Das Kausalproblem in der Medizin, Beiheft V
der med. Klinik 1914) sehr richtig betont. Denn sie sind mit dem Begriff der
Ursache verbunden. Wollten wir den Ursachenbegriff als mystisch ganz eliminieren,
so müssten wir auch den Begriff der Kraft, der potentiellen und kinetischen Energie
in der Physik und Chemie, ja sogar den der Funktion im Sinne der höheren Mathe-
matik eliminieren Niemand wird behaupten können, dass dies mystische Begriffe
sind. Ich fasse den Ursachenbegriff energetisch auf wie Martius. In diesem
Sinne ist die Ursache für einen Vorgang ein materielles Substrat mit der ihm inne-
wohnenden latenten Energie; die Äußerung dieser Energie (= Ablauf des Vorgangs)
erfolgt durch den auslösenden Faktor, sämtliche äußere und innere Umstände, die
auf die Entstehung und den Ablauf des Vorganges irgendeinen Einfluss auszuüben
imstande sind, werden als Bedingungen bezeichnet.
Weiterhin möchte ich bemerken, dass zur Erklärung der Vererbung zwar un-
bedingt ein Beharrungsvermögen der Anlagen zur Bildung der gleichen Artmerk-
male wie bei den Eltern angenommen werden muss. Doch kann die Bildung der
Artmerkmale nicht allein auf ein Beharrungsvermögen der Anlagen zurückgeführt
werden, etwa derart wie beim Wachstum einer Zelle lediglich durch die Teilung
wieder die gleichen Zellen entstehen. Sonst wäre ja keine Differenzierung zu ver-
schiedenen Zellen und Organen möglich. Wir müssen also annehmen, dass bei der
Vererbung die Umsetzung der Anlagen in die Artmerkmale durch irgendwelche
Reizwirkungen beeinflusst wird (Theorie der Biogenesis von O. Hertwig) und dass
also eine Reaktionsfähigkeit des Idioplasmas auf Reize nicht nur bei der Variation,
sondern auch bei der Vererbung beteiligt ist: Die Reize, welche bei der Vererbung
neben dem Beharrungsvermögen der Anlagen zur Bildung der Artmerkmale führen,
sind hauptsächlich innerer Art, wie durch die Wirkung bestimmter Drüsen mit
innerer Sekretion bewiesen ist. Diese Reize sind die gleichen wie bei den Eltern,
infolgedessen ist auch das Anlageprodukt das gleiche. Außerdem lässt sich auch
die Wirkung äußerer Reize nicht ausschließen: sie entsprechen bei der unveränderten
Vererbung der Artmerkmale dem für die Art charakteristischen Milieu. Bei der
Variation kommen dagegen neue äußere Reize dazu: infolgedessen wird das Anlage-
produkt abgeändert, während es lediglich auf Grund des Beharrungsvermögens der
Anlagen und der Einwirkung der bisherigen Reize das gleiche geblieben wäre. Doch
spielt auch bei der Variation das Beharrungsvermögen der Anlagen eine wesentliche
Rolle; denn nicht alle Artmerkmale werden durch irgend einen neuen äußeren Reiz
abgeändert, die meisten werden unverändert vererbt. Auch wirkt der Reiz nur insoweit
variierend, als er das Beharrungsvermögen der Anlagen überwindet. Es zeigen sich
also bei dem Vorgang der Vererbung die gleichen Energieformen des Idioplasmas
beteiligt wie bei der Variation. nämlich einerseits ein Beharrungsvermögen, anderer-
seits die Fähigkeit, auf Reize äußerer und innerer Art zu reagieren. In dieser Be-
ziehung sind Vererbung und Variation nahe verwandte Vorgänge, die Variation nur
eine durch äußere Reize modifizierte Vererbung.
Hienach ist die Vererbung vom Kausalitätsstandpunkt folgendermaßen zu
analysieren. Ursache der Vererbung ist die Vererbungssubstanz hauptsächlich auf
Grund ihres Beharrungsvermögens, sich in den Nachkommen ebenso zu entwickeln
wie in den Eltern, außerdem auf Grund ihrer Reaktionsfähigkeit gegenüber äußeren
und inneren Reizen, der auslösende Faktor sind die gleichen inneren und äußeren
Reize, die bisher auf die Entwicklung und das Leben der Art eingewirkt haben,
3edingungen sind das Wachstum und sämtliche Umstände, welche das Wachstum
ermöglichen. — Ursache für die Variation ist ebenfalls das Idioplasma, jedoch haupt-
258 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
sächlich auf Grund seiner Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize, weniger auf Grund
seines Beharrungsvermögens, auslösender Faktor ist ein neuer äußerer Reiz, Be-
dingungen sind wiederum alle Umstände, welche das Wachstum und das Leben
der Generationsfolge ermöglichen. Man ist also gezwungen, für den Vorgang der
Vererbung mehrere Ursachen anzunehmen; dies erklärt sich daraus, dass der Vor-
gang der Vererbung in Wirklichkeit kein einziger, einheitlicher Vorgang ist, sondern
sich aus mehreren Vorgängen zusammensetzt. Ebenso ist es bei der Variation
Grundformen der Variabilität. Die experimentell herbei-
geführten Variationen zeigen in der Art und Weise, wie sie äußer-
lich in Erscheinung treten, regelmäßig wiederkehrende Gesetzmäßig-
keiten, auf Grund deren man verschiedene Formen der Variation
scharf voneinander trennen kann. Die von mir beobachteten Varia-
tionen unterschieden sich durch den sichtbaren Variationseffekt,
durch ihre Entstehungsweise und hauptsächlich durch den Grad
ihrer Erblichkeit. Es zeigte sich, dass die Erblichkeit zwar nicht
zur absoluten Trennung der Variationen in erbliche und nicht erb-
liche brauchbar war, da sich die Varianten nicht prinzipiell, sondern
nur dem Grade nach hinsichtlich der Erblichkeit unterschieden.
Diese Unterschiede waren aber sehr scharf und ermöglichten es,
die der sichtbaren Variation zugrunde liegende Veränderung des
Idioplasmas zu analysieren. Auf Grund meiner Befunde kam ich
in teilweiser Übereinstimmung mit den bisherigen Resultaten der
Variabilitätsforschung zu folgender Einteilung der Variationsformen:
1. Die Modifikation. Eine Erbeinheit wird derartig beeinflusst,
dass sie ihr Produkt, das fertige Artmerkmal ın veränderter Weise
(irgendwie modifiziert dem Grade oder der Art nach) bildet, ohne
sich dabei selbst zu ändern.
2. Die Mutation. Eine Erbeinheit wechselt ihren Zustand von
Aktivität. Sie wird völlig inaktiv: retrogressive Mutation, wodurch
das Artmerkmal in den betreffenden Generationen verschwindet,
oder sie wird aus latentem Zustand wieder aktıv: progressive
Mutation.
3. Die Fluktuation. Sie führt als retrogressive Fluktuation zu
einem Verlust, als progressive zu einem Gewinn von Erbeinheiten.
4. Die Kombination. Bei sexueller Fortpflanzung zweier art-
verschiedener Eltern entsteht eine erbliche Verschiedenheit der
Nachkommen gegenüber den Eltern. Diese durch Vermischung
ungleicher Erbsubstanz entstehende Variation richtet sich nach den
Mendel’schen Gesetzen. Zur Entstehung neuer Erbeinheiten führt
sie unmittelbar nicht. Für Bakterien kommt sie, da sich diese
asexuell fortpflanzen, nicht in Betracht.
Vorstehende Einteilung stimmt mit der von Beijerinck ge-
gebenen überein, jedoch nur äußerlich. Denn hinsichtlich der Modi-
fikation und der Fluktuation kam ich zu einer wesentlich anderen
Auffassung. Auch gegenüber manchen anderen heutzutage ver-
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 389
breiteten Anschauungen ergaben sich Differenzen; die Begründung
meiner Auffassung wird an der Hand der Tatsachen erfolgen.
An dieser Stelle möchte ich die Begriffe Phaenotypus und
Genotypus kurz erwähnen, welche Johannsen in die Vererbungs-
forschung eingeführt hat. Diese Begriffe gehen von der Tatsache
aus, dass sich eine Art ın ihren sichtbaren Eigenschaften ändern
kann, ohne dass sich die den sichtbaren Eigenschaften zugrunde
liegenden Erbeinheiten zu ändern brauchen. Als Phaenotypus wird
das Gesamtbild der äußerlich sichtbaren Eigenschaften einer Art
bezeichnet, der Genotypus entspricht der wirklichen Zusammen-
setzung einer Art aus den einzelnen Erbeinheiten (Biotypus ist die
Gesamtheit der Individuen des gleichen Genotypus). Phaenotypische
Änderungen brauchen demnach keiner genotypischen Änderung zu
entsprechen: die etwaige gleichzeitige Abänderung des Genotypus
ist erst durch Vererbungsversuche festzustellen.
Die biologische Bedeutung der experimentell er-
zielten Variationen. Die Vererbung erworbener Eigen-
schaften. Die wichtigste Frage bei der Beurteilung einer Variation
ist unstreitig die: führt die Variation zur Überschreitung der Art-
grenzen, kommt sie für die Entstehung neuer Arten in Betracht?
Das Wesentliche der Artumbildung besteht bekanntlich darin, dass
eine Art eine neue Eigenschaft erwirbt, welche erblich ist, d.h.
im Idioplasma als Anlage fixiert wird. Auch durch den Verlust
einer Erbeinheit kann eine Artumbildung eintreten. Infolgedessen
können die Modifikation und die Mutation als artbildende Varıations-
formen nicht gelten, da hierbei die vorhandenen Erbeinheiten den
veränderten Außenbedingungen entsprechend sich nur anders äußern
bezw. ihren Zustand der Aktivität wechseln Die Fluktuation da-
gegen bringt, wie man aus ihrer außerordentlich hohen Erblichkeit
schließen kann, mit großer Wahrscheinlichkeit einen Verlust bezw.
Gewinn von Erbeinheiten mit sich. Die experimentelle Auffindung
dieser neuen Variationsform veranlasst mich, meine Befunde mit
dem Problem der Artumbildung in Beziehung zu bringen und kri-
tisch zu der Möglichkeit der experimentellen Erzielung vererbbarer
Eigenschaften — oder wie meist formuliert: der Vererbung er-
worbener Eigenschaften -— Stellung zu nehmen.
Wollen wir entscheiden, ob durch einen bekannten äußeren
Reiz die Entstehung einer neuen Erbeinheit herbeigeführt werden
kann, so müssen wir uns zunächst über die Rolle der äußeren Reize
bei dem Gewinn nener Erbeinheiten klar sein, so weit dies auf
Grund der bisher bekannten Tatsachen möglich ist. Die Beobach-
tung zeigt uns, dass viele der jetzt vorhandenen Artmerkmale er-
kennbare Beziehungen zu „adäquaten“ Reizen aufweisen. Der Bau
der Sehorgane z. B. wäre ohne den Einfluss von Lichtstrahlen un-
verständlich. Jedoch ist es nicht möglich, durch Anwendung be-
xXXXV. 19
J90 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
stimmter äußerer Reize beliebig die Entstehung neuer vererbbarer
Eigenschaften zu bewirken. Die wesentliche Ursache für die Ent-
stehung neuer Erbeinheiten ist infolgedessen nicht in äußeren Reizen,
sondern in endogenen, der lebenden Substanz innewohnenden Eigen-
schaften zu suchen. Diese bestehen zunächst in der Fähigkeit der
lebenden Substanz und hauptsächlich des Idioplasmas, auf äußere
Reize zu reagieren — wie schon als Ursache der Variation im all-
gemeinen erwähnt wurde. Für die erbliche Erwerbung einer
neuen Eigenschaft muss weiterhin die Fähigkeit des Idioplasmas
vorausgesetzt werden, ein neu aufgetretenes, in Beziehung zu äußeren
Reizen entstandenes Artmerkmal als Anlage in sich zu fixieren.
Dies geschieht für unsere Wahrnehmung unter dem Gewinn neuer
Funktionen und im Sinne des Fortschrittes.
Diese Annahme, welche dem Nägeli’schen Prinzip der Progression entspricht,
scheint mir die natürlichste Erklärung für die Ursache der Fortentwicklung der
Arten zu sein: das Nägeli’sche Prinzip enthält keinen mystischen, teleologischen
Begriff (wie auch O. und R. Hertwig betonen), sondern sucht die Entwicklung
der Arten energetisch zu erklären. Wenn wir mit Haeckel (generelle Morphologie
der Organismen, 2) annehmen, dass lebende Substanz in einem gewissen Stadium
der Erdentwicklung aus anorganischen Vorstufen einmal entstanden sein muss — was
auf Grund des heutigen Standes der Naturwissenschaften ein „logisches Postulat“
(R. Hertwig) ist — so ist das Nägeli’sche Prinzip der Progression nur die Fort-
setzung zu dieser Theorie Haeckel’s. Von diesem Standpunkt aus ist die für uns
im Sinne eines Fortschrittes erfolgende Differenzierung der Lebewesen zu immer
komplizierteren Arten zurückzuführen auf die Außerung einer Energieform. welche
schon für die Entstehung der lebenden Substanz aus anorganischen Vorstufen maß-
gebend war und deren weitere Einwirkung die Fortentwicklung der lebenden Sub-
stanz verursachte. Es handelt sich also um einen Vorgang, der, auf Grund dieser
Energie einmal in Gang gekommen, weiter fortschreitet so lange eben die Differen-
zierungsfähigkeit der lebenden Substanz auf Grund ihrer physikalisch-chemischen
Konstitution ausreicht. Natürlich können wir diese, die Entwicklung der lebenden
Substanz verursachende Energieform ebensowenig wie alle Formen latenter oder
kinetischer Energie, der sogen. „Kräfte‘‘ ihrem Wesen nach erkennen; wir müssen
sie aber ihren experimentell zu beobachtenden Außerangen und Gesetzmäßigkeiten
nach als vorhanden, „gegeben“ hinnehmen.
Neben dieser inneren Entwicklungsfähigkeit spielen aber bei
dem Gewinn neuer Eigenschaften äußere Reize eine wichtige Rolle.
Denn die morphologische und funktionelle Entwicklung der Organe
ist durch die Eigenschaften der adäquaten Reize, beim Auge z. B.
durch optische Gesetze, bestimmt. Man muss also annehmen, dass
äußere Reize bei der Erwerbung neuer Eigenschaften stets beteiligt
sind, auch wenn sie diese Eigenschaften nicht „unmittelbar be-
wirken“, sondern nur auslösende oder modifizierende Faktoren sind.
Auch die Selektion kann unmittelbar keine neuen Erbeinheiten
hervorrufen; sie schafft nur ein Übergewicht der ım Kampfe ums
Dasein tüchtigeren Formen und Individuen. Hierdurch kann aller-
dings die weitere Entwicklung der Art im Sinne eines Fortschrittes
begünstigt oder wenigstens ermöglicht werden, weil die Selektion
dysgenetische Faktoren, die bei der Vererbung eine Neigung zur
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 291
Kumulierung zeigen, ausschaltet. Ebenso schafft die Bastardierung
unmittelbar keine neuen Erbeinheiten, sondern nur eine neue Kom-
bination schon vorhandener Erbeinheiten. Trotzdem möchte ich
den indirekten Einfluss der Selektion und der Bastardierung bei
der Entstehung neuer Erbeinheiten nicht unterschätzen. Denn der
Gewinn neuer Eigenschaften ist auf Grund einer inneren Fähigkeit
bedingt durch den jeweils erreichten inneren Zustand einer Art ın
steter Beziehung zu äußeren Reizen. Dieser innere Zustand ist
sicher durch Selektion und Bastardierung beeinflussbar, wie in vor-
stehendem kurz angedeutet.
Die Vererbung erworbener Eigenschaften müssen wir aus all
dem als eine Grundbedingung für die Entwicklung der Arten vor-
aussetzen. Dies gilt aber nur für die Eigenschaften, die zwar ın
Beziehung zu äußeren Faktoren, aber auf Grund endogener Fähig-
keiten entstanden sind, nicht aber für solche Eigenschaften und
Veränderungen, die beliebig durch äußere Reize (wie durch Ge-
brauch oder Nichtgebrauch) allein bewirkt werden können. Diese
spielen sich innerhalb der Reaktionsbreite der Art ab und führen
nicht zur Veränderung der Vererbungssubstanz.
Daraus geht hervor, dass wir durch äußere Reize nur dann
eine neue erbliche Eigenschaft hervorrufen können, wenn wir durch
den äußeren Reiz eine adäquate, aber noch nicht zur Bildung einer
Erbeinheit fortgeschrittene Differenzierungsfähigkeit des Idioplasmas
treffen. Es erscheint infolgedessen außerordentlich erschwert, ex-
perimentell eine neue erbliche Eigenschaft zu erzielen. Die äußeren
Reize, wie sie jetzt auf die Lebewesen einwirken, sind sich seit
langen Zeiträumen, die weit den Bereich der experimentellen For-
schung überragen, gleich geblieben. Soweit also eine Differen-
zierungsfähigkeit unter Anpassung an die jetzigen Reize möglich
war, ist sie entweder schon zu dem ıhr möglichen Ende gekommen
oder schreitet für unser Wahrnehmungsvermögen unmerklich lang-
sam weiter. Absolut neue, dem bisherigen Milieu einer Art voll-
kommen fremde Reize stellen meist einen groben Eingriff ın die
Lebensbedingungen dar und führen dann lediglich zu einer Schä-
digung. Ich persönlich erachte den experimentellen Beweis für die
Vererbung einer neuen, erworbenen Eigenschaft durch die bisher
beschriebenen Versuche für nicht erbracht, auch wenn die Möglich-
keit dieses Beweises nicht zu leugnen ist. Insbesondere die als
„Mutationen“ beschriebenen Versuche beweisen m. E. nicht die Ver-
erbung erworbener Eigenschaften, da sie zu wenig erblich sind.
Dagegen ist bei meinen Befunden über die Fluktuation (bei der
Zurückverwandlung der retrogressiven Fluktuante) ein außerordent-
licher Grad von Erblichkeit vorhanden; auch wären die Bedingungen
für die Erwerbung einer vererbbaren Eigenschaft gegeben, wie ich
nach Besprechung der Befunde darstellen werde. Allerdings handelt
1135
299 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
es sich auch bei meinen Versuchen nicht um die Erzielung einer
gegenüber dem Ausgangstypus neuen, erblichen Eigenschaft, sondern
nur um die Wiedergewinnung einer experimentell zu Verlust ge-
brachten, also schon einmal vorhandenen Eigenschaft.
Mechanismus der Variationsvorgänge. Im Zusammen-
hang mit meinen Ausführungen darüber, dass zwischen den asexuellen,
einzelligen Lebewesen und den sexuellen ein prinzipieller Unter-
schied in der Zusammensetzung aus Soma und Keimplasma nicht
besteht, möchte ich noch kurz auf die Beziehungen zwischen Soma
und Keimplasma bei der Variation hinweisen.
Variationsvorgänge spielen nicht nur während der Entwick-
lung des Individuums, sondern auch noch im erwachsenen Zustand
eine Rolle. Dass die infolge der Abnützung der Organe, sowie der
Verletzung von Organen beständig notwendige Wiederbildung unter
dem Einfluss des Idıoplasmas steht, zeigen die Regenerationserschei-
nungen. Dass adäquate Reize auch während des erwachsenen Zu-
stands eines Individuums eme sichtbar werdende Veränderung be-
stimmter Anlageprodukte veranlassen können, zeigt die Hypertrophie
mancher Organe durch gesteigerte Funktion. Wie wir uns aber
diesen Vorgang und insbesondere sein Extrem, nämlich die Ent-
stehung einer neuen Eigenschaft und ıhre Vererbung, d. h. ıhre
Fixierung ım Idıioplasma als neue Anlage, ım einzelnen vorstellen,
ist m. E. reine Hypothese.
Eine „somatische Induktion“ kann wohl immer angenommen
werden insofern, als ein Reiz zunächst das Soma alleın treffen kann;
die Veränderung, welche er jedoch bei dem betreffenden Anlage-
produkt bewirkt, erfolgt in der für die Art charakteristischen Weise,
also jedenfalls schon auf Grund der Reaktionsfähigkeit des soma-
tischen Idioplasmas. Bleibt diese Veränderung des sichtbaren Art-
merkmals innerhalb der Grenzen der normalen, für die Art charak-
teristischen Reaktionsbreite, so bringt sie keine Veränderung des
Idioplasmas hervor und erstreckt sich nicht über die Grenze des
Individuums hinaus, d. h. sie ist nicht erblich.
Ist die Veränderung des sichtbaren Anlageproduktes jedoch
derart, dass sie die für die Art charakteristischen Grenzen über-
schreitet, so muss man annehmen, dass der Reiz durch Vermittlung
des Somas zu einer Veränderung des somatischen Idioplasmas ge-
führt hat, natürlich eine entsprechende Reaktionsfähigkeit des Idio-
plasmas als Grundbedingung vorausgesetzt. Hierdurch wird ein
Unterschied zwischen somatischem und generativem Idioplasma
geschaffen, der sich irgendwie ausgleicht, indem das generative Idio-
plasma gleichsinnig verändert wird und die Veränderung als neue
Eigenschaft vererbbar ın sich fixiert.
Diese Erklärung, welche den Reiz durch Vermittlung des Somas
zunächst auf das somatische und hierdurch auf das generative Idio-
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 293
plasma wirken lässt, ist m. E. die wahrscheinlichste. Sie entspricht
ungefähr der Theorie von der somatischen Induktion. Die Mög-
lichkeit einer Parallelinduktion in dem Sınne, dass durch den
äußeren Reiz Soma und generatives Keimplasma ohne Vermittlung
des somatischen Keimplasmas gleichzeitig und gleichsinnig ver-
ändert werden, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Auf jeden Fall
müssen wir annehmen, dass der Vorgang der Artumbildung d.h.
der Erwerbung einer neuen, vererbbaren Eigenschaft für unsere
Beobachtung eingeleitet wird durch eine zunächst am Soma
wahrnehmbare, neue Eigenschaft und zu Ende geführt wird durch
Fixierung dieser neuen Eigenschaft in der Vererbungssubstanz.
Dadurch sind die äußeren Reize, welche die Entstehung der neuen
Eigenschaft ausgelöst haben, bei den folgenden Generationen zu
inneren Reizen geworden.
Experimentelle Befunde.
Ausgangsmaterial. Die den Versuchen zugrunde liegende
„reine Tinıe* war ein Stamm des Pneumoniebazillus Friedländer.
Es ist dies ein zu den größeren Mikrobenarten gehörendes Bak-
terıum von sehr charakteristischen Eigenschaften.
Veränderungen dieses Bakteriums wurden schon früher von Kruse (30) und
Wilde (24) beschrieben. Diese Autoren stellten fest, dass man bei Aussaat von alten
Kulturen auf Gelatineplatten neben den typischen Kolonien auch atypische, dem Bact.
coli ähnliche erhält (Wilde), sowie, dass alte Laboratoriumskulturen ihr Schleim-
bildungsvermögen verlieren, wobei die ursprünglich kurzen dicken Stäbchen schlank
werden und sich von Kolibazillen nicht mehr unterscheiden lassen (Kruse). Die
Form der Variabilität konnte aber damals von den Verfassern noch nicht analysiert
werden. In neuerer Zeit hat Baerthlein (21) in seinen Mitteilungen über Mutations-
erscheinungen kurz angegeben, dass er auch bei Kapselbazillen Mutationserschei-
nungen beobachtet hat. Nach den Mitteilungen Baerthlein’s hat auch Gilde-
meister ähnliche Beobachtungen gemacht.
Der typische Bazillus besteht, wenn er lebend in Tusche unter-
sucht wird, aus einem als breites Stäbchen geformten Zellproto-
plasma und einer breiten Zellmembran. Auf die Zellmembran folgt
noch eine sehr breite, von ihr durch verschiedenes Lichtbrechungs-
vermögen deutlich abgesetzte Schleimhülle (auch Kapsel genannt),
die beim Typus bis dreimal so breit als das eigentliche Stäbchen
mit seiner Membran ist (Fig. 1). Bei Hitzefixierung und Färbung
mit Methylenblau färbt sich die schleimige Substanz rotviolett, also
metachromatisch (Heim, 29) und überdeckt die Konturen des eigent-
lichen Stäbchens (Fig. 2). Das Stäbchen und seine Membran sind
lebenswichtige Teile der Zelle, während die sogen. Schleimhülle
ein Sekretionsprodukt vermutlich kolehydratartiger Natur ist. Als
Bezeichnung für das Zellprotoplasma wird in der Bakteriologie auch
das Wort „Endoplasma“, für die Zellmembran das Wort „Ekto-
plasma“ gebraucht, letzteres also in anderem Sinne als in der Proto-
zoenkunde üblich.
294 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Auf den künstlichen Nährböden wachsen die Bazillen sehr
üppig und schnell. Die Bouillon wird dabei gleichmäßig getrübt,
an der Oberfläche bildet sich ein schleimiges Häutchen. Werden
die Bazillen mit der Platinöse auf dem Schrägagar ausgestrichen,
so bilden sie einen zusammenhängenden Bakterienrasen, der zum
größten Teil aus Bakterienschleim besteht. Dieser Rasen ist schon
nach 24 Stunden sehr üppig, erhaben, homogen, grau durchscheinend
und von schleimiger Konsistenz. Lässt man die Bazillen dadurch,
dass man sie in verflüssigtem Agar verteilt und hiervon Platten
sießt, zu einzelnen Kolonien auswachsen, so erhält man Kolonien,
die, wenn oberflächlich gelegen, nach 3 Tagen bis zu 10 mm groß
sınd, von homogen glasig-grauem Aussehen (Fig. 3) und schleimiger
Konsistenz.
Die Pathogenität des Bakteriuns ist eine sehr hohe. Es wurde
aus einem Falle von Pneumonie beim Menschen gewonnen und
hatte unter ausgedehnten Zerstörungen zum Tode geführt. Beim
Tierversuch war die Virulenz ebenfalls sehr hoch. Die weiße Maus
stirbt nach subkutaner oder intraperitonealer Infektion mit 0,0000001
bis 0,0000000001 cem 24stündiger Bouillonkultur in 20—40 Stunden
an Septikämie.
Die den Versuchen zugrunde gelegte Eigenschaft.
Die Erscheinungen der Variabilität wurden an einer Eigenschaft
biochemischer Natur beobachtet. Es war dies das Schleimbildungs-
vermögen. Diese Eigenschaft war zugleich für das morphologische
und tierpathogene Verhalten des Bakterıums maßgebend. Denn
von ihr war die Größe der morphologisch sichtbaren Schleimhülle
(der Kapsel) des einzelnen Individuums, die Menge der in den
Kulturen makroskopisch sichtbaren schleimigen Substanz und der
Grad der Virulenz abhängig und zwar derart, dass die hohe Tier-
pathogenität an die Bildung der Schleimhülle gebunden war. Die
Veränderungen des Schleimbildungsvermögens konnten also auf ver-
schiedene Weise festgestellt werden. Da die Erscheinungen der
Variabilität außerdem schon makroskopisch d.h. durch das Aus-
sehen der Kulturen auffielen, war die gewählte Eigenschaft sehr
geeignet zu Vererbungs- und Variabilitätsversuchen. Den Teil des
Idioplasmas, der für die Schleimbildung maßgebend ist, kann man
nach Beijerinck als „Viskoplasma“ bezeichnen.
Natürliche Existenzbedingungen. Das Milieu, in dem
sich das Bakterium in seinen typischen Eigenschaften konstant er-
hält, ıst der Aufenthalt im Körper bestimmter Tierarten.
Variierender (retrogressiv wirkender) Reiz. Der ab-
ändernde Reiz wurde lediglich durch die Bedingungen der künst-
lichen Kultivierung gewonnen und bestand in der Anhäufung der
Stoffwechselprodukte. Dies ging daraus hervor, daß die Variationen
am zahlreichsten und raschesten eintreten, wenn man an dıe Bak-
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 295
terien im zusammenhängenden Rasen züchtete, weniger wenn man
sie als isolierte Individuen in Bouillon wachsen ließ, am wenigsten,
wenn sie, wie beim Plattenguß, bei jeder erneuten Übertragung in
isolierten Keimen wachsen. Der abändernde Reiz ließ sich außer-
dem hinsichtlich der Dauer seiner Einwirkung in weiten Grenzen
beliebig abstufen. Die Stoffwechselprodukte wirkten retrogressiv
auf das Viskoplasma ein, indem sie das Schleimbildungsvermögen
verringerten oder ganz zum Verschwinden brachten. Je nach Dauer
und Intensität ihrer Einwirkung führten sie die verschiedenen retro-
gressiven Variationsformen herbei.
Zwischen abänderndem Reiz und seinem Effekt lassen sich adäquate Be-
zehungen feststellen. Die Beobachtung ergab, dass die Bazillen nur dann retro-
gressive Varianten bildeten, wenn sie die Fähigkeit der Schleimbildung entweder in
vollem oder nur wenig herabgesetztem Maße besaßen; war dieses Vermögen stärker
herabgesetzt (wenn auch nur durch vorübergehende Verminderung, wie sie z. B. der
Typus durch die Modifikation erfährt) oder aufgehoben, so trat keine weitere retro-
gressive Variation ein. Es bestand also eine spezifische Beziehung zwischen Reiz
und Effekt insofern, als die Anhäufung eines bestimmten Stoffwechselproduktes,
wenn sie zu einer gewissen Menge und Konzentration eingetreten ist, bei gleich-
zeitig entstehenden Generationen die weitere Bildung dieses Produktes verhindert.
Es entspricht dies einer in der organischen und anorganischen Natur allgemein ver-
breiteten Erscheinung, welche in dem Gesetz der passiven Widerstände (Le Cha-
telier, van ’t Hoff) zusammengefasst wird. Sobald z. B. durch ein Ferment ein
Stoff zerlegt wird und die Endprodukte eine gewisse Konzentration erreicht haben,
hört die weitere Zerlegung des Stoffes auf, auch wenn noch genug Ausgangsmaterial
vorhanden ist. Neuerdings ist von Mazzetti eine hierher gehörende Erscheinung
beim Stoffwechsel der Cholerabazillen nachgewiesen worden. Die Cholerabazillen
können aus Nitraten Nitrite bilden, aber nur bis zu einer bestimmten Konzentration.
Ist diese Nitritkonzentration im Nährboden schon vor Zusatz der Cholerabazillen
künstlich hergestellt, so findet keine weitere Nitritbildung mehr statt. Trotzdem
geht das Wachstum ungestört weiter vor sich, wie sich durch die Indolbildung
nachweisen lässt. Daraus folgt zunächst, dass es voneinander unabhängige Funk-
tionen des Stoffwechsels gibt und, was für unsere Beobachtung besonders in Be-
tracht kommt: dass durch Anhäufung eines bestimmten Stoffwechselproduktes gerade
die weitere Bildung dieses Produktes gehemmt wird. Der Mechanismus der Varia-
tion in unserem Falle ist also so zu verstehen, dass die von dem normalen Bazillus
und gewissen Varianten gebildeten Stoffwechselprodukte durch ihre Anhäufung und
wohl auch ihre Abbaustufen eine weitere Bildung der gleichen Produkte verhindern.
Diese Hemmung greift also bei den gleichen Stellen des Stoffwechselapparates an,
durch welche vordem die in Rede stehenden Stoffwechselprodukte selbst gebildet
wurden: es werden ganz bestimmte Anlagen in ihrer Funktion beeinflußt und das
wesentliche dabei ist, dass diese Beeinflussung je nach dem Grade des einwirkenden
Reizes nicht nur eine vorübergehende, sondern eine erbliche Veränderung der be-
treffenden Anlagen herbeiführt. Die retrogressive Variation ist also in unserem
Falle eine nach dem Gesetze der passiven Widerstände erfolgende, dem Reiz adä-
quate Hemmungserscheinung.
Progressiv wirkender Reiz. In entgegengesetzter Rich-
tung wie die Anhäufung der Stoffwechselprodukte wirkten bestimmte
Bedingungen der künstlichen Kultivierung und besonders der Auf-
enthalt im Tierkörper auf den Bazillus ein. So konnte lediglich durch
die Kultivierung unter möglichster Ausschaltung der Stoffwechsel-
296 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
produkte (Wachstum in einzelnen Keimen beim Plattenguss) eine
progressive Wirkung auf die Bildung der Schleimhüllen erzielt
werden, wenn diese Fähigkeit bloß gehemmt war, wie bei der Modi-
fikation. Bei den Variationen von höherer Erblichkeit dagegen
waren Tierpassagen nötig, um den normalen Typus wiederherzustellen
oder eine Wiederannäherung an den Typus zu bewirken.
Das Wiederauftreten des sichtbaren Artmerkmals unter den angegebenen Be-
dingungen ist wohl folgendermaßen zu verstehen. Dass sich die bei der Modifi-
kation nur gehemmten Anlagen schon bei Wegfall der Hemmungen wieder ent-
falten, ist lediglich auf das Beharrungsvermögen der Erbeinheiten zurückzuführen
und erfordert nicht die Annahme einer besonderen Reizwirkung. Dass jedoch
bei den Varianten von höherer Erblichkeit der Aufenthalt im Tierkörper das
Schleimbildungsvermögen anregt und wieder zum Erscheinen bringt, muss auf
einen besonderen Reiz zurückgeführt werden. Der Tierkörper enthält bakterizide
Kräfte gegen den Bazillus. Dies geht daraus hervor, dass die nicht mit Schleim-
hüllen versehenen retrogressiven Varianten im Tierkörper zugrunde gehen, wenn
sie nicht in ganz enormen Mengen zur Infektion verwendet werden. Doch auch
dann führt der Aufenthalt im Tierkörper wohl zunächst zu einer geringgradigen
Schädigung, auf jeden Fall zu einer „Reizung“ der Bakterienzelle. Diese Reizung
veranlasst eine Absonderung von schleimiger Substanz — ebenso wie manche Reize
bei gewissen tierischen Zellen die Absonderung schleimiger Substanzen zur Folge
haben — und wirkt so in progressivem Sinne auf die Fähigkeit der Schleimbildung.
Die Wirkung des Reizes ist natürlich nicht allein von ihm abhängig, sondern hat
ihre Grundbedingung in der inneren Fähigkeit des Idioplasmas, auf den Reiz in
der angegebenen Weise zu reagieren.
Der Aufenthalt im Tierkörper stellt also den für die Bildung
der Schleimhüllen progressiv wirkenden, adäquaten Reiz dar.
Vererbung und Konstanthalten des normalen
Phänotypus.
Der normale Phänotypus lässt sich sehr leicht konstant er-
halten. Aın einfachsten dadurch, dass man den Bazillus auf dem
Schrägagar züchtet, einigemale in nicht zu langen Zwischenräumen
(alle 2—3 Tage) überträgt und dann wieder eine Tierpassage ein-
schiebt. Ohne das Einschieben von Tierpassagen lässt sich bei fort-
gesetzter Kultivierung auf dem Schrägagar der normale Phänotypus
nicht konstant erhalten, da sich infolge des Wachstums im zusammen-
hängenden Bakterienrasen — bei jeder Übertragung liegen hier
die Bazillen von Anfang an eng nebeneinander — schon in frühen
Kulturgenerationen die Wirkung der Stoffwechselprodukte geltend
macht und die retrogressiven Veränderungen bewirkt. Deshalb müssen
nach einer bestimmten Zahl von Schrägagargenerationen immer wieder
Tierpassagen eingeschoben werden, die in progressivem Sinne auf das
Schleimbildungsvermögen wirken und die entsprechenden Anlagen
wieder zur normalen Entfaltung bringen, so dass sie für mehrere
Kulturgenerationen wieder normal bleiben.
Doch läßt sich der normale Phänotypus auch bei fortgesetzter
Kultivierung außerhalb des Tierkörpers normal erhalten, wenn die
Bazillen nicht im zusammenhängenden Rasen wachsen. Dies ıst der
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 297
Fall bei der Kultivierung in der Bouillon, wenn in nicht zu langen
Zwischenräumen (alle 2- 3 Tage) neu übertragen wird. Bleiben die
Bouillonkulturen wesentlich längere Zeit stehen, so macht sich auch
in ihnen die Wirkung der Stoffwechselprodukte geltend.
Sehr ee lässt sich auch auf a Agar der Typus
normal erhalten, wenn das Plattengussverfahren Sina men wird.
Hierbei wird eine Anzahl normaler Individuen zunächst in einem
flüssigen Medium (Bouillon) verteilt, ein kleiner Teil dieser Auf-
schwemmung mit verflüssigtem Agar vermischt und nach gründlicher
Mischung in Platten ausgegossen. Der Agar erstarrt und die Keime
wachsen jetzt zu einzelnen Kolonien aus. Das Wachstum findet dabeı
zunächst in einem von Stoffwechselprodukten völlig freien Milieu statt,
da die Keime einzeln liegen. Erst wenn die Kolonien größer werden,
ist auch bei diesem Verfahren eine Anhäufung von Stoffwechsel-
produkten anzunehmen, da ja ein zusammenhängender Bakterien-
rasen gebildet wird. Wird aber von diesem abermals auf die gleiche
Weise übertragen, so erhält man wiederum nur phänotypisch normale
Kolonien. Dies kann sogar in langen Zwischenräumen beliebig oft
fortgesetzt werden, eine Serie blieb bei vierwöchentlicher Über-
tragung 1'/, Jahre ganz typisch; hierauf wurde der Versuch abge-
brochen.
Aus diesen Versuchen geht hervor, dass sich die Eigenschaft
der Schleimbildung in normalem Umfang weitervererbt ohne dass
der adäquate Reiz hierfür erforderlich ist, wenn nur die Einwir-
kung retrogressiv wirkender Reize in genügender Weise ausge-
schaltet wird. Diese Ausschaltung muss nicht einmal vollkommen
sein, denn beim Plattengussverfahren wachsen die Generationen
nur zeitenweise in einem von Stoffwechselprodukten freien Milieu.
Dieser wenn auch immer nur vorübergehende Wegfall der hemmen-
den Faktoren genügt aber dazu, um eine konstante Vererbung zu
ermöglichen. Erst wenn die abändernden Faktoren kontinuierlich
auf die Generationen einwirken, überwinden sie das Beharrungs-
vermögen der Erbeinheiten und führen zur Variation. Es zeigte
sich also sehr deutlich, daß die unveränderte Vererbung des ge-
prüften Artmerkmals durch das innere Beharrungsvermögen der
Erbeinheiten erfolgt. Die gleiche Tatsache wird sich auch bei den
erblichen Varianten zeigen.
Variabilität.
Die Anhäufung der Stoffwechselprodukte als variierender Reiz
bewirkte je nach Dauer und Intensität der Einwirkung die ver-
schiedenen Variationsformen. Dieser Reiz lässt sich durch Auswahl
der Kulturbedingungen d.h. des Nährbodens und der Zwischenzeit
der sn Dan. dosieren. Die gelindeste Einwirkung,
dıe den Typus aber noch unverändert lässt Sn zur Überwinduug
des Beharrungsvermögens der Anlagen nicht genügt, bringt die
298 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Kultivierung in Bouillon und im Plattenguss mit sich, falls nicht
zu große Zwischenräume (über 4 Wochen) für die Übertragung ge-
wählt werden. Dies ıst schon bei Schilderung der für die unver-
änderte Vererbung maßgebenden Bedingungen erwähnt. Die geringste
varıierende Steigerung des Reizes wird erzielt durch Kultivierung auf
dem Schrägagar, also Wachstum im zusammenhängenden Bakterien-
rasen, und fortgesetzte Übertragung in kurzen Zwischenräumen
(1—2 Tage); eine stärkere durch fortgesetzte Übertragung in längeren
Zwischenräumen (7 Tage). Bei diesem Verfahren ist die Einwir-
kung der Reizes bezw. sein Effekt in der Mitte des Bakterienrasens
und am Rand d.h. bei den zuletzt entstehenden Individuen ver-
schieden. Die stärkste Abänderung wird erzielt, wenn man die
einzelnen Kulturen noch länger (2—4 Wochen) der Einwirkung der
Stoffwechselprodukte überlässt. Eine weitere Verlängerung der
Einwirkungsdauer des Variationsreizes hat jedoch keine Steigerung
des Variationseffektes mehr zur Folge.
Hieraus ergibt sich die für das Verständnis und die Beurteilung
der Variationen sehr wichtige Tatsache, dass von einem gewissen
Alter der Kultur ab keine weiteren Varianten mehr entstehen;
werden in einer Kultur nach einem bestimmten Zwischenraum
(4—8 Wochen) noch keine Varianten gewonnen, so treten auch
späterhin keine mehr auf. Sind in den ersten 4 Wochen schon
Varianten nachweisbar, so nımmt ıhre Zahl bei späteren Unter-
suchungen nicht mehr zu. Die Varianten entstehen also nur, so
lange das Wachstum der Kultur fortgeht und zwar unter den ver-
änderten Bedingungen. Hieraus ergibt sich die Varıabilität
als eine Funktion des Wachstums unter veränderten Be-
dingungen. Dies geht weiterhin auch daraus hervor, dass man
bei fortgesetzter Übertragung in kurzen Zwischenräumen viel rascher
und reichlicher die Varianten erhält als wenn man eine zunächst
typisch gewachsene Kultur sehr lange Zeit stehen lässt und dann
auf Varianten untersucht. Meist erhält man dabei erst nach wieder-
holten Übertragungen eine Variation d. h. der Variationsreiz muss
erst auf eine gewisse Anzahl von Generationen eingewirkt haben
um eine Veränderung zu erzielen. Im Latenzstadium des Wachs-
tums bleibt der Variationsreiz wirkungslos; das ruhende Idioplasma
ist nicht variationsfähig
Gewinnung bezw. Isolierung der Varianten. Methodik
der Versuche. Die Kulturen bezw. Kulturserien, in denen eine
Variation erzielt werden sollte, wurden durch Abimpfung von iso-
lierten Kolonien erhalten; denn nur so kann man sicher sein, dass
man von erblich einheitlichem Material ausgeht. Dann wurden die
Kulturen je nach Absicht der Reizdosierung weiter behandelt, d.h.
in kürzeren Zwischenräumen weiter übertragen oder längere Zeit
stehen gelassen.
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 299
Die Varianten wurden dadurch isoliert, dass aus den Massen-
kulturen nach Aufschwemmung in einem flüssigen Medium Agar-
platten gegossen wurden. Hierbei wachsen die einzelnen Keime zu
isolierten Kolonien aus. Nur dadurch gelingt es, alle Varianten
mit Sicherheit zu gewinnen. Denn die Abänderungen betreffen nie
alle Individuen gleichzeitig, sondern immer nur einen Teil: die
Varianten treten also in Form der Konvarianten, nicht der De-
varianten (Plötz) auf. In Massenkulturen (Strichkulturen auf Agar
oder Bouillonkulturen) lassen sich deshalb die Varianten nur ge-
winnen, wenn sie gegen die normal gebliebenen Individuen in der
Mehrzahl vorhanden sind. Solche Varianten dagegen, welche nur
in sehr spärlicher Zahl auftreten, werden in Massenkulturen durch
die große Menge der normal gebliebenen Individuen verdeckt. Die
Gewinnung der Varianten hat demgemäß durch Selektion der aus
isolierten Keimen gewachsenen Kolonien zu erfolgen.
Feststellung des Variationscharakters. Die Feststel-
lung des Variationscharakters erfolgt durch Vererbungsversuche.
In unserem Falle sind die Abänderungen retrogressiver Natur; ihr
Verhalten hinsichtlich der Erblichkeit wırd also dadurch geprüft,
dass die Varianten sowohl lediglich unter Wegfall des varııerenden
Reizes als auch unter dem Einfluss des entgegengesetzt d.h. pro-
gressiv wirkenden Reizes gezüchtet werden.
Die Modifikation.
Die modifizierte Form erhält man am leichteston durch fort-
gesetzte Kultivierung auf dem Schrägagar. Die Zwischenräume ın
denen übertragen wird, betragen am besten 7 Tage (bei kürzeren
Zwischenräumen bleiben die in den ersten Kulturgenerationen am
Rand des Bakterienrasens auftretenden Mutanten noch weiterhin
erhalten, bei längeren Zwischenräumen könnten Fluktuanten neben
den modifizierten Keimen erhalten werden). Die Übertragung ge-
schieht so, dass stets von der Mitte des Bakterienrasens der letzten
Kultur abgeimpft und auf dem neuen Schrägagar ausgestrichen
wird. Die Kulturen verändern sich dabei allmählich immer mehr.
Zunächst treten am Rand des Bakterienrasens weißliche Sektoren
auf, ın späteren Kulturgenerationen erscheint der Rand als kon-
filuierendes weißliches Band. Diese Veränderungen am Rand des
Bakterienrasens sind verursacht durch Mutation (stärkere Einwirkung
der Stoffwechselprodukte bei den zuletzt entstehenden Individuen
der Kultur, vgl. später). Das Innere des Bakterienrasens bleibt da-
gegen zunächst unverändert d.h. glasig-grau, durchscheinend, faden-
ziehend. Bei fortgesetzter Übertragung aus den zentralen, möglichst
wenig veränderten Partien werden die Kulturen allmählich flacher,
weißlicher, und zwar auch im Innern des Bakterienrasens. Das End-
stadium der Modifikation ist dann erreicht, wenn die Kulturen ganz
300 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
flach, im Innern fast ebenso weißlich geworden sind wie am Rand.
Der Rasen ist dabei nicht ganz homogen, sondern setzt sich aus
feinen weißlichen und etwas durchscheinenden Streifen zusammen,
die am Rand radıär gestellt sind. Dies ıst in der 15.—20, Kultur-
generation erreicht. Der Rand des Bakterienrasens, der zwar meist
noch etwas weißlicher gefärbt ıst als die zentralen Partien, aber
doch bei weitem nicht in solchem Kontrast wie in den ersten Kultur-
generationen, enthält dann keine Mutanten mehr. Wir haben jetzt
eine einheitliche (soweit dies möglich ist, wie folgt) Kultur der
modifizierten Form vor uns. Es ıst von jetzt an gleichgültig, ol
bei weiteren Übertragungen vom Rand oder von der Mitte des
Bakterienrasens übertragen wird; die Kulturen verändern sich nicht
mehr.
Die einzelnen Individuen sind, wenn wir sie auf die Kapsel-
bildung untersuchen, in verschiedenem Grade abgeändert: viele be-
sitzen eine sehr schmale kaum mehr sichtbare Kapsel, einige aber
auch eine breite Kapsel. Bei den meisten zeigt sich die Breite der
Schleimhülle zwischen diesen beiden Extremen. Diese Zusammen-
setzung aus verschiedenartigen Keimen (Fig. 5) erklärt die inhomogene
Struktur des Bakterienrasens bei den modifizierten Kulturen. Er
besteht aus modifizierten und typisch gebliebenen Individuen. Auch
bei beliebig lange fortgesetzter Übertragung der modifizierten Kul-
turen auf dem Schrigen ohren ie typisch bleibenden
Individuen nie ganz. Denn zugleich mıt der Entwicklung der Modi-
fikation nımmt die Schleimbildung der Kulturen d. h. der Variations-
reiz ab. Diejenigen Individuen des Typus, welche die beginnende
Modifikation unverändert überstanden haben, werden infolgedessen
auch durch weitere Übertragungen nicht mehr modifiziert und
wachsen mit den Eigenschaften des Typus weiter. Es gelingt also
nicht, durch weitere Übertragungen eine völlige „Reinkultur“ der
modifizierten Form zu erhalten.
Immerhin aber werden die meisten Individuen durch die fort-
gesetzte Übertragung auf dem Schrägagar im Sinne der Modifi-
kation abgeändert; es gelingt also durch das Verfahren der Massen-
kulturen, die modifizierte Form zu gewinnen.
Sehr deutlich treten die Eigenschaften der Variante hervor,
wenn man von einer modifizierten Schrägagarkultur durch das Guss-
verfahren Platten anlegt. Man erhält dann die den einzelnen Keimen
entsprechenden Kolonien isoliert. Einige sind wie die des normalen
Phänotypus: glasig durchscheinend, groß, erhaben. Sıe bestehen
aus Individuen mit breiten Kapseln und sind hervorgegangen aus
den normalen Individuen, die auch bei lange fortgesetzter Übertra-
gung der modifizierten Kulturen nie ganz aus diesen verschwinden.
Die Mehrzahl der Kolonien dagegen ist wesentlich verändert und
zwar lassen sich bis zu den extrem veränderten alle Übergänge
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 301
nachweisen. Die am wenigsten abweichenden sind fast gleich groß
wie die normalen, enthalten aber ın ihrer glasigen grauen Grund-
substanz weiße Sektoren. Diese bestehen aus Bazillen, welche weniger
breite Kapseln haben und deshalb näher aneinander liegen. Da-
durch werden diese Partien, gegen eine dunkle Unterlage gehalten,
weniger durchsichtig und erscheinen weißlich (gegen helle Unterlage
dunkler, vgl. Abbild.). Die stärker veränderten Kolonien sind kleiner,
bestehen zu ungefähr gleichen Teilen aus grauen und weißlichen
Sektoren (Fig. 4), die extrem modifizierten sind noch kleiner (nach
3 Tagen 3—5 mm), ganz weiß und flach. Bei mikroskopischer Be-
trachtung lässt sich aber deutlich erkennen, dass auch sie radıär
gestreift sind. Die einzelnen Individuen dieser extrem veränderten
Kolonien besitzen meist keine Kapseln mehr, sondern nur Endo-
plasma und Ektoplasma, ganz wenige aber noch breite Kapseln.
Dadurch erklärt sich die inhomogene radiärstreifige Struktur.
Die Modifikation verändert die Virulenz nicht in nachweisbarem
Grade, da die modifizierte Form beim Aufenthalt ım Tierkörper
sofort die Schleimhüllen wieder bildet.
Prüft man die modifizierte Form auf Erblichkeit, so zeigt sich,
dass durch eine Tierpassage (am besten Maus) sofort der normale
Phänotypus wieder erhalten wird. Dieser Rückschlag kann nicht
allein auf Selektion zurückgeführt werden, etwa durch die Annahme,
dass die neben den modifizierten Keimen stets — wenn auch ın
sehr geringer Zahl — vorhandenen normalen Individuen mit breiter
Kapsel und hoher Virulenz allein im Tierkörper zur Vermehrung
gelangen und deshalb nach dem Tode des Tieres aus dem Blut
reingewonnen werden. Dies ıst deshalb ausgeschlossen, weil die
Kulturen der modifizierten Form auch in sehr geringen Dosen die
gleiche Infektionskraft besitzen als die des normalen Phänotypus.
Es müssen also auch die modifizierten Individuen rasch ım Tier-
körper zur Vermehrung gelangen. Da nach einer einzigen Tier-
passage stets nur normale Individuen aus dem Blut gewonnen
werden, sind also die modifizierten in den Typus zurückverwandelt.
Von besonderem Interesse ist das Verhalten der Erblichkeit beim
Plattengussverfahren. Von einer durch Plattenguss isolierten extrem
modifizierten Kolonie gehen in der ersten Plattenaussaat verschieden-
artige Kolonien auf: wenige vom normalen Phänotypus, groß und
slasig, die meisten Übergänge zwischen ihm und der extrem modi-
fizierten Form, einige wie die extrem modifizierte Ausgangskolonie,
d. bh. klein, flach, weißlich. Die weitere Abimpfung und Züchtung
mittels des Plattenverfahrens ergibt, dass von den typisch er-
scheinenden Kolonien nur Kolonien des normalen Phänotypus auf-
gehen, die auch weiterhin die Eigenschaften des Typus beibehalten ;
dagegen erhält man dureh Abimpfung von einer extrem modifi-
zierten Kolonie wiederum das gleiche Gemisch von normalen, mittel-
302 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
stark und extrem modifizierten Kolonien wie von der ersten modi-
fizierten Kolonie. Dies lässt sich beliebig oft wiederholen. Stets
ergibt die Abimpfung von einer extrem modifizierten Kolonie ein
Gemisch von Kolonien des Typus, der modifizierten Form und
einer Zwischenform beider.
Dies ist nicht etwa darauf zurückzuführen, dass die modifi-
zierte Ausgangskolonie aus einem Gemisch von Individuen des Typus
und einer erblichen Variante besteht!). Denn bei einer künst-
lichen Mischung des Typus und einer erblichen Variante gehen bei
der Plattenaussaat die Kolonien nie gemischt an, sondern sie
wachsen immer getrennt oder sie setzen sich, wenn wirklich einmal
zwei erblich verschiedene Individuen unmittelbar nebeneinander zu
liegen kommen, scharf gegeneinander ab und bilden zwei exzen-
trisch geformte Kolonien. Bei Aussaat einer extrem modifizierten
Kolonie wachsen aber die neuen, extrem modifizierten Kolonien
regelmäßig schon vom Zentrum an radıär gemischt und in kon-
zentrischer Anordnung. Daraus geht hervor, dass das Gemisch von
normalen und modifizierten Individuen in einer extrem modifizierten
Kolonie von einem einzelnen, ebenfalls extrem modifizierten In-
dividuum abstammt, bei dessen Proliferation schon die ersten Gene-
rationen zum Teil in den Typus zurückschlagen, während der andere
Teil der Nachkommen modifiziert bleibt. Die in den Typus zurück-
geschlagenen Individuen ergeben bei erneuter Aussaat von vorn-
herein Kolonien des Typus, die modifiziert gebliebenen Individuen
liefern wiederum modifizierte Kolonien, in denen sich der soeben
beschriebene Vorgang wiederholt. Es hat also zunächst den An-
schein, als ob die Modifikation bei einem Teil der Individuen voll-
kommen erblich wäre.
Untersucht man die Plattenkulturen nach längerer Zeit (7 bis
10 Tage), so bemerkt man, dass sich die extrem modifizierten
Kolonien mit einem glasigen, homogenen Saum umgeben. Impft
man von diesem ab (Plattenguss), so erhält man im Gegensatz zur
Abimpfung von der Mitte nur Kolonien des Typus. Die Peripherie
der modifizierten Kolonien enthält also von einem gewissen Alter
der Kultur ab einen Saum von Individuen, die sämtlich ın den
Typus zurückgeschlagen sind. Dies kommt dadurch zustande, dass
die modifizierten Individuen auch bei zunehmendem Alter der Kultur
an Ort und Stelle, wo sie gewachsen sind, also im Bereich der ur-
sprünglichen Kolonie liegen bleiben, während die zurückgeschlagenen,
wieder mit Schleimhüllen versehenen Individuen von dem leicht
1) Die Anregung zu dem in folgendem geführten Nachweis, dass die modifi-
zierten Kolonien nicht aus einem Gemisch des Typus und einer erblichen Variante
bestehen und insbesondere, dass die Erblichkeit der Modifikation durch Fortdauer
des Variationsreizes, nicht aber durch eine wirklich erbliche Abänderung des Idio-
plasmas verursacht ist, verdanke ich Herrn Professor Plate in Jena.
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 303
erhabenen Bezirk der eigentlichen Kolonie nach der etwas niedrigeren
Oberfläche des Agars peripherwärts abfließen (wie es ja für die
Kolonien des Typus charakteristisch ist) und dabei einen konfluieren-
den Rasen bilden; dieser besteht dann natürlich nur aus Individuen,
welche in den Typus zurückgeschlagen sind (Fig. 4). Dass dieser
Saum aus modifizierten Individuen hervorgegangen ist, die erst an
der Peripherie der Kolonien in den Typus zurückgeschlagen sind,
halte ich nieht für wahrscheinlich; denn ın diesem Stadium sınd
die Kolonien schon ziemlich groß, und es hat bereits eine gewisse
Ansammlung von Stoffwechselprodukten stattgefunden, welche einen
Rückschlag der Modifikation in den Typus verhindert.
Auf Grund dieser Beobachtungen lässt sich die Erblichkeit der
Modifikation folgendermaßen beurteilen. Kommt ein modifiziertes
Individuum unter Wegfall des variierenden Reizes zur Proliferation,
so bleibt ein Teil der Nachkommen modifiziert, ein anderer Teil
schlägt schon in den ersten Generationen in den Typus zurück. Es
handelt sich also nicht um echte Erblichkeit, da die Variation schon
in den ersten Generationen abklingt und „der Mittelwert der Nach-
kommen sich verschiebt“ (Johannsen). Nun hält sich aber die
Modifikation doch für beliebig viele Kulturgenerationen konstant,
wenn jedesmal von einer extrem modifizierten Kolonie abgeimpft
wird. Dies ist aber nicht auf echte Erblichkeit d. h. auf Fortdauer
der Variation ohne den Variationsreiz, sondern auf erneute Ein-
wirkung des Variationsreizes zurückzuführen. Denn zugleich mit
dem Wachstum der modifizierten Kolonie häufen sich die retro-
gressiv wirkenden Stoffwechselprodukte an, da bei dem Wachstum
die in den Typus zurückgeschlagenen Keime wesentlich beteiligt
sind. Infolgedessen geraten diejenigen Nachkommen des modifi-
zierten Individuums, die nicht schon in den ersten Generationen in
den Typus zurückgeschlagen sind, von neuem unter die Wirkung
des Variationsreizes und werden am Rückschlag verhindert. Sie
wachsen in dieser Kolonie modifiziert weiter und verhalten sich bei
erneuter Aussaat ebenso wie der modifizierte Keim, von dem sie
stammen d.h. sie schlagen wieder nur zum Teil in den Typus zurück.
Die Erblichkeit der modifizierten Form unter den angegebenen
Bedingungen des Plattengusses ist also nur scheinbar und in Wirk-
lichkeit ebenso zu erklären wie bei fortgesetzter Kultivierung auf
dem Schrägagar, d.h. auf die Fortdauer des Variationsreizes zurück-
zuführen. Die Modifikation ist bei Wegfall des Varıa-
tionsreizes nur für eine beschränkte Zahl von Genera-
tionen erblich.
Wesen und Entstehungsweise der Modifikation. Die
Modifikation trat als retrogressive Variation derart ın Erscheinung,
dass durch die gelindeste Wirkung des retrogressiven Variations-
reizes die Schleimbildung ım Laufe vieler Generationen immer mehr
304 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
abnahm bis zum Verschwinden der sichtbaren Eigenschaft (bei den
extrem modifizierten Individuen). Diese Veränderung ging durch
die Einwirkung des in umgekehrter Richtung wirkenden Reizes
sehr rasch, etwas langsamer schon bei Wegfall des retrogressiven
Reizes in den Typus zurück. Deshalb können wir annehmen, dass
die Abnahme der Schleimbildung bei der retrogressiven Modifikation
nur auf eine Hemmung des Vıiskoplasmas zurückzuführen ist; denn
schon bei Wegfall des Variationsreizes, also allein durch ihr Behar-
rungsvermögen, gelangen die gehemmten Anlagen wieder zur normalen
Entfaltung.
Die Entstehung und die Zurückbildung der Modifikation voll-
zieht sich allmählich. Die Hemmung des Viskoplasmas nimmt im
Laufe vieler Generationen stetig zu bis sie ihren Endwert erreicht
hat. Diese allmähliche Zunahme der Variation ist sogar in den
Generationen der einzelnen Kulturen zu beobachten; denn die zu-
letzt entstehenden Individuen, also die am Rand des sich aus-
breitenden Bakterienrasens gelegenen, sind stärker modifiziert als
die ersten. Nie wird ein extrem modifiziertes Individuum unmittel-
bar aus dem Typus erhalten. Die Modifikation braucht also eine
gewisse Zahl von Generationen, bis sie in stetig zunehmendem
Grade ıhr Extrem erreicht hat.
Auch die Zurückbildung der Modifikation erfolgt nicht plötz-
lich in einer Generation. Dies lässt sich zwar nicht bei der Re-
version durch Tierpassagen, wohl aber durch das Plattengussver-
fahren nachweisen. Hierbei entfalten sich die gehemmten Anlagen
erst nach mehreren Generationen wieder in normaler Weise bei
allen Individuen. Eine gewisse Erblichkeit d. h. eine Fortdauer
ohne weitere Einwirkung des Variationsreizes lässt sich also bei
der Modifikation nachweisen, obwohl sıe der geringsten Beeinflussung
des Idioplasmas entspricht, die sich erzielen liess. Ich habe des-
halb früher den für das Abklingen einer Variation gebräuchlichen
Ausdruck „pseudohereditäre Nachwirkung“ hierauf angewendet,
bin aber jetzt der Ansicht, dass diese Bezeichnung überflüssig ist
(wenigstens für unseren Fall), da sie keinem prinzipiell, sondern nur
graduell verschiedenen Begriff entspricht.
Die geschilderte Form der Variation entspricht den Gesetzmäßig-
keiten, die jetzt von den Vererbungsforschern in Anknüpfung an die
„Standortsmodifikationen* Nägelis als charakteristisch für die Modı-
fikation bezeichnet werden: unter dem Einfluss äußerer Bedingungen
ändert sich eine sichtbare Eigenschaft und geht bei Wegfall dieser
Bedingungen mehr oder weniger rasch in den früheren Zustand
zurück. Diese Veränderung beruht auf der Fähigkeit einer (oder
mehrerer) Erbeinheiten, auf eine Veränderung in den äußeren Be-
dingungen entsprechend zu reagieren, ohne sich dabei selbst zu
ändern. Die Reaktionsfähigkeit (oder Reaktionsbreite),
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 305
welche für die Art charakteristisch ist, ändert sich dabei nicht
(Baur, 12). Die Modifikation ist also nicht erblich. Dass die Modi-
fikation ın unserem Falle einen gewissen Grad von Erblichkeit be-
sitzt. muss auf den innigen Zusammenhang zurückgeführt werden,
der bei Bakterien zwischen zeugendem und erzeugtem Individuum
infolge der asexuellen Fortpflanzung besteht (Haeckel). Darauf
wurde schon in der Einleitung hingewiesen.
Bei den Lebewesen mit differenzierter Keimbahn erstrecken sich
die Modifikationen meist nur auf eine Generation. Bei Bakterien kann
man jedoch je nach dem Grade der Erblichkeit, den eine Modifi-
katıon besitzt, von leicht reversiblen und von Dauermodifikationen
sprechen. Auf jeden Fall muss jedoch eine als Modifikation be-
zeichnete Variation schon beim Wegfall des varıierenden Reizes ein
Abklıngen der Veränderung zeigen. Als weiteres Merkmal der Mo-
difikation ist die allmähliche Entwicklung der Variation zu fordern.
Die Mutation,
Man erhält die Mutante beim Friedländerbazillus ebenso wie
bei den anderen Bakterien, bei denen besonders Beijerinck (20)
und Baerthlein (21) die Gewinnung der Mutanten ausführlich
beschrieben haben, wenn man Agar oder Bouillonkulturen des nor-
malen Bazillus längere Zeit im Brutschrank oder nach 24 stündiger
Bebrütung bei Zimmertemperatur stehen lässt und dann Platten
anlegt. Es genügen 4 Wochen, doch erhält man auf diese Weise
nicht aus jeder Kultur die Mutante; tritt die Mutation in einer
Kultur nach 4 Wochen noch nicht ein, so erhält man sie meist auch
durch längeres Stehenlassen nicht mehr. (Im Latenzstadium des
Wachstums tritt keine Variation ein).
Absolut sicher und viel rascher kann man die Mutation her-
beiführen, wenn man durch fortgesetzte Übertragungen auf dem
Schrägagar das Wachstum der Bakterien im zusammenhängenden
Rasen weitergehen lässt. Überträgt man in 3—7tägigen Zwischen-
räumen in der Weise, dass jedesmal von der Mitte des Bakterien-
rasens abgeimpft und dieses Material auf dem neuen Schrägagar aus-
gestrichen wird, so trıtt meist in der 3.—4. Kulturgeneration eine
plötzliche auffallende Veränderung ein. Während die ersten Kultur-
generationen aus homogenem, glasig durchscheinendem Bakterien-
rasen bestanden, treten jetzt plötzlich weißliche Sektoren am Rand
des Bakterienrasens auf, die bei Fortsetzung des Verfahrens ın den
nächsten Kulturgenerationen zunehmen, so dass sie schließlich zu
einem breiten weißen Band zusammenfließen. Diese weißlichen
Partien bestehen aus Mutanten. (Die Mitte des Bakterienrasens bleibt
zunächst noch unverändert; durch Weiterimpfung von hier erhält
man die modifizierte Form.) Legt man von den weißen Sektoren
oder dem weißen Rand einer Schrägagarkultur, in der die Mutation
XXXV. 20
306 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
begonnen hat, durch das Gussverfahren Agarplatten an, so geheu
zwei bedeutend verschiedene Arten von Kolonien auf, die durch
keine Übergangsformen verbunden sind. Ein Teil besteht aus den
großen schleimigen Kolonien des normalen Typus, der andere aus
kleinen, flachen weißlichen Kolonien, den Mutanten. Die einzelnen
Individuen der Mutante sınd schlanke Stäbchen, welche nur eine
sehr dünne Zellmembran besitzen und keine Schleimhüllen bilden.
Impft man von den peripheren weißlichen Partien auf Schrägagar
ab, so erhält man eine flache, fast ganz weißliche Kultur; diese
enthält nur noch wenige glasige, typisch gebliebene Inseln. Wird
eine solche veränderte Kultur abermals durch Abimpfung von per'-
pheren, weißlichen Partien auf Schrägagar übertragen, so erhält
man die Mutante meist schon rein. Die Mutante lässt sich also
wie die modifizierte Form auch ın Massenkulturen rein gewinnen.
Die Virulenz ist durch die Mutation ganz erheblich gesunken;
die dosis letalis minıma für die Maus ist 1,0 cem Bouillonkultur.
Die durch die Mutation erfolgende Veränderung vollzieht sich
in einer Generation. Dies geht daraus hervor, dass die ersten
mutierenden Individuen, die jedoch ın der betreffenden Kultur-
generation gegen Ende des Wachstums der Kultur entstehen, auf
einer Zwischenstufe zwischen normalem Typus und Mutante stehen
bleiben, welche morphologisch sehr charakteristisch ıst (Fig. 6).
Diese Übergangsformen stellen aber keine für sich beständigen
Varianten dar. Bei erneuter Übertragung wird stets das End-
stadium der Mutation erreicht (Fig. 7) und nie eine Übergangsform
mehr angetroffen. Wären die Übergangsformen auch nur für wenige
Generationen beständig, so müsste man sie in der erneuten Über-
tragung wenigstens in einigen Exemplaren noch vorfinden. Sie
gelangen also nur deshalb zur Beobachtung, weil ın ıhnen die Ent-
wicklung der mutierenden Individuen nicht zum Abschluß bezw.
zur Bildung der nächsten Generation kommt; denn die beginnende
Anhäufung der Stoffwechselprodukte verhindert das weitere Wachs-
tum der Kultur. Durch das Auftreten dieser auf eine Generation (nicht
Kulturgeneration) beschränkten Übergangsformen ist der Beweis
ermöglicht, dass die Mutation im Gegensatz zur Modifikation eine
sprunghafte Variation ist. Sie setzt ın einer Generation in einem
gewissen Entwicklungsstadium des Individuums sichtbar ein und ist
bei den Nachkommen dieses Individuums vollkommen ausgeprägt,
worauf sie zu keiner weiteren Veränderung mehr führt.
Dem Beginn der anscheinend so plötzlich eimsetzenden Muta-
tion geht jedoch ein latente Prämutationsphase voraus. Man er-
hält z. B. ın einer Serie von Kulturgenerationen in der fünften die
Mutation, obwohl sich die vierte noch nicht sichtbar gegen die
erste verändert hatte. Alle von der ersten Kulturgeneration an-
gelegten Übertragungen ergeben keine Mutation, dagegen tritt die
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 2307
» S UM
Mutation in sämtlichen von der vierten Kulturgeneration angelegten
Übertragungen ein. Deshalb muss man annehmen, dass sich im Laufe
der Übertragungen latent eine Veränderung in den Kulturen einge-
stellt hat, die in dem angeführten Beispiel erst bei Übertragung der
vierten Kulturgeneration manıfest wird, d.h. eine Prämutationsphase.
Der Variationsreiz, der die Mutation herbeiführt, ıst stärker
als derjenige, welcher die Modifikation veranlasst. Die Mutanten
werden entweder nur aus ziemlich alten Kulturen oder bei frischen
Übertragungen nur an denjenigen Stellen der Kulturen gewonnen,
die zuletzt d.h. unter dem stärksten Einfluss der Stoffwechsel-
produkte entstehen. Hierbei zeigt sich besonders klar, dass die
Variation eine Funktion des Wachstums ist. Legt man nämlich
von einer am Rande in beginnender Mutation begriffenen Agar-
kultur Platten an, so erhält man bei Abimpfung von der Mitte nur
normale Kolonien, bei Abimpfung vom Rand dagegen reichlich die
Mutanten. Es sind also nur die zuletzt entstehenden, bei Anhäufung
der Stoffwechselprodukte noch ım Wachstum begriffenen Keime
von der Mutation betroffen worden, während der gleiche Variations-
reiz bei den schon im Latenzstadium des Wachstums begriffenen
Individuen keine Veränderung erzeugt hat.
Erblichkeit der Mutation. Die Eigenschaften der durch
Plattenguss rein gewonnenen Mutante verändern sich bei weiterer
Kultivierung nicht mehr. Die Mutante ist ein schlankes Stäbchen
mit schmalem Ektoplasma (Fig. 5), sie bildet auf der Agarplatte
kleine (in 5 Tagen 3—5 mm große), flache, grauweißliche, homogene
Kolonien (Fig. 9), auf dem Schrägagar einen flachen, grauweißlichen,
nicht abfließenden Bakterienrasen. Man kann die Mutante durch
den Plattenguss, auf Schrägagar oder in Bouillon züchten, sie
bleibt bei Übertragung in den üblichen Zwischenräumen (alle 1 bis
4 Wochen) in ihren Eigenschaften vollkommen konstant. Die durch
die Mutation eingetretene Veränderung bleibt also, sobald sıe ein-
mal manifest geworden ıst, auf ihrem Zustand bestehen.
Die Abimpfung von einer Kolonie der Mutante ergibt auf der
Agarplatte nur Kolonien, die der Ausgangskolonie vollkommen
gleichen. Der Wegfall des Variationsreizes führt also keinen Rück-
schlag der Mutante herbei. Der Mittelwert der Nachkommen ver-
schiebt sich hierbei nicht (im Gegensatz zur modifizierten Form).
Unter gewissen Bedingungen lassen sich aber doch ganz regel-
mäßig Rückschläge in den normalen Typus erzielen. Dies gelingt,
wenn Kulturen der Mutante längere Zeit unübertragen stehen ge-
blieben sind (mindestens 8 Wochen) und dann neu überimpft werden.
Dabei schägt ein Teil der Mutanten in den normalen Typus zurück.
Frische Kulturen der Mutante lassen sich nur durch Tierpassagen
in den Ausgangstypus umwandeln. Man muss dabei sehr große
Mengen (wegen der geringen Virulenz) ins Tier verimpfen. Der
20*
308 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Rückschlag tritt dann, je nachdem die Mutante erst kürzere oder
schon längere Zeit auf künstlichen Nährböden fortgezüchtet ist, ın
der 3.—5. Tierpassage ein. Nach den ersten Tierpassagen ist noch
keine sichtbare Veränderung wahrzunehmen, in einer bestimmten
Passage vollzieht sich dann plötzlich der Rückschlag und zwar
ebenso stoßweise wie die ursprüngliche Mutation. Man muss in-
folgedessen annehmen, dass auch dem Rückschlag eine latente Prä-
mutationsphase vorausgeht.
Bei der Gewinnung des normalen Typus durch Rückschlag der
Mutante spielen Selektionsvorgänge eine Rolle. Denn nur ein Teil
der Mutanten schlägt auf den künstlichen Nährböden oder im Tier-
körper in den Typus zurück. Die im Tierkörper zuerst zurück-
schlagenden Individuen gelangen wegen ihrer hohen Virulenz auch
zu starker Vermehrung und werden .unter Umständen schon bei
der ersten Tierpassage, ın der der Rückschlag stattfindet, aus dem
Blute rein gewonnen.
Wesen der Mutation. Vom Standpunkt der Vererbungs-
forschung lässt sich der Mutationsvorgang mit ziemlicher Wahr-
scheinlichkeit analysieren. Die Mutation zeigt sich darin, dass eine
bestimmte Eigenschaft ın einer Generation plötzlich verschwindet
und nach vielen Generationen wieder sichtbar wird. Dies spricht
dafür, dass die Erbeinheit der betr. Eigenschaft nicht verloren ge-
gangen bezw. beim Rückschlag neu entstanden ıst, sondern nur
ihren Zustand gewechselt hat. Beijerinck hat wohl zuerst vermu-
tungsweise den Gedanken ausgesprochen, dass bei der Mutation aktive
Erbeinheiten latent oder latente Erbeinheiten aktiv werden. Diese
Annahme hat lediglich auf Grund der Mutationserscheinungen viel
Wahrscheinlichkeit für sich; durch den Gegensatz der Mutation zu
den anderen Formen der Variabilität, insbesondere zu der später
zu beschreibenden Fluktuation, erscheint sie mir so gut bewiesen,
wie es überhaupt für die ja immerhin hypothetischen Erbeinheiten
nur möglich ıst. Ich schließe mich also der Auffassung Beijerinck’s
an und führe die Mutation auf eine Zustandsänderung, einen Valenz-
wechsel von Erbeinheiten, zurück. Die beobachteten Erscheinungen
sprechen für die Richtigkeit der Theorie Plate’s (8) über den
Valenzwechsel (Grundfaktor — Supplementtheorie). Es werden da-
bei entweder aktive Erbeinheiten latent oder inaktiv: dies ist die
retrogressive Mutation- oder es werden latente Erbeinheiten aktıv:
dies ıst die progressive Mutation. Die Rückschläge ın den Aus-
gangstypus sind weiter nichts als eine Mutation, welche in umge-
kehrter Richtung wie die ursprüngliche verläuft. Neue Erbein-
heiten entstehen also bei der Mutation nicht, die Artgrenzen werden
nicht überschritten.
In unserem Falle ıst die retrogressive Mutation darauf zurück-
zuführen, dass die für die Schleimbildung maßgebenden Erbemheiten
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 309
inaktiv werden. Das Schleimbildungsvermögen beruht, wie sich bei
der Fluktuation ergeben wird, auf dem Zusammenwirken mehrerer
gleichsinniger Erbeinheiten, d.h. eines biologischen Radıkals (Plate);
es wird also ein Komplex von Anlagen mit dem Verlust der sicht-
baren Kapselbildung inaktiv.
Zugleich tritt auch im Endoplasma und Ektoplasma eine sichtbare Verände-
rung ein, denn aus dem breiten Stäbchen wird plötzlich ein schlankes mit schmalem
Ektoplasma. Möglicherweise werden also noch andere, mit dem Aufbau des Endo-
plasmas und Ektoplasmas in Verbindung stehende Erbeinheiten inaktiv, falls diese
Veränderungen nicht auch irgendwie vom Viskoplasma abhängen.
Der Rückschlag in den normalen Typus vollzieht sich durch
die ebenso sprunghaft erfolgende Aktivierung der gleichen Anlagen.
Die Erblichkeit der Mutation beweist, dass das Beharrungs-
vermögen der Erbeinheiten das gleiche ist, wenn sie aktiv oder
latent sind. Die Mutante besitzt im Vergleich zum Typus einen
wesentlich reduzierten Stoffwechsel, der Varıationsreiz fällt mit dem
Verlust der Schleimbildung vollkommen weg. Trotzdem bleibt die
Mutante bei weiterer Kultivierung und zwar sogar beim Platten-
gussverfahren erblich konstant. Ist jedoch der Rückschlag ın den
Typus durch bestimmte stärker progressiv wirkende Faktoren ein-
mal eingetreten, so bleibt der Typus von jetzt ab unter den schon
bei Besprechung der Vererbung genannten Bedingungen ebenso be-
ständig wie vor der Mutation — also unter Bedingungen, die an
sich nicht genügten, um den Rückschlag der Mutante herbeizuführen.
Daraus folgt, dass Typus und Mutante unter gleichen Bedingungen
konstant bleiben, sobald einmal der jeweilige Zustand (Aktivität
oder Latenz) der Erbeinheiten herbeigeführt ist. Die Erbeinheiten
verharren also in dem Zustand der Aktivität oder Latenz, ın den
sie durch äußere Faktoren gebracht werden, ohne dass die den be-
treffenden Zustand herbeiführenden Faktoren ın gleicher Stärke
andauern.
Der Rückschlag d.h. die Reaktivierung der latenten Anlagen
erfordert stärkere progressiv wirkende Bedingungen als die Reversion
der modifizierten Form. Es ist nicht sicher zu erklären, warum bei
neuem Wachstum alter Kulturen der Mutante einige Individuen
in den Typus zurückschlagen und zwar erst, wenn die Kulturen
ziemlich alt sind und sich schon längere Zeit im Latenzstadium des
Wachstums befinden. Vielleicht nimmt nach längerem Ruhezustand
die Fähigkeit zur Aktivierung bei den latenten Anlagen wieder zu,
besonders wenn der inaktivierende Variationsreiz vollkommen fehlt,
wie in den Kulturen der Mutante. Man könnte dann annehmen,
dass die betreffenden Individuen vor dem auf dem neuen Nährboden
erfolgenden Rückschlag noch in der alten Kultur in einen Prämuta-
tionszustand geraten. Der Rückschlag im Tierkörper ist so aufzu-
fassen, dass durch den progressiv wirkenden Reiz, dem vermutlich
sogar die Entstehung des Schleimbildungsvermögens als äußerem
310 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Faktor zuzuschreiben ist, die Aktivierung der latenten Erbeinheiten
verhältnismäßig leicht und rasch gelingt.
Der zeitliche Entstehungsmechanismus der Mutation ist durch
die auf eine Generation beschränkten Übergangsformen verständ-
lich. Die Mutation (zunächst für die Verlustmutation sicher zu
beobachten) vollzieht sich derart, dass bei einem im Wachstum
begriffenen Individuum in einem bestimmten Stadium der Ent-
wicklung Erbeinheiten inaktiviert werden. Auf diese Weise wird
das entsprechende Anlageprodukt in der mutierenden Generation schon
nicht mehr in normalem Umfang gebildet, ist jedoch noch in einem
gewissen Grad vorhanden, soweit es eben vor Einsetzen der Mutation
schon gebildet war; in der darauffolgenden Generation fehlt es aber
ganz, da in dieser die betreffenden Erbeinheiten schon von Anfang
an latent sind. Auf diese Weise erklärt sich am besten das Vor-
kommen der auf eine Generation beschränkten Übergangsformen
zwischen Typus und Mutante und das Sprunghafte der Mutation.
Da sıch der Rückschlag ebenso plötzlich vollzieht, beruht er
wohl auf einem analogen, aber umgekehrt gerichteten Vorgang,
auch wenn sich hierbei die Übergangsformen aus leicht begreif-
lichen Gründen nicht feststellen ließen.
Da mit dem Namen Mutation heutzutage verschiedene Vor-
gänge bezeichnet werden, erscheint es mir dringend notwendig, die
Bezeichnung Mutation für die geschilderte Art der Variation zu
rechtfertigen. Die heutige Erblichkeitsforschung bezeichnet als
Mutation eine wirkliche Veränderung der Art durch Abänderung
ihrer Zusammensetzung aus Erbeinheiten. Wir legten jedoch dem
Mutationsbegriff nur einen Valenzwechsel, eine Zustandsänderung
von Anlagen zugrunde, durch welche die Artgrenzen nicht über-
schritten werden. Wenn ich bei dieser Auffassung bestehen bleibe,
so geschieht das aus zwei Gründen.
Erstens: Hugo de Vries, der das große Verdienst hat, die
Vorgänge der Artbildung experimentell in Angriff genommen zu
haben, hat den Begriff der Mutation für eine bestimmte Variations-
form eingeführt. Er fand bei der Züchtung der Nachtkerze, dass
ein Teıl der Nachkommen „spontan“ mehr oder weniger vom Typus
abweichende Eigenschaften zeigte, während der größte Teil unter
den gleichen Außenbedingungen unverändert blieb. Die Verände-
rungen entstanden sprunghaft, ohne Übergänge und waren erblich.
Nur ein Teil der veränderten Rassen schlug in späteren Genera-
tionen wieder in den Ausgangstypus zurück. De Vries glaubte,
dass es sich hier um einen aus inneren Gründen erfolgenden Ge-
winn wirklich neuer Eigenschaften handle und dass die Mutation die
Quelle der Artbildung sei. Wenn sich die von de Vries als reine
Mutationen aufgefassten Veränderungen der Oenothera lamarckiana
auch zum größten Teil auf Bastardierungserscheinungen zurückführen
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 314
lassen, so kann man doch nicht ausschließen, dass echte Mutations-
vorgänge (in unserem Sinne) damit verknüpft waren. Die von
de Vries für die Mutation als charakteristisch bezeichneten Ge-
setzmäßigkeiten haben sich auch später bei anderen Arten wieder-
gefunden und es werden demnach als Mutationen bezeichnet: stoß-
weise, nur in einem Teil der Nachkommen erfolgende, spontane
(„richtungslos“ erfolgende) und in hohem Grade erbliche Verände-
rungen.
Nun kann die „Richtungslosigkeit“ auf keinen Fall zur Charak-
terisierung einer Variationsform verwendet werden; denn jede Varia-
tion ist durch bestimmte Bedingungen in ihrem Verlauf, d.h. in
den Beziehungen zwischen Reiz und Wirkung, festgelegt, auch wenn
wir diese Beziehungen nicht immer erkennen. In unserem Fall ist
die Richtung der Mutation nach Reiz und Wirkung klar. Maß-
gebend für den Variationscharakter ist nur der Entstehungsmecha-
nismus und die Erblichkeit der Variation. In dieser Beziehung
entspricht die geschilderte Varıationsform den von de Vries ex-
perimentell festgestellten Gesetzmäßigkeiten. Wenn sich auch her-
ausgestellt hat, dass die Mutation nicht dem Vorgang entspricht,
den de Vries lediglich theoretisch von ihr forderte, nämlich den
wirklichen Verlust oder Gewinn von Erbeinheiten, so halte ich es
doch für gerechtfertigt, die von de Vries nach den Tatsachen
charakterisierte und als Mutation bezeichnete Variationsform auch .
weiter Mutation zu nennen.
Zweitens: es ist mir gelungen, experimentell eine Variation zu
erzielen, welche an Erblichkeit die Mutation weit übertrifft. Diese
Variationsform ist wahrscheinlich mit dem Gewinn bezw. Verlust
von Erbeinheiten verbunden. Sie zeigt jedoch ganz andere Gesetz-
mäßıgkeiten als die Mutation. Sie vollzieht sich nicht stoßweise,
sondern allmählich, indem sie eine kontinuierliche Reihe erblicher
Zwischenstufen durchläuft. Ich bezeichne sie deshalb als Fluktuation.
Die Auffindung dieser Variationsform veranlasst mich hauptsächlich
dazu, die Bezeichnung „Mutation“ für die nur zu einem Valenz-
wechsel von Erbeinheiten führende Variationsform beizubehalten.
Als charakteristisch für die Mutation ergab sich also die sprung-
hafte Bildung der Terminalform, der ebenso erfolgende Rückschlag
und ein beträchtlicher Grad von Erblichkeit. Zur Reversion war
die Anwendung des progressiv wirkenden Reizes nötig, nur unter
einer bestimmten Bedingung (nach langem Latenzstadium des Wachs-
tums) erfolgte der Rückschlag durch das Beharrungsvermögen der
Erbeinheiten allein.
Die bakteriologische Forschung hat durch die genaue Verfol-
gung der Mutationserscheinungen die Erblichkeitslehre um die Tat-
sache bereichert, dass durch einen Valenzwechsel von Anlagen erb-
lich konstante Rassen entstehen können. Der Valenzwechsel als
312 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Quelle der Variabilität war zwar schon lange bekannt, aber nicht
als Ursache erblich konstanter und experimentell zu beherrschender
Variation. Derartige schon längst bekannte Erscheinungen des
Valenzwechsels erstreckten sich immer nur auf eine oder mehrere
(senerationen; dass aber durch einen experimentell herbeigeführten
Valenzwechsel Anlagen beliebig viele Generationen hindurch in ihrem
Zustand der Latenz oder Aktivität zu halten sind und sich jeder-
zeit durch gesetzmäßig wirkende äußere Einflüsse in ihren Aus-
gangszustand zurückführen lassen, ist erst durch die Bakterien-
mutationen bekannt und bewiesen worden.
Die Fluktuation.
Als Fluktuation bezeichne ich eine Art der Variation, welche
nicht nur zu einer Variante, sondern zu mehreren Varianten führt.
Diese bilden nach dem verschiedenen Grad ıhrer Abweichung vom
Typus eine kontinuierliche Reihe.
Die Gewinnung dieser Varianten ist etwas schwieriger als die
der bisher geschilderten, weil immer nur sehr wenige Individuen
einer Kultur diese Form der Variation zeigen. Bei Aussaat einer‘
genügend großen Zahl von Individuen, eventuell Verwendung mehrerer
unter den gleichen Bedingungen gehaltener Kulturen gleichzeitig
gelingt es jedoch regelmäßig, die Fluktuanten zu gewinnen. Man
erhält sie folgendermaßen: Von einer durch Plattenguss erhaltenen
Kolonie des normalen Typus, der vorher noch durchs Tier gegangen
oder auf Agarplatten in isolierten Kolonien gewachsen war, werden
Schrägagar- oder Bouillonkulturen angelegt, 24 Stunden bei 37° be-
brütet und dann bei 15° stehen gelassen. Frühestens nach 10 bis
14 Tagen, am besten nach 20—30 Tagen, werden von diesen Kul-
turen (ich habe bei den meisten Versuchen mit Schrägagarkulturen
gearbeitet) Agarplatten angelegt. Über die Reihenfolge im Auf-
treten der verschiedenen Fluktuanten ist später noch besonders zu
berichten. Von allen Teilen des Bakterienrasens wird durch gründ-
liches Verrühren mit der Platinöse Material entnommen, in Bouillon
aufgeschwemmt und dort durch wiederholtes Hin- und Herneigen
des Röhrchens gemischt. Von dieser Aufschwemmung werden ver-
flüssıgte Agarröhrchen nach dem bekannten Verdünnungsverfahren
geimpft und zu Platten ausgegossen. Die Platten stehen 24 Stunden
im Brutschrank, bleiben dann bei Zimmertemperatur stehen und
werden nach 3—5 Tagen untersucht. Von den Platten sind nur
diejenigen verwendbar, welche eine genügende Zahl von Kolonien,
aber doch mindestens in Abständen von !/,—1cm enthalten. Ist
die Aussaat dichter, so kommen die Kolonien nicht vollständig
genug zur Entwicklung ihrer typischen Eigenschaften und können
deshalb nicht beurteilt werden. Auf den Agarplatten, die eine ge-
eignete Keimzahl enthalten, findet man bei der Untersuchung weit-
Toenniessen, Über Vererbung uud Variabilität bei Bakterien. 315
aus die größte Zahl ganz unverändert, einige in der schon ge-
schilderten Weise durch Radiärstreifung modifiziert, eventuell auch
Mutanten. Die für die Fluktuation in Betracht kommenden Kolonien
sind kleiner als die des normalen Typus, und zwar lassen sich
drei verschiedene Stadien der Fluktuation unterscheiden. Die fluk-
tuierten Kolonien sind besonders bei mikroskopischer Betrachtung
mit Sicherheit zu erkennen und zwar dadurch, dass sie homogen
chagriniert sind und keine radiären Streifen enthalten, sowie im Prä-
parat durch die morphologischen Eigenschaften der einzelnen Keime.
Die am wenigsten veränderten Kolonien (Fluktuante I) sind nach
3—5 Tagen ungefähr zwei Drittel so groß wie die des normalen
Typus, 7—10 mm im Durchmesser, erhaben, homogen, aber nicht
ganz so glasig durchscheinend, sondern mehr weißlich-grau. Die
einzelnen Bazillen haben sämtlich eine etwas schmalere Kapsel als
die der normalen Kolonien. Werden von solch einer fluktuierten
Kolonie Platten gegossen, so erhält man die Fluktuante rein. Die
aufgehenden Kolonien sind sämtlich der Elternkolonie gleich. Bei
längerem Wachstum konfluieren die Kolonien, jedoch nicht alle.
Sie überziehen nie die ganze Agarplatte in zusammenhängendem,
zerfließlichem Rasen wie der normale Typus. Durch Abimpfung
einer solchen fluktuierten Kolonie auf dem Schrägagar erhält man
einen homogenen, leicht erhabenen, grau-weißlichen und abfließen-
den Bakterienrasen.
Die Kolonien des 2. Stadiums (Fluktuante II) sind noch etwas
kleiner, nach 3 Tagen 5—7 mm groß, etwas erhaben, stärker weiß-
lich-gelb, aber noch etwas durchscheinend. Bei Abimpfung ergeben
sie nur Kolonien, welche der Elternkolonie vollkommen gleichen.
Die einzelnen Bazillen haben eine Kapsel, die ungefähr zweimal
so breit ist als der Bakterienleib. Bei längerem Stehenlassen kon-
fluieren die Kolonien zum Teil mit den benachbarten Kolonien,
breiten sich aber dann nicht weiter aus. Auf dem Schrägagar er-
hält man einen noch etwas erhabenen abfließenden Bakterienrasen,
der am Rande weißlich-grau, im Innern noch grau durchscheinend ist.
Das 3. Stadium (Fluktuante III) zeigt noch kleinere (3—5 mm
große), leicht gelblich-weiße, nicht mehr durchscheinende Kolonien,
die in den ersten Tagen ganz flach sind und makroskopisch voll-
kommen den extrem modifizierten gleichen. Bei mikroskopischer
Betrachtung (Fig. 10) unterscheiden sie sich von diesen aber da-
durch, dass sie keine radiären Strahlen zeigen. Sie erscheinen
ebenso wie die anderen Fluktuanten homogen chagriniert. Dem-
entsprechend findet man bei mikroskopischer Untersuchung auch
nur gleichartige Einzelindividuen vor. Beim Tuscheverfahren er-
scheinen die Bakterien der Fluktuanten III ohne deutliche Kapsel,
nur aus Bakterienleib und breiter Membran bestehend. Dass die
Schleimhülle fehlt oder nur in minimalem Grade vorhanden ist,
314 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
geht besonders bei der Methylenblaufärbung hervor. Die Bakterien-
leıber erscheinen dabei zwar scharf konturiert, es fehlt aber dıe für
die schleimbildenden Individuen charakteristische violette Über-
deckung (Fig. 11). Auf dem Schrägagar bildet die Fluktuante II
einen flachen Bakterienrasen, der im Innern grau durchscheinend,
am Rande etwas weißlich gefärbt ist. Der Rasen ist abfließend im
Gegensatz zu der ebenfalls weißlich-grauen, flachen Kultur der
Mutante. Bei Abımpfung einer isolierten Kolonie der Fluktuante Ill
erhält man wiederum nur Kolonien, welche der Elternkolonie voll-
kommen gleich sind.
Die Virulenz ist bei den Fluktuanten parallel zu der Herab-
setzung der Kapselbildung gesunken. Bei der Fluktuante IH ist
die dosis letalis minima für die Maus 0,5 cem Bouillonkultur.
Erblichkeit der Fluktuation. Die 3 Fluktuanten sind in
ihren Eigenschaften jede für sich außerordentlich beständig (inner-
halb einer bestimmten, für jede Fluktuante konstanten Variations-
breite). Die Fluktuanten I und II wurden bis jetzt fast 2 Jahre lang,
die Fluktuante III über 3 Jahre lang beobachtet. Die Fortzüchtung
durch das Plattengussverfahren ergibt, dass bei den 3 Fluktuanten
die Nachkommen vollkommen den Elternkolonien gleichen. Der
Mittelwert der Nachkommen verschiebt sich also bei Wegfall des
Variationsreizes nicht.
Tierpassagen, welche die modifizierte Form und die Mutante ın
kürzester Zeit in den normalen Typus zurückverwandeln, lassen die
Fluktuanten selbst nach zahlreicher Wiederholung anscheinend un-
verändert. Bei Fluktuante I wurden 10, bei Fluktuante II wurden
20, bei Fluktuante III wurden 100 Mäusepassagen vorgenommen.
Dabei geschah eine Zeitlang die Infektion mit eben tödlichen Dosen,
und später, als es sich herausstellte, dass bei der Mutante der
Rückschlag am raschesten durch Impfung mit enormen Dosen ein-
tritt, wurden außerordentlich große Dosen zur Infektion verwendet.
Auch hierdurch konnte kein Rückschlag in den normalen Typus
erzielt werden. Die Fluktuante III ıst durch die 100 Tierpassagen
nicht einmal in den Typus der Fluktuante II zurückverwandelt.
Fortzüchiung auf dem Schrägagar lässt die Fluktuanten eben-
falls unverändert; sie werden allmählich nur geringgradig ebenso
wie der Typus durch Modifikation verändert, schlagen aber durch
Plattenguss oder Tierpassage sofort wieder in den früheren Zustand
(der Fluktuation) zurück. Auch wurde versucht, die Fluktuante I
in II oder III umzuwandeln bezw. aus Kulturen der Fluktuante 1
durch längeres Stehenlassen einige Individuen von II oder III zu
gewinnen, also die gleiche Methode angewendet, bei der Fluktuante I
aus dem normalen Typus hervorgegangen war. Auch dies war ohne
Erfolg. Es waren höchstens modifizierte Kolonien oder Mutanten
der Fluktuante I zu erhalten.
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 315
Die Fluktuanten waren also von wesentlich höherer erblicher
Konstanz als die anderen Variationen.
Aus der Art der Gewinnung der Fluktuanten ergibt sich, dass
zu ihrer Herbeiführung die stärkste Anhäufung der Stoffwechsel-
produkte notwendig ist, dass sie also durch den stärksten Varia-
tionsreiz entstehen; denn sie werden nur aus alten Kulturen des
Typus gewonnen, nicht aber wie die modifizierte Form oder die
Mutante auch bei Übertragung in kurzen Zwischenräumen.
Entstehungsweise der Fluktuanten. Aus diesem Grunde
ist bei den Fluktuanten eine Beobachtung ihrer Entwicklungsstadien
wie bei der Modifikation und der Mutation nicht möglich. Denn
sie gelangen bei der Aussaat alter Kulturen ın der folgenden Kultur-
generation gleich in ihrem Endstadium zur Beobachtung. Des-
halb schien es zunächst, dass die Fluktuanten ebenso wie die
Mutante unmittelbar, d.h. ohne erblich konstante Zwischenformen
aus dem Typus entstehen, was bei der extremen Fluktuante ein
fast ebenso großer „Sprung“ wäre wie bei der Mutante. Gegen
diese Entstehungsweise spricht aber folgendes: Wird von einer
Schrägagarkultur des Typus nach einer bestimmten Zeit (10 bis
14 Tage) eine Plattenaussaat gemacht, so erhält man meist allein
die Fluktuante I, etwas später Fluktuante II und zuletzt (20 bis
30 Tage) Fluktuante III. Nie wird Fluktuante III vor Fluktuante I
oder II erhalten. Da die Ursache der Variation die Anhäufung
der Stoffwechselprodukte ist, könnte man die Reihenfolge ım Auf-
treten der Fluktuanten so erklären, dass aus Individuen des nor-
malen Typus bei einer bestimmten Anhäufung der Stoffwechsel-
produkte die Fluktuante Il entsteht, bei stärkerer Fluktuante II und
bei stärkster Fluktuante III. Dies wäre möglich, wenn die Ent-
stehung der Varianten alleın von der Einwirkung der Stoffwechsel-
produkte abhängig wäre; doch siud hierbei noch zwei weitere Fak-
toren beteiligt, welche die obige Annahme unwahrscheinlich machen.
Die Stoffwechselprodukte wirken nämlich nicht nur varıerend,
sondern auch wachstumshemmend; eine Variation bewirken sie aber
nur bei denjenigen Individuen, welche im Wachstum begriffen sind,
die also trotz der wachstumshemmenden Wirkung der Stoffwechsel-
produkte noch zur Proliferation gelangen. Im Latenzstadium des
Wachstums befindliche Keime werden, wie sich schon wiederholt
zeigte, durch die Anhäufung der Stoffwechselprodukte nicht zur
Variation gebracht.
Berücksichtigen wir diese für die Enstehung der Varianten
maßgebenden Bedingungen, sowie die Zeit, welche für die Bildung
der Fluktuanten nötig ist, so folgt zunächst, dass die Fluktuanten
unter dem stärksten Einfluss der Stoffwechselprodukte entstehen;
denn sie werden in den einzelnen Kulturen später als die anderen
Varianten, also zuletzt erhalten. Sie entstehen demnach durch
316 Toenniessen, Uber Vererbung und Kariabilität bei Bakterien.
Proliferation der letzten noch wachsenden Individuen einer Kul-
tur. Dabei kommt zunächst die am wenigsten abweichende Fluk-
tuante I zur Beobachtung. Etwas später, also bei noch stärkerer
Variationsursache, entsteht Fluktuante II. Auf Grund des oben
gesagten lässt sich jetzt mit größter Wahrscheinlichkeit entscheiden,
ob die Fluktuante II unmittelbar aus dem Typus oder aus der
Fluktuante I hervorgeht. Entstünde die Fluktuante II unmittel-
bar aus Individuen des Typus, so müssten diese während einer
gewissen Zeit, nämlich so lange, als die Bedingungen für die Bil-
dung der Fluktuante 1 gegeben waren, ıhr Wachstum eingestellt
haben. (Sonst müssten sie ın die Fluktuante I, zum mindesten in
die Mutante oder in die modifizierte Form übergegangen sein.
Letztere beiden kommen aber als Vorstufen der Fluktuante II
nicht in Betracht, da sie, wie später erwähnt wird, nicht zur Bildung
der Fluktuante II befähigt sınd.) Etwas später aber, also unter
den Bedingungen des stärkeren Varationsreizes, müssten diese In-
dividuen des normalen Typus ıhr Wachstum wieder aufgenommen
haben und dadurch sprunghaft ın Fluktuante II übergegangen sein.
Das ist aber nıcht wahrscheinlich; denn mit dem stärkeren Varia-
tionsreiz hat auch die wachstumshemmende Wirkung der Stoff-
wechselprodukte zugenommen, und es ist nicht einzusehen, dass
Zellen, die aus irgend einer Ursache ihr Wachstum schon einmal
eingestellt haben, bei Verstärkung dieser gleichen Ursache ihr
Wachstum wieder aufnehmen. Aus diesem Grunde wird eine un-
mittelbare Entstehung der Fluktuante II und noch mehr der Fluk-
tuante III aus dem Typus unwahrscheinlich. Es bleibt also nur
die Möglichkeit übrig, dass die Fluktuante III aus der Fluktuante Il
und diese aus der Fluktuante I entstanden ist. Es ist auch leicht
zu verstehen, dass die gleiche Generationsreihe des normalen Typus,
die durch eine den Durchschnitt übertreffende Wachstumsfähigkeit
trotz der Einwirkung der Stoffwechselprodukte weiter gewachsen ist,
dadurch aber zur Entstehung der Fluktuante I geführt hat, durch
weitere Fortsetzung ihres Wachstums in die Fluktuante II und vom
Stadium der Fluktuante II aus ın die Fluktuante III übergegangen
ist. Es wäre dies also eine von Generation zu Generation fort-
schreitende, quantitativ zunehmende Abänderung, die nicht nur auf
Grund des Vergleiches der fertigen Varianten, sondern auch ihrer
Genese nach als fluktuierende Variation bezeichnet werden kann.
Zur Stütze dieser Annahme mußte aber bewiesen werden, dass
tatsächlich die Fluktuante III aus Fluktuante II und Fluktuante I
hervorgehen kann. Es musste also aus Reinkulturen der Fluktuante I
und II die Fluktuante III gewonnen werden, denn nur in diesen war
ein sprunghaftes Entstehen der extremen Fluktuante aus dem nor-
malen Typus auszuschließen. Es wurden also zunächst die Fluk-
tuante I und II zwei Mauspassagen unterworfen, um sie möglichst
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. BleT
typisch und durch die künstliche Kultivierung nicht irgendwie
modifiziert zu erhalten. Dann wurden sie durch Plattenguss in
einzelnen Kolonien isoliert und, nachdem sie sich als reine Linie
und ın den für die Fluktuante I und II typischen Eigenschaften
gezeigt hatten, wurde von einer einzeln stehenden Kolonie auf
Schrägagar abgeimpft. Wie schon erwähnt, gelingt es nicht, aus
Reinkulturen der Fluktuanten I und II lediglich durch Stehenlassen
der Kulturen und Anfertigung einer Plattenaussaat nach längeren
Zeiträumen noch stärker abweichende Fluktuanten zu gewinnen,
wie dies beim Typus der Fall ist. Dies ist auch ohne weiteres
verständlich. Denn die Fluktuanten I, Il und III entstehen aus
dem Typus durch stärkste Einwirkung der vom Typus gebildeten
Stoffwechselprodukte. Nun haben aber die Fluktuanten, wie aus
ihrem viel weniger üppigen Wachstum hervorgeht, einen gegen den
Typus wesentlich reduzierten Stoffwechsel. Wachsen sıe also in
Reinkultur, so bilden sie weniger Stoffwechselprodukte als der
Typus, und dadurch verliert der die Abänderung bewirkende Reiz
an Intensität. Ich versuchte deshalb die Wirkung der Stoffwechsel-
produkte bei den Fluktuanten dadurch zu verstärken, dass ich die
im zusammenhängenden Bakterienrasen, also auf dem Schrägagar
gewachsenen Kulturen nach verschieden langer Zeit auf einen neuen
Schrägagar übertrugunddabei die aufdem ersten Nährboden gebildeten
Stoffwechselprodukte (das Kondenswasser des Agars und den ganzen
Bakterienrasen) auf den neuen Nährboden brachte. Dies gelang
durch Anwendung steriler Glaskapillaren mit aufgesetztem Gummi-
käppchen ganz leicht. Diese Art der Übertragung wurde bei den
Fluktuanten I und Il in Serien von 7, 14 und 21 Tagen ausgeführt
und vor jeder Übertragung auf einen neuen Nährboden eine Platten-
aussaat der vorhergehenden Kultur angelegt, wie schon früher bei
Schilderung der Gewinnung der Fluktuanten beschrieben. Schon
in der zweiten Kulturgeneration wurden auf diese Weise bei sämt-
lichen Serien der Flutuante I und II, also bei Übertragung in 7-,
14-, und 21tägıgen Zwischenräumen einzelne Kolonien der Fluk-
tuante III gewonnen. Dass es sich wirklich um Fluktuante III
handelte, wurde durch 6 Mauspassagen festgestellt, welche die Fluk-
tuante III nicht in den Ausgangstypus zurückverwandelten, wäh-
rend die zur Kontrolle gleichzeitig Tierpassagen unterworfene jetzt
schon fast 3 Jahre lang auf künstlichem Nährboden gezüchtete
Mutante des Typus schon in der 5. Tierpassage zurückschlug. Es
war also tatsächlich Fluktuante III aus Fluktuante I und II her-
vorgegangen.
Damit war der Beweis erbracht, dass die Fluktuante III aus
den Fluktuanten II und I entstehen kann. Es ist dies aber nicht
nur eine Möglichkeit der Entstehungsweise, sondern wohl der regel-
mäßıge Vorgang; nicht nur die obigen Ausführungen über die
318 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Reihenfolge ım Auftreten der einzelnen Fluktuanten in der gleichen
Kultur machen dies wahrscheinlich, sondern auch die später zu
erwähnenden Beobachtungen über die progressive, d. h. umgekehrt
gerichtete Fluktuation. Die Fluktuation unterscheidet sich
also von der Mutation neben ihrer bedeutend stärker
ausgeprägten Erblichkeit besonders dadurch, dass sie
durch mehrere für sıch konstante Zwischenstadien, d.h.
ım Laufe mehrerer Generationen zu ihrer Terminal-
form führt. Hinsichtlich dieser allmählichen Entwicklung zeigt
die Fluktuation Übereinstimmung mit den Vorgängen der Modifi-
kation. Die Modifikation führt ebenfalls zu mehreren Varianten
verschiedenen Grades der gleichen Abweichung. Auch bei ıhr ent-
stehen nie die extremen Varianten durch einen Sprung aus dem
Typus, sondern stets aus weniger abweichenden. Bei der Modifi-
katıon sind jedoch diese Zwischenstufen nur von sehr geringer
erblicher Konstanz; bei der Fluktuation zeigen sowohl die Zwischen-
stufen als auch die Termmalform die höchste experimentell erziel-
bare Erblichkeit.
Es folgt hieraus, dass die Bildung einer kontinuierlichen Reihe
gleichsinniger Varianten bei verschiedenen Varıationsformen vor-
kommt und an sich noch nicht für den Variationscharakter, also
auch für die Erblichkeit bestimmend ist (Plate unterscheidet des-
halb somatische und „mutative“ Fluktuationen). Auch der morpho-
logische Effekt einer Variation ist nıcht maßgebend für den Variations-
charakter; denn die Modifikation führt zu den gleichen morpho-
logischen Abänderungen wie die Fluktuation.
Reversionsversuche an den Fluktuanten. Es wurde schon
erwähnt, dass die einzelnen Fluktuanten selbst durch den stärksten
für die Wiedergewinnung des Typus wirksamen Reiz, nämlich durch
Tierpassagen nicht in den Typus zurückverwandelt werden konnten,
ja dass die stärker abweichenden Fluktuanten nicht einmal das
Stadium der nächsten, weniger abweichenden Form erreichten. Bei
Fluktuante I wurden 10, bei Fluktuante II 20, bei Fluktuante 111
bis jetzt 100 Tierpassagen (Maus) angewendet. Es zeigte sich aber
doch eine deutliche Zunahme der Kapselbildung und Virulenz, die
zum Teil nach einigen Agarpassagen wieder zurückging, also auf
Modifikation beruhte, zum Teil aber doch erblich war. Bei Fluk-
tuante III wurde die Frage, ob durch wiederholte Tierpassagen eine
wenn auch nur geringe, aber doch erbliche Annäherung an die
Fluktuante Il zu erzielen ıst, näher untersucht.
Dies ließ sich durch Feststellung der Zunahme von Kapsel-
bildung und Virulenz entscheiden. Die Virulenz stieg bei subl
kutaner Infektion (24stündige Bouillonkulturen) folgendermaßen:
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 319
Fluktuante III vor Tierpassagen 0,5 Maus bleibt am Leben
nach 10. Maus Q,1 Sy Fr 5;
ll... , 0:2 Maus stirbt in 3 Tagen
Blasen 0] 2 > „ 3 Tagen
Dr ls Maus bleibt am Leben
a 0) a | Maus stirbt in 2 Tagen
DOSE ON! en % „ 36 Stunden
to 0:01 Tr RR TS TEEN
200 5,7001 es 0) „>
er 0.001 ER SHE,
0.000001 en ni „ 4 Tagen.
Es war also eine erhebliche Zunahme der Virulenz durch Tier-
passagen zu erzielen. Diese Zunahme der Virulenz war von einer
gleichzeitigen Zunahme der Kapselbildung (Tierkörper) und Schleim-
bildung (bei künstlicher Kultivierung) begleitet. Doch hatte diese
letztere Fähigkeit noch nicht wieder den Grad wie bei Fluktuante II
(aus dem Typus isoliert, ohne Tierpassagen) erreicht.
Jetzt wurde versucht, ob die Zunahme der Virulenz eine erb-
liche war oder ob sie durch Züchtung außerhalb des Tierkörpers
wieder zurückging. Die Kultur wurde zu diesem Zweck alle 7 Tage
neu auf Agar übertragen und die Virulenz im Laufe der Agar-
passagen geprüft, indem von den betreffenden Agarkulturen Bouillon-
kulturen angelegt und diese nach 24stündigem Wachstum ın die
Maus verimpft wurden. Die Virulenz war folgende:
Nach SO. Maus unmittelbar 0,000001 Maus stirbt in 4 Tagen
en 2. Agarpassage 0,001 e » „ 44 Stunden
0,00001 Maus bleibt am Leben
= 58 = 0,001 Maus stirbt in 52 Stunden
0,0001 55 EN
10. ie 0,001 5: Re NE er
0,0001 Maus bleibt am Leben
ey alar r 0,01 Maus stirbt in 72 Stunden
0,001 55 wie Tagen
20: 0,01 % DA Stunden
0,001 Maus bleibt am Leben
u ” 0,01 Maus stirbt in 50 Stunden
0,001 e" 0 Tagen:
Es geht also die durch Tierpassagen erreichte. Virulenzsteige-
rung der Fluktuante III durch die künstliche Kultivierung zunächst
zurück, bleibt aber von der 15. Agarpassage ab auf einer konstanten
Höhe. Die Dosis letalıs minima ist 0,001 geworden, also ungefähr
1000mal höher als vor den Tierpassagen, jedoch nicht so hoch wie
die Virulenz der Fluktuante II, bei der 0,000001 auch nach beliebig
langer künstlicher Kultivierung meist in 48 Stunden tödlich ist.
Auch die durch die Tierpassagen erzielte Zunahme der Kapsel- und
Schleimbildung der Fluktuante III bleibt trotz der künstlichen
Kultivierung auf einem höheren Wert als vor den Tierpassagen.
Die Fluktuante III hat sich also durch Anwendung einer großen
Reihe von Tierpassagen sehr langsam und allmählich der Fluk-
320 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
tuante II genähert, und zwar ın erblicher Weise. Es ist dies eine
progressive Fluktuation, sie findet allmählich statt. Dies ist ein
weiterer Beweis dafür, dass auch die retrogressive Fluktuation stets
allmählich vor sich geht.
Bei Fortsetzung der Tierpassagen wäre also zu erwarten, dass
die Fluktuante III allmählich das Stadium der Fluktuante II, hier-
auf das Stadıum der Fluktuante I erreicht und schließlich ganz in
den Typus zurückgeht.
Wesen der Fluktuation. Vom Wesen der Fluktuation
können wir uns auf Grund der sichtbaren Veränderungen und deren
Erblichkeit folgende Vorstellung machen. Die zunächst erhaltene
Fluktuation war retrogressiv. Sie bestand darin, dass die Fähig-
keit der Kapselbildung bei den Fluktuanten in verschiedenem Grade
bis zum anscheinend völligen Verschwinden abnahm. Lediglich auf
eine Hemmung oder Inaktivierung von Anlagen kann diese Ver-
änderung nicht zurückgeführt werden. Denn wir sahen, dass bei
der Modifikation ein erheblicher Grad von Hemmung und bei der
Mutation sogar eine völlige Inaktivierung von Anlagen jederzeit
durch gewisse Bedingungen rückgängig wird und in die normale
Funktion wıeder übergeht.
Es könnte sich um eine dauernde Lähmung der betreffenden
Anlagen im Sinne einer Schädigung oder „Degeneration“ handeln.
Es müssten dann bei den drei Fluktuanten je nach dem Grade
der Abänderung drei Grade der Degeneration vorliegen, von denen
sich jede ganz in der gleichen Ausdehnung der Degeneration weiter
vererbt. Dies ist aber sehr unwahrscheinlich. Denn man kann
kaum annehmen, dass die Degeneration einer Anlage, wenn sie ein-
mal so hochgradig geworden ist, dass die Anlage trotz bester Be-
dingungen für ıhre Entfaltung kein Anlageprodukt mehr bildet,
genau in diesem Grade der Schädigung bei der Proliferation er-
halten bleibt und weiter vererbt wird. Diese konstante Vererbung
der drei Fluktuanten, auf Grund deren keine Fluktuante in die
andere übergeht, spricht gegen eine Veränderung der Anlagen
im Sinne einer bloßen Schädigung oder „Degeneration“. Denn
Degenerationen aus äußeren Gründen gehen unter Wiederherstellung
günstiger Bedingungen zurück, Degenerationen aus inneren Gründen
haben eine Neigung zur Verstärkung. Ich nehme infolgedessen ın
Konsequenz mit der Deutung der Modifikation und Mutation an,
dass der gleiche variierende Reiz, der bei gelindester Einwirkung
eine Hemmung von Erbeinheiten und bei stärkerer eine Inaktı-
vierung veranlasst, bei stärkster Einwirkung zu einer völligen Zer-
störung der Anlagen, also zu einer Ausschaltung dieser Anlagen
aus der Vererbungssubstanz führt. Theoretisch können wir uns
vorstellen, dass diese Anlagen bei der Proliferation so stark ge-
schädigt werden, dass sie sich am Wachstumsvorgang des Idio-
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 39
o- Im
plasmas nicht beteiligen können und so aus dem Gefüge der Ver-
erbungssubstanz verschwinden. Wir nehmen also zur Erklärung
des erblichen Verlustes einer sichtbaren Eigenschaft bei
der Fluktuation einen wirklichen Verlust der betreffen-
den Erbeinheiten an.
Dadurch wird es unwahrscheinlich, dass die Fähigkeit der Kapsel-
bildung auf einer einzigen Erbeinheit beruht. Denn es ist nicht
vorstellbar, dass eine einzige Erbeinheit zu einem verschiedenen
Teile verloren geht. Man müsste diese Erbeinheit dann wieder in
einzelne, unabhängig voneinander funktionsfähige Faktoren teilen.
Wenn wir aber bei der Vorstellung der Erbeinheit als des kleinsten
für eine Eigenschaft maßgebenden Teilchens der Erbsubstanz fest-
halten, müssen wir in unserem Falle annehmen, dass die in ver-
schiedenem Grade zu Verlust gehende sichtbare Eigenschaft auf
mehreren Erbeinheiten beruht. Die völlige Ausbildung der normal
entwickelten Kapsel beruht also auf dem Zusammenwirken mehrerer
gleichsinniger Faktoren. Die Kapselbildung ist ein polygenes Merk-
mal, ein „biologisches Radiıkal“.
Die verschiedenen für sich erblich konstanten Stadien der retro-
gressiven Fluktuation beruhen also darauf, dass je nach dem Grade
der Abweichung eine oder mehrere der gleichsinnigen Erbeinheiten
verloren gehen. Nur durch diese Annahme lässt sich m. E. die
erbliche Konstanz der verschiedenen Stadien begreifen. Besonders
klar wird dies durch das Verhalten der einzelnen Fluktuanten bei
weiteren Varjabilitätsversuchen und durch den Gegensatz der Fluk-
tuation zu den anderen Formen der Variabilität, besonders der Mu-
tatıon. Hierbei werden die gleichsinnigen Erbeinheiten in ihrer
Gesamtheit gleichzeitig verändert. Das biologische Radikal wird im
vollen Umfange latent bezw. aktiv. Dadurch erklärt sich der große
Unterschied, der „Sprung“, welcher vom normalen Typus zur Mu-
tante führt, gegenüber den schrittweisen Veränderungen, welche
die Fluktuation bewirkt.
Der Entstehungsmechanismus der Fluktuation wäre also
folgendermaßen zu denken: Wächst eine Generationsreihe des nor-
malen Typus unter dem schon sehr gesteigerten Einfluss der Stoff-
wechselprodukte weiter, so geht zunächst eine gewisse geringe An-
zahl von Erbeinheiten zu Verlust. Dabei entsteht die Fluktuante I,
welche für sich konstant bleibt, wenn sie in diesem Zustand isoliert
und in Reinkultur, also nicht unter dem Einfluss der Stoffwechsel-
produkte des Typus, fortgezüchtet wird. Geht aber ihr Wachstum
in der alten vom Typus angelegten Kultur noch weiter, so werden
durch Fortdauer und ech sogar Verstärkung des Variations-
reizes noch weitere Erbeinheiten zu Verlust gebracht, wodurch die
Fluktuante II entsteht. Diese ist, wenn sie jetzt isoliert wird,
ebenfalls in dem erreichten Stadium konstant. Gelangt sie jedoch
XXXV. 21
322 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
in der alten Kultur zur weiteren Proliferation, so entsteht durch
einen weiteren Verlust von Erbeinheiten die Fluktuante Ill. Diese
ist die Terminalform der Fluktuation.
Wenn wir die retrogressive Fluktuation auf einen Verlust von
Erbeinheiten zurückführen, so müssen wir annehmen, dass bei der
Reversion der Fluktuanten, auch wenn sie nur zu einer Annäherung
der extremen Fluktuante an die Fluktuante Il durchgeführt wurde,
die vordem zu Verlust gegangenen Erbeinheiten teilweise und all-
mählich wiedergewonnen werden. Denn diese progressive Verände-
rung war ebenso erblich wie retrogressive Fluktuation. Die pro-
gressive Fluktuation bringt also den Gewinn neuer, vererbbarer
Eigenschaften mit sich und ist experimentell zu beobachten.
Diese Annahme erscheint auf Grund dessen, was wir über die
Vererbung erworbener Eigenschaften vorausgesetzt haben, als mög-
lich. Die Erwerbung einer neuen Eigenschaft hat als Ursache eine
innere Fähigkeit des Idioplasmas. Diese Fähigkeit ist in unserem
Falle gegeben; denn sonst könnte sich ja das Schleimbildungs-
vermögen nicht beim Typus finden. Der progressiv wirkende Reiz
ıst durch den Aufenthalt ım Tierkörper gegeben. Er führt dazu,
dass das Idioplasma auf Grund seiner derzeitigen Struktur die neue
Erbeinheit bildet, ebenso wie er dıe Reaktion der schon entwickelten
Erbeinheit veranlasst. Denn es ist anzurehmen, dass „die ein-
zelnen Organe (hier das Vıskoplasma) durch Reize, auf welche sie
zu reagieren eingerichtet sind, auch in das Leben gerufen werden“
(OÖ. Hertwig, 5). Ist man also imstande, den für die Entstehung
bestimmter Anlagen adäquaten Reiz lange genug einwirken zu
lassen, so kann man bei gegebener Fähigkeit des Idioplasmas diese
Anlagen zu bilden, eine progressive Fluktuation, d. h. eine Er-
werbung vererbbarer Eigenschaften erzielen. Unseren Befunden
nach zu schließen geht dies allerdings äußerst langsam vor sich,
selbst wenn es sich um die Bildung von Erbeinheiten handelt,
welche schon einmal vorhanden waren.
Obwohl die retrogressive Fluktuation die anderen Variationen
an Erblichkeit weit übertraf und obwohl die extreme Fluktuante
durch lange Einwirkung des progressiven Reizes nicht in den Typus
zurückverwandelt werden konnte, war die Fluktuation doch nicht
absolut erblich. Dies ist aber von keiner Variationsform, auch nicht
von der artbildenden, zu verlangen: denn eine absolute Beständig-
keit des Artbildes existiert bei keiner Art. Infolgedessen spricht
nichts gegen die Annahme, dass die Fluktuation als artbildende
Varıationsform ın Betracht kommt.
Die Benennung „Fluktuation“ rechtfertigt sich zum Teil durch
Anschauungen und Beobachtungen, welche schon von Darwin her-
rühren, zum Teil durch Ergebnisse der modernen Erblichkeits-
forschung. Fluktuierende Variabilität wird jetzt gewöhnlich jede
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 32:
Variabilität genannt, welche zwischen normalem Typus und extremer
Variante kontinuierliche Reihen von Übergängen, Zwischenformen
bildet. Man versteht darunter im allgemeinen die Erscheinung,
dass die Individuen einer reinen Linie in der gleichen Generation
sich nie ganz gleich sind, sondern in ihren Eigenschaften um einen
bestimmten Mittelwert schwanken. Hierher gehören die schon er-
wähnten Plus- und Minusvarianten. Diese fluktuierende Variabilität
ist jedoch nicht erblich. Es gelingt nicht durch Selektion von Plus-
und Minusvarianten eine erblich veränderte Rasse zu gewinnen
(Johannsen). Ich möchte deshalb diese Form der Variabilität ın
Anknüpfung an de Vries „individuelle Variabilität“ nennen und
die Bezeichnung Fluktuation für die oben beschriebene Varıations-
form anwenden, welche ebenfalls ın kontinuierlichen Reıhen statt-
findet, aber erblich ist. Den Begriff des Erblichen hat schon Dar-
wın mit der Fluktuation verbunden. Es erscheint mir auf Grund
meiner Resultate als begründet, den von Dar wın geschaffenen Be-
griff der Fluktuation wieder zur Geltung zu bringen, und zwar in
seiner ursprünglichen Bedeutung.
Als charakteristische Merkmale der Fluktuation wurden dem-
nach experimentell festgestellt: der außerordentlich hohe Grad von
Erblichkeit (Reversion nur durch sehr lange fortgesetzte Einwirkung
des progressiv wirkenden Reizes möglich) und die allmähliche Ent-
wicklung der Terminalform unter Bildung einer kontinuierlichen
Reihe erblicher Zwischenstufen.
Uber die Beziehungen der einzelnen Variationsformen
zueinander.
Die Beständigkeit der verschiedenen erblichen Varianten wird
besonders deutlich, wenn man sie weiterhin auf Variabilität prüft.
Der Reiz, welcher zur Entstehung der Varianten führt, erleidet,
sobald die Varianten einmal in Reinkultur gewonnen sind und auf
die gleiche Weise wie der normale Typus fortgezüchtet werden,
eine Veränderung seiner Intensität: denn die Varianten haben sämt-
lich einen gegen den normalen Typus reduzierten Stoffwechsel, was
sich durch die Abnahme der Schleimbildung bemerkbar macht.
Dadurch verliert der Reiz für eine weitergehende Veränderung der
Varianten an Intensität. Unter diesem Gesichtspunkt wird das
Verhalten der isolierten Varianten gegenüber Variabilitätsversuchen
verständlich.
Die modifizierte Form wächst viel weniger üppig als der Typus.
Weitaus die Mehrzahl der Individuen bildet keine Kapsel mehr.
Aus ıhr lassen sich keine Mutanten oder Fluktuanten gewinnen;
auch bei beliebig langem Stehenlassen der Kulturen werden immer
nur wieder modifizierte Kolonien erhalten. Die Gewinnung von
Mutanten und Fluktuanten ist erst dann wieder ınöglich, wenn
2
394 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
durch Plattenguss oder Tierpassagen der normale Typus wieder
gewonnen wird. So erklärt sich die auch von anderen Autoren,
besonders Baerthlein, beobachtete Tatsache, dass die pathogenen
Bakterien gerade in den kurz den Tierpassagen folgenden Kulturen
besonders leicht mutieren.
Die Fluktuanten I, II und III zeigen in gleicher Reihenfolge
eine zunehmende Reduktion des Stoffwechsels und der Schleim-
bildung. Sie sind, wie schon erwähnt, nicht mehr imstande, durch
Anhäufung ihrer Stoffwechselprodukte auf gleiche Weise wie der
Typus Fluktuanten abzuspalten. Für die Entstehung von Mutanten
genügen dagegen die von Fluktuanten I und II gebildeten Stoff-
wechselprodukte. Die Fluktuanten I und Il sind imstande, unter
den gleichen Kulturbedingungen wie der normale Typus Mutanten
zu bilden, die sich’morphologisch nicht von der Mutante des nor-
malen Typus unterscheiden. Fluktuante III dagegen bildet keine
Mutanten mehr. Erst wenn sie sich durch 80 Tierpassagen der
Fluktuante II genähert und das Vermögen der Schleimbildung ın
gewissem Grade wiedergewonnen hat, ist sie zur Bildung von Mu-
tanten befähigt. Die Mutanten der Fluktuanten zeigen die gleichen
Eigenschaften hinsichtlich der Vererbung und des Rückschlags wie
die Mutanten des normalen Typus. Beim Rückschlag entstehen
wieder die entsprechenden Fluktuanten, ein weiterer Beweis für
die erbliche Konstanz der einzelnen Fluktuanten. Zur Modifikation,
welche durch die geringste Einwirkung der Stoffwechselprodukte
herbeigeführt wird, sind sämtliche drei Fluktuanten befähigt. Die
Modifikation zeigt sich darın, dass jede Fluktuante bei fortgesetzter
künstlicher Kultivierung (Schrägagar) allmählich immer schmalere
Kapseln bildet bıs zu einem für jede Fluktuante bestimmten Minimal-
wert. Bei Fluktuante III ıst dann gar keine Schleimhülle mehr
vorhanden, nur breites Ektoplasma. Durch Tierpassagen wird sofort
der für jede Fluktuante charakteristische Maximalwert der Kapsel-
bildung wıeder erreicht, ebenso wie bei der modifizierten Form
des Typus. |
Die stärkste Reduktion des Stoffwechsels weist die Mutante
auf. Bei ıhr ist also der für eine weitere Variation ın Betracht
kommende Reiz am geringsten, und so wird es verständlich, dass
die Mutante keine weiteren Variationsformen abspaltet, ja dass sıe
in alten Kulturen spontan ın den Typus zurückschlägt. Nur zur
Modifikation ist die Mutante befähigt. Das Ektoplasma nımmt bei
sehr langer Kultivierung auf dem Schrägagar bis zum fast völligen
Verschwinden ab und umgekehrt durch Tierpassagen (bevor der
Rückschlag eintritt) zum ursprünglichen Wert wieder zu
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 325
Die arterhaltende Bedeutung („Zweckmäßigkeit“) der
Variationen.
Sowohl die progressiven als die retrogressiven Variationen er-
weisen sich als nützlich für die Erhaltung der Art.
Die progressiven Variationen führten dazu, dass die schleim-
hüllenlosen Varianten beim Aufenthalt im Tierkörper ihre Schleim-
hüllen wieder bildeten. Durch die Schleimhüllen sind die Bazillen
gegen die bakteriziden Kräfte des Tierkörpers geschützt; denn die
Varianten, welche keine Schleimhüllen besitzen, gehen im Tierkörper
zugrunde, wenn nicht, wie bei den Reversionsversuchen, enorme
Mengen zur Infektion benützt werden. Wir müssen auch annehmen,
dass die Eigenschaft, beim Aufenthalt im Tierkörper sehr rasch die
Schleimhülle zu bilden, phylogenetisch durch Anpassung an die
bakteriziden Substanzen des Tierkörpers entstanden ist (vermutlich
zunächst durch Anpassung an den toten Tierkörper, der geringere
bakterizide Eigenschaften hat). Die Bildung der Schleimhüllen beim
Aufenthalt im Tierkörper erscheint demnach als „zweckmäßig“ und
manche Autoren haben sich zu der Annahme verleiten lassen, dass
die Schleimhüllen aus Gründen der Zweckmäßigkeit von den Ba-
zillen gebildet würden, um sich gegen die bakteriziden Substanzen
zu schützen.
Auch die retrogressiven Variationen erscheinen „zweckmäßig“.
Denn sie treten durch die Bedingungen der künstlichen Kultivierung
ein und zwar durch die Anhäufung der Stoffwechselprodukte. Sie
führen zu einer Reduktion des Stoffwechsels und bewirken, dass
die retrogressiven Varianten unter den gleichen Bedingungen der
künstlichen Kultivierung länger lebensfähig sind als der Typus.
Trotzdem darf als Ursache der Variationen nicht die Zweck-
mäßigkeit angenommen werden. Zweckmäßigkeit als Ursache, als
„energetisches Prinzip“ eines Vorgangs ist nur denkbar, wenn der
Vorgang in seinem Ablauf beeinflusst wird durch eine von dem
materiellen Substrat des Vorgangs unabhängige, also exogene Kraft.
Für eine derartige „zweckmäßige“ Beeinflussung ist es charakte-
ristisch, dass der Vorgang auf Grund einer Erfahrung zu einem
gewollten Ende geführt wird. Dies setzt das Wirken eines erinne-
rungsfähigen und zielbewussten Wesens voraus, welches außerhalb
der Materie des Vorgangs steht.
Die Ursache der Variationen dagegen ist eine endogene, wie
schon bei der Frage nach der Erwerbung erblicher Eigenschaften
erwähnt: nämlich das Idioplasma mit der ihm innewohnenden Fähig-
keit, auf äußere und innere Reize zu reagieren und diese Reaktionen
unter Umständen erblich zu fixieren. Will man aber dennoch die
Zweckmäßigkeit mit der Erklärung des Variationsvorgangs ver-
binden, so kann man mit einer gewissen Willkür Variationen dann
zweckmäßig nennen, wenn sie arterhaltende Wirkung haben. Dann
396 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
ist jedoch „Zweckmäßigkeit* kein absolut vorhandener Faktor,
sondern ein vom Beobachter dem Vorgang untergeschobener sub-
jektiver Begriff. Diese Zweckmäßigkeit zeigt sich darin, dass der
Folgezustand einer Variation gegenüber dem veranlassenden Reiz
für das Leben der Art irgendwie förderlich ist. Hieraus ergibt
sich, dass die „Zweckmäßigkeit“ einer Variation ein Begriff ıst, der
erst von dem Augenblick an existieren und mit dem Variations-
vorgang verbunden werden kann, ın dem der Folgezustand der
Variation fertig ausgebildet und zu den umgebenden Reizen in Be-
ziehung getreten ist. Wie soll also die Zweckmäßigkeit imstande
sein, die vorausgehenden Phasen des Vorgangs zu beeinflussen und
als Ursache auf den Verlauf des Vorgangs einzuwirken, bevor sie
selber vorhanden ıst!? Bei Variationen ist also die Zweckmäßig-
keit erst der Folgezustand, eine Begleiterscheinung des Vorgangs,
aber keinesfalls dessen Ursache.
Weit mehr als die bloße Logik zwingt uns die Berücksichtigung
der Tatsachen zu der Erkenntnis, dass die Zweckm